Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel

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J.J. wird mulmig, als sie hört, dass sie einen Hut aufhat, der höchstwahrscheinlich mehr wert ist als ein neues Auto. Behutsam nimmt sie ihn ab und betrachtet die Libelle.

»Sie sieht so echt aus!«, denkt sie, während sie über den türkisfarbenen Körper streicht. Als sie den Hut zurücklegen will, zieht sie ruckartig die Hand zurück und betrachtet ihren Zeigefinger. Aus einer winzigen Öffnung drängt ein Tropfen Blut, den sie nachdenklich anstarrt.

Oma Vettel eilt herbei und seufzt besorgt.

»Du hast dich an der Hutnadel gestochen. Das ist nicht schlimm. Wenn du heiratest, ist das wieder verheilt«, sagt sie aufmunternd, während J.J. enttäuscht ist.

»So eine große Hexe schein ich noch nicht zu sein! Mein Blut ist noch hellrot«, flüstert sie versonnen.

Ihre Großmutter legt den Finger sanft in ihre Handfläche.

»Und das ist auch gut so! Erst wenn du dich endgültig für die Seite des dunklen Phads entschieden hast, werden sich die Schatten in deinen Adern manifestieren und dein Blut wird schwarz und dick wie Rohöl. Wenn du dich gegen die dunkle Magie entscheidest, wird es so schön wie Himbeersaft bleiben.«

J.J. ist beruhig. Die Vorstellung, dass bald eine schwarze, zähe Flüssigkeit durch ihren Körper strömen könnte, ekelt sie an. Sie fläzt in einem mondänen Sessel und seufzt, da die vielen Informationen sie nicht zur Ruhe kommen lassen.

»Gab es auch Hexen, welche die Seite wechselten? Ich meine, die von böse Hexe auf gute Fee umgeschult haben?«

Eigentlich war es nur ein flüchtiger Gedanke, doch J.J. bemerkt, dass sich das Gesicht ihrer Großmutter abrupt verdunkelt, während sie nervös die Hände knetet.

»Natürlich gab es die. Einige versuchten es, aber nur die Wenigsten haben es geschafft. Das ist gar nicht so einfach, weißt du. Leider reicht in diesem Fall ein Gesinnungswechsel nicht aus. Wenn sich nämlich eine böse Hexe entschließt, auf den weisen Phad zu wechseln, muss sie durch den Traubenperlensee schwimmen, um die dunklen Schatten abzulegen. Dieser See trennt die beiden Phade und verbindet sie gleichzeitig. Das Wasser ist pechschwarz, unendlich und voll Tücke. Fürchterliche Kreaturen hausen in den Tiefen, während Geschwader von leuchtenden Quallen auf der Oberfläche ihr Unwesen treiben, die dir bei der leichtesten Berührung unerträgliche Schmerzen zufügen.

Natürlich gibt es eine Fähre, aber die Überfahrt kann sich niemand leisten. Sander, der Fährmann, ist ein Sirenendämon und eines der gewissenslosesten Geschöpfe, die ich kenne. Das Gesicht elfengleich, verwickelt er dich mit inspirierender Stimme in ein Gespräch, und ehe du dich versiehst, vertraust du ihm all deine schönsten und schlimmsten Träume an. Dann beginnt er zu verhandeln und das, was er verlangt, wird deine grausamsten Vorstellungen übertreffen. Das bemerkst du jedoch erst, wenn es zu spät ist. Also bleibt dir letzten Endes nur das Schwimmen, doch der Weg zum anderen Ufer zieht sich endlos. Aber das ist so bestimmt, da der Traubenperlensee die schwarzen Schatten aus deinem Blut aufnehmen muss, um es von dunkler Magie zu reinigen. Das geht übrigens auch umgekehrt. Aber meines Wissens wollte noch nie eine weise Hexe auf den dunklen Phad wechseln.«

Der Gedanke, durch einen schwarzen See zu schwimmen, in dem sich eklige Schlingpflanzen um ihre Beine räkeln, lässt J.J. erschaudern. Oma Vettel wird zunehmend ruhiger. J.J. hat sogar den Eindruck, dass sie gegen Tränen kämpft.

Um die Stimmung nicht weiter zu drücken, lenkt sie vom Traubenperlensee ab.

»Die Rede ist immer nur von bösen Hexen. Gibt es keine bösen Zauberer?«, fragt sie spontan. Oma Vettel kichert und setzt ein linkisches Lächeln auf.

»Nein! Es gibt keine Hexer oder mächtige Zauberer im dunklen Phad! Natürlich gibt es in Xestha auch männliche Einwohner, sonst wären die Damen sicherlich ganz schön frustriert. Aber das magische Blut wird nicht an unsere Söhne weitervererbt. Unsere männlichen Nachkommen können so viele Zaubersprüche lernen, wie sie wollen, ausführen können sie diese jedoch nicht. Sobald ein Mann nämlich einen dunklen Vers ausspricht, ist er dem Tode geweiht. Er würde innerhalb einer Stunde zu Stein, und zwar unwiderruflich!«

Oma Vettel starrt verträumt in die Ferne, während sich ab und an ihre Mundwinkel heben. J.J. ist von dieser Neuigkeit völlig fasziniert.

»Es gibt keine männlichen Zauberer? Wow! Da sind Grundsatzdiskussionen über die Macht der weiblichen Emanzipation in Xestha wahrscheinlich Tabu!«

Sichtlich interessiert fragt sie noch einmal genauer nach.

»Wenn es überhaupt keine Zauberer gibt, was war dann mit Vaun?«

Oma Vettel steht auf und schleicht gemächlich durch den Raum.

»Das hast du falsch verstanden. Es gibt natürlich Männer mit Magie, aber nicht im dunklen Phad! In Rosaryon ist das anders. Die Söhne der weisen Hexen haben magisches Blut. Früher, bevor das Reich von Vaun geteilt wurde, war das überhaupt kein Thema. Ich denke, dass so etwas wie Evolution stattgefunden hat. Da die bösen Hexen von je her über eine dominante Ader verfügten, hat das männliche Erbgut im Laufe der Zeit wahrscheinlich einfach kapituliert. Aber Spaß beiseite. In Rosaryon kann jedes Kind, egal ob Tochter oder Sohn, seine magischen Aufgaben erfüllen, da sie von Geburt an dieselbe Kraft besitzen. Allerdings können sie selbst entscheiden, ob sie ein Leben für die Magie leben möchten oder nicht. Im Gegensatz zu uns arbeiten sie nicht mit Flüchen, sondern mit reiner Energie. Das unterscheidet die weisen Wesen grundlegend von unseren Gesetzen. Wir Xesthaner haben diese Wahl nicht. Unsere Töchter müssen als dunkle Hexen dienen, sobald der Hexenrat sie einberuft. Aber das ist für die meisten nichts Unangenehmes, sondern eine Ehre. Die meisten Junghexen fiebern der Erhebung ihres Gedankensteins von Geburt an entgegen.

Die Rosaryer arbeiten mehr mit Energie. Vielleicht erschüttert es dich, aber ich habe großen Respekt vor ihrem Tun. Ganz im Gegensatz zu diesen Scharlatanen in der realen Welt! Ich meine diese Männer, die behaupten, als große Zauberer berufen zu sein. Die wenigen Männer, die tatsächlich magische Kunststücke beherrschen, wurden von dunklen Hexen für ihre Machenschaften manipuliert, ohne es zu wissen. Wenn eine böse Hexe einen menschlichen Mann an sich binden möchte, zu welchem Zweck auch immer, tut sie das über Magie. Emotionen spielen bei den Xesthanern keine Rolle. Sobald er seine Aufgabe erfüllt hat, nehmen sie die dunklen Schatten aus seinem Blut und er wird zu Stein.«

J.J. erschreckt dieser Gedanke. Nervös läuft sie im Kreis.

»Okay, das hört sich nicht besonders nett an, erklärt jedoch so manche, überdimensionale Statue unbekannter Herkunft.«

»Du sagtest, dass ich durch meine Geburt als schwarze Prinzessin die Wahl hätte, wofür ich meine Magie einsetze. Nach deinen Erzählungen weiß ich nun, dass dies wirklich ein Privileg ist. Aber was ist, wenn ich mich für ein Leben in der realen Welt entscheide? Was passiert dann mit mir?«

Oma Vettel starrt ihre Enkelin besorgt an. Bis jetzt konnte sie ihr noch alle Fragen über Fakten und Legenden erklären. Aber nun kommen sie allmählich zu Themen, auf die es selbst in Xestha keine Antworten gibt.

»Das weiß ich nicht, Jezabel. Es gibt selten Hexen, die Darania nicht folgen wollen. Die verführerische Vorstellung von Macht ist meist stärker als der Verstand oder die Vernunft! Unterschätze die Kraft der Manipulation nicht. Dunkle Hexen, die sich unter Menschen mischen, sind allesamt Gesandte des Hexenrats.«

J.J. ist mit der Antwort nicht zufrieden, hält sich aber zurück, da sie bemerkt, dass ihre Großmutter immer gereizter wird.

»Vielleicht will ich manche Antworten gar nicht hören. Immerhin lebt Großmutter auch in der realen Welt.«

Die beugt sich nun zu ihrer Enkelin und fährt leise fort.

»Darania würde niemals zulassen, dass sie eine der ihren an Marla verliert. Die wenigen Hexen, die es durch den Traubenperlensee schafften, haben sie nur angespornt, noch grausamer zu werden. So ist das eben im Zauberreich. Manche Dinge sind einfach erklärt, andere wiederum höchst kompliziert. Dein Status ist allerdings wirklich einzigartig. Deshalb sollten wir besonnen bleiben.«

J.J. hat genug gehört.

»Was sind das für Leute, die uns heute Abend besuchen?«, fragt sie leicht schnippisch, um zu verdeutlichen, dass ihr das Gefasel über die Zauberermoral reicht.

Ihre Großmutter steht auf und läuft eilig durch die scheinbar endlosen Reihen ihres Ankleidezimmers. Dabei wird J.J. das Gefühl nicht los, dass sie währenddessen nach einer diplomatischen Antwort sucht. Sie beobachtet missmutig, wie die alte Dame ausgiebig ein paar Kleidungsstücke inspiziert und dabei sehr beschäftigt wirken möchte.

J.J. räuspert sich provozierend, worauf Oma Vettel künstlich lächelt.

»Ach, das sind bloß ein paar alte Freunde aus Xestha und vielleicht ein oder zwei Hexenratmitglieder. Das geht schon in Ordnung, da sie ja wissen, dass du wieder hier bist. Tja, und nun wollen sie dich auch kennenlernen. Ich wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen und Daranias Gefolge außen vor gelassen. Wir müssen taktisch vorgehen, Jezabel!«

J.J. zieht ungläubig die Augenbrauen nach oben und hebt fragend die Hände.

»Der Hexenrat? Wie soll ich mich denn da verhalten? Immerhin hast du mich jahrelang vor ihm versteckt.«

Oma Vettel ahnt, dass eine unangenehme Diskussion auf sie zukommt, und verzieht sich in den hinteren Teil des Zimmers. Aus sicherer Distanz starrt sie zu J.J., die mit ernster Miene auf eine Antwort wartet und weiterblafft.

»Muss ich irgendetwas beachten? Ich werde nämlich nicht schlau aus der Geschichte. Sollte ich heute Abend lieber den Mund halten? Ach, weißt du was, ich stelle lieber keine Fragen mehr. Ich komme langsam nicht mehr mit!«

 

Sie lässt die Arme sinken und seufzt.

Oma Vettel stemmt die Hände in die Hüften.

»Das ist mein Haus! Diese Hexen sind nur Gäste, also werden sie sich gefälligst anständig zu benehmen haben. Du wirst sie nur freundlich begrüßen und den restlichen Abend amüsieren! Sonst gibt es für dich keine Regeln!«

Sie zwinkert ihrer Enkelin zu und hofft, das Thema damit abgeschlossen zu haben. Außerdem dauert es nur noch wenige Stunden, bis die ersten Gäste eintreffen und bis dahin muss noch so einiges erledigt werden.

Deshalb bittet Vettel J.J. höflich, sich für die Party umziehen zu dürfen.

»Wir sollten uns frisch machen, Liebes! Unsere Gäste kommen in weniger als drei Stunden«, erklärt sie flüchtig, während sie durch die Reihen mit schrägen Hosenanzügen spaziert.

J.J. verabschiedet sich und trabt schlechtgelaunt in ihr Zimmer, als Vettel ihr noch einmal hinterherruft.

»Bevor ich es vergesse. Am Morgen nach der Party fahren wir hinunter ins Dorf. Es finden doch die Weihnachtsparaden statt und ich habe für die Kinder ein paar Kleinigkeiten besorgt. Außerdem hast du recht. Du musst auch mal unter normale Menschen!«

Nun reißt J.J. vor Überraschung die Augen auf.

»Das sind gute Neuigkeiten! Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal im Dorf war. Ein paar Erinnerungen habe ich mir zwar zurückerobert, aber in denen war ich höchstens vier oder fünf Jahre alt.«

Die Aussicht, ein paar normale Menschen kennenzulernen, versetzt sie augenblicklich in gute Laune. Auch wenn der Gedanke, diese Weihnachtsfeiertage nicht bei ihrer geliebten Pippa verbringen zu können, sie wehmütig macht.

»Das ist toll, Großmutter! Gehen wir auch zum Strand?«, fragt sie aufgeregt.

Die alte Dame ist froh, dass das Mädchen sich wieder etwas entspannt, und nickt ihr fröhlich zu.

J.J. kommt noch einmal zurück geschlichen.

»Es tut mir leid, dass du so viele Menschen gehen lassen musstest. Ich versuche, irgendwie, hierzubleiben. Natürlich nur in den Ferien! Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich deine Hoffnungen in Bezug auf die Hexerei erfüllen werde. Ich bin immer noch J.J. Diese Geschichten aus dem Zauberreich verwirren mich mehr, als dass sie mir Dinge erklären. Ich hoffe, dass du mir meine Launen deshalb nicht so verübelst.«

Vettel streicht ihr sanft über die Wangen und zieht im nächsten Moment ihre Nase theatralisch nach oben. Dann lächelt sie verschmitzt und schreitet andächtig auf einen Kleiderständer zu, der sich unter der Last viel zu vieler Kleidungsstücke bereits verbiegt. Seltsam kichernd nimmt sie einen knalligen Hosenanzug heraus und hält ihn breit grinsend in die Höhe. J.J. reißt die Augen auf und schluckt.

»So etwas Schräges habe ich noch nie gesehen. Dieses Mal weiß ich nicht, was schlimmer ist. Die grellen Farben, das verwirrende Muster oder der unvorteilhafte Schnitt.«

»Entschuldige, Großmutter. Aber der sieht aus, als hättest du dafür einen Papagei getötet! Ist der nicht etwas zu laut für ein Dinner?«, fragt sie diplomatisch.

Vettel schnaubt und drückt den Anzug fest an ihre Brust. Von der Reaktion ihrer Enkelin entsetzt, ringt sie nach Luft, als müsse sie gleich in Ohnmacht fallen.

»Meine liebe Jezabel. Ich denke, in Sachen Mode distanzieren sich unsere Ansichten sehr! Ich musste über zwei Jahre auf dieses wundervolle Prachtexemplar warten. Dieser Schnitt ist der letzte Schrei in Xestha. Ich bin sicher, dass die alte Furiase vor Neid grün und blau wird, wenn sie ihn sieht! Du gehst jetzt lieber in deine Ankleidekammer und suchst dir selbst ein schönes Abendkleid aus. Gegen sieben Uhr treffen wir uns im Esssalon!«

J.J., deren Blick sich nicht von dem bizarren Kleidungsstück lösen kann, nickt und geht hinüber in ihr Zimmer. Auch dort kann sie noch das entsetzte Schnauben ihrer Großmutter hören, die einen aufmunternden Dialog mit ihrem Hosenanzug hält. Aber J.J. hat sich längst an die kauzige Art der alten Hexe gewöhnt und weiß, dass sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen machen braucht.

Nach einer ausgiebigen Dusche betrachtet sie sich eine Zeit lang im Spiegel.

»Wie eine schwarze Prinzessin sehe ich eigentlich nicht aus«, denkt sie versonnen und bindet ihr blondes Haar zu einem schlichten Pferdeschwanz.

Daraufhin geht sie in ihr Ankleidezimmer und sieht sich verzweifelt um.

»Wie soll ich mich bei dieser Auswahl entscheiden? Ich brauche zwei Wochen, um mir jedes Kleidungsstück anzusehen.«

Sie schlendert durch die endlosen Reihen und überlegt, was sie auf der Party tragen soll. Sie nimmt ein langes, rotes Kleid und stellt sich vor den Spiegel.

»Der Schnitt ist schlicht, aber der Stoff fühlt sich teuer an.«

Als sie sich die edle Robe vor den Körper hält, ist sie hin und weg.

»Wie für mich gemacht! Aber ein wenig zu auffällig. Henry McMuffel plant ein Karibikdinner, da sollte ich lieber etwas Luftigeres wählen«, sagt sie entschlossen und hängt das Kleid seufzend zurück.

Eine Weile irrt sie durch das Zimmer und bleibt schließlich vor dem Schneidertisch stehen, über dem ziemlich ausgefallene Accessoires hängen. Spangen, Ketten, Blüten, Knöpfe und Tiere, so wie die Libelle an Oma Vettels Hut. Kurz entschlossen nimmt sie eine wunderschöne Hibiskusblüte, die ihre Handfläche fast vollständig ausfüllt.

»Die Blüte fühlt sich echt an«, denkt sie verblüfft und legt sie behutsam auf den Schneidertisch.

Anschließend holt sie ein langes, cremefarbenes Etuikleid herbei, das sie sich zuvor schon etwas länger angesehen hatte. Es ist schlicht geschnitten und aus einem festen Stoff, der sehr elegant wirkt. Ein paar Minuten betrachtet sie es konzentriert und schnappt sich dann ein Maßband. Sie misst die Länge von ihren Schultern bis zu ihren Knien und überträgt dieses Maß auf das Kleid. Daraufhin schneidet sie den unteren Teil einfach ab. Als sie den Saum sauber umgenäht hat, probiert sie es gleich an.

»Klasse!«, sagt sie zufrieden und dreht sich fröhlich im Kreis.

Sie holt die Hibiskusblüte und legt sie sacht auf den linken Träger. Was nun passiert, verschlägt dem sonst so vorlauten Mädchen die Sprache. Die Blüte schmiegt sich an und verbindet sich unsichtbar mit dem Kleid.

»Das ist ja total abgefahren«, quietscht sie vor Begeisterung, als die Blüte sich öffnet und kurz darauf wieder verschließt. Die Schönheit dieses magischen Moments raubt ihr den Atem.

»Jetzt verstehe ich, was Oma Vettel meinte. In diesem Haus funktioniert alles von allein. Alles ist so, wie es sein soll. So, jetzt muss ich mir noch schnell eine Frisur zaubern!«

Ausgelassen spurtet sie ins Badezimmer und flechtet einen festen Zopf, an dem sie die Haarspange mit der goldenen Spiralmuschel fixiert. Anschließend legt sie noch etwas Lipgloss auf und betrachtet sich zufrieden im Spiegel.

»Einfach nur schön. Ich sollte ein Foto machen, damit ich es Zoé zeigen kann.«

J.J. rennt zu ihrem Schreibtisch und sucht nach ihrem Handy. Dass sie immer noch keinen Empfang hat, nervt sie richtig. Doch davon will sie sich den heutigen Abend nicht verderben lassen. Sie klemmt das Handy zwischen die Türklinke und drückt auf den Selbstauslöser der integrierten Kamera.

Kapitel 8
Eine sehr lange, sehr seltsame Party

Es ist 18:55 Uhr, als J.J. auf Zehenspitzen zur Treppe schleicht und horcht. Aus der unteren Etage hört sie leichtes Gemurmel und das Klimpern von Geschirr und Gläsern. Sie atmet tief durch und geht hinab. Schon auf der Treppe bemerkt sie die Veränderungen. Der untere Bereich wurde mediterran geschmückt und riecht wunderbar frisch nach salzigem Meerwasser. An den Wänden hängen Fischernetze mit wunderschönen Muscheln, die sich wie von Zauberhand bewegen.

Auf dem Weg zur Küche schlendert sie an fröhlich singenden Fischen vorbei, die in großen Meerwasseraquarien ihre Runden ziehen. Als sie hineintritt, sieht sie eine Menge fleißiger Wesen, die beschäftigt in großen Töpfen rühren oder silberne Platten polieren, während Broaf am Ofen Gemüse schnippelt. Neben ihm steht eine Frau, wie eine Magd gekleidet, und ruft den Bediensteten ununterbrochen forsche Anweisungen zu. Als die Anwesenden J.J. in der Tür entdecken, halten sie kurz in ihrer Arbeit inne. Für den Bruchteil einer Sekunde ist es mucksmäuschenstill im Raum, dann plappern alle aufgeregt durcheinander.

»Oh, wie hübsch sie ist! Sie sieht aus wie eine wahre Prinzessin«, hört J.J. die Bediensteten schwärmen.

Verlegen sieht sie zu Broaf, der ihr kokett zuzwinkert und zu ihr eilt.

»Guten Abend, Jezabel. Ich hoffe, du hast dich etwas erholt! Du siehst wirklich wunderschön aus. Aber der Empfang ist im Esssalon!«

Er küsst ihr die Hand und verbeugt sich. Dann stellt er sich schützend neben sie, da ihm nicht entgeht, dass die Magd J.J. argwöhnisch mustert.

»Das ist Coralline, die Besitzerin des besten Cateringunternehmen Xesthas. Sie hat heute Abend die Macht über das Mahl und die Getränke.«

Broaf zeigt zu der Dame, die immer noch am Ofen steht und keine Miene verzieht. J.J. geht hinüber und reicht ihr höflich die Hand.

Doch Coralline sieht sie weiterhin kühl an.

»Guten Abend. Das ist also die schwarze Prinzessin. Ich freue mich, dass es dir gut geht, und hoffe, dass dir mein Essen schmecken wird«, sagt sie schroff und dreht sich weg.

J.J. nickt verunsichert, denn den bösen und sarkastischen Unterton hat sie sehr wohl wahrgenommen. Außerdem bildet sie sich ein, in Corallines Augen grüne Blitze gesehen zu haben. Die Magd beachtet sie jedoch nicht weiter und gibt ihren Bediensteten erneut lautstarke Anweisungen. J.J. schielt zur Feuerstelle, wo sich der Feuerdämon, noch größer als letzte Nacht, gierig über glühende Kohlen windet. Sie dreht sich weg, da dieser Anblick sie anekelt und sie befürchtet, dass ihr wieder übel wird. Ihr Blick schwenkt zur großen Küchenuhr.

»Es ist genau sieben Uhr.«

Sie winkt Broaf zu und macht sich auf den Weg zum Esssalon. Im Flur kann sie sanfte Harfentöne hören, die hinter der großen Tür erklingen. Zögerlich betritt sie den Raum.

»Da hol mich doch der Teufel«, entfährt es ihr, während sie wie magisch angezogen, durch den wundersamen Esssalon gleitet, der sich tatsächlich in ein karibisches Paradies verwandelt hat. In der Mitte befindet sich sogar ein ovaler Pool, in dem die Meerjungfrau Myrrda auf einem Felsen sitzt und Harfe spielt. Als sie J.J. erblickt, winkt sie ihr freudig zu.

J.J. sieht sich irritiert um, da von dem Esssalon, in dem sie sonst ihre üppigen Mahlzeiten einnehmen, nicht mehr viel zu erkennen ist. Unglaublicherweise steht sie inmitten eines traumhaften Paradieses von exotischen Pflanzen und Tieren. Eine unüberschaubare Anzahl Nischen zweigen sich ab, in denen aufwendig dekorierte Tische stehen, die wiederum von mondänen Blumen, Sträuchern und Bäumen umzäunt werden. Fremdartige Vögel und Schmetterlinge schwirren durch den Raum und es riecht wunderbar frisch nach Urlaub, Meer und Vanille. Auf Sand wurde verzichtet, dafür ein Teppich aus saftig grünem Moos ausgerollt.

J.J. ist wie gebannt.

»Das muss ein Traum sein! So etwas Unglaubliches habe ich noch nie zuvor gesehen. Aber diese Vielfalt an Magie ist auch irgendwie gespenstisch.«

Sie schlendert durch die Gästereihen und hält Ausschau nach ihrer Großmutter. Ein junger Mann in einem Frack, wie Broaf ihn zu tragen pflegt, bleibt neben ihr stehen. Er räuspert sich und hält ihr ein Tablett mit köstlichen Getränken vor die Nase. J.J. entscheidet sich für ein wunderschön dekoriertes Glas mit grünem Zuckerrand, gefüllt mit einer fruchtigen orangegelben Flüssigkeit. Als sie am Strohhalm zieht, überrollt sie ein außergewöhnlicher Geschmack von exotischen Früchten und frischer Kokosnuss. Sie bedankt sich höflich und mischt sich unter die unbekannten Gäste.

J.J. ist erstaunt.

»Wenn ich nicht wüsste, dass dies alles Hexen und Zauberwesen sind, würde ich glauben, dass das eine Party in der realen Welt wäre. Gut, Myrrda passt nicht in dieses weltliche Bild. Aber sonst erscheint alles normal. Natürlich nur, wenn ich die Tatsache außer Acht lasse, dass sich dieses Tropenparadies im Haus meiner Großmutter befindet!«

Sie lässt sich durch dieses traumhafte Ambiente treiben und grüßt hier und da freundlich, wenn jemand sie anlächelt. Die Angst, das sich die Gäste wild auf sie stürzen, bestätigt sich Gott sei Dank nicht. In einer der hinteren Nischen entdeckt sie ihre Großmutter, die in dem blaugrünen Papageienhosenanzug noch furchtbarer aussieht, als sie es befürchtet hatte. Aber wenn J.J. sich so umsieht, scheint die Mode von Hexe Strada tatsächlich sehr angesagt zu sein, da so manche der geladenen Gäste derartig skurrile Modelle tragen.

 

»Oder sind das gar keine Kostüme?«

J.J. kichert und geht lächelnd zu Vettel, die in ein Gespräch mit einem älteren Mann vertieft ist.

Sie räuspert sich und wartet. Als Vettel sie endlich bemerkt, seufzt sie verzückt und reißt J.J. stolz an sich. Die starrt fasziniert auf das Haar ihrer Großmutter, das charmant eingedreht, in einem Mix aus kräftigem Blau, Rot und Gelb erstrahlt, während die verzauberte Strähne unentwegt blinkt.

»Lass dich ansehen, mein Engel. Du bist wahrlich eine Augenweide! Vinillius, darf ich dir Jezabel, meine Enkelin vorstellen!«

Mit geschwellter Brust schiebt sie J.J. vor den älteren Herrn. Als der seinen Kopf erhebt, ist sie total verwirrt. Er reicht ihr höflich die Hand, während ihn der entgeisterte Gesichtsausdruck amüsiert.

»Freut mich, junge Dame. Deine Großmutter hat nicht übertrieben, als sie mir erzählte, dass du die Schönheit deiner Mutter geerbt hast. Herzlich willkommen zurück, Prinzessin!«

Bei dem Wort »Prinzessin« verdunkeln sich Gesicht und Stimme des Mannes und J.J. könnte schwören, dass seine Zähne dabei wie scharfe Rasierklingen blitzten. Zögerlich schüttelt sie ihm die Hand.

Oma Vettel scheint die Gedanken des Mädchens zu erahnen und kichert.

»Keine Angst, Jezabel, das ist Vinillius, mein Zwillingsbruder! Er ist übrigens der Torwächter, von dem ich dir erzählte.«

J.J. lässt ein kurzes »Ah« hören und sieht sich gelangweilt um, während Vettel das Wort an ihre Gäste richtet.

»Darf ich einen Moment um eure Aufmerksamkeit bitten!«, ruft sie in den Trubel.

Ein kurzes Gemurmel erfolgt, bevor sich die Anwesenden umdrehen und sie erwartungsvoll anstarren.

J.J. schluckt.

»Okay. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo sich alle Gäste in wilde Fratzen verwandeln und auf mich stürzen?«

Unsicher lächelt sie in die Gästeschar, während Oma Vettel sie wie eine Trophäe vor sich hält und mit ihrer Ansprache beginnt.

»Ich möchte euch danken, dass ihr meiner kurzfristigen Einladung folge geleistet habt, um mit mir gemeinsam den wunderbaren Augenblick der Rückkehr meiner Enkelin zu feiern.«

Ein leichter Pflichtapplaus ertönt.

J.J. sieht verlegen durch die Menge und staunt, da sie unter den Gästen etliche Mädchen entdeckt, die scheinbar ungefähr in ihrem Alter sind.

»Vielleicht wird der Abend ja doch nicht langweilig. Ich bin froh, wenn ich diesen peinlichen Eröffnungsakt hinter mir habe. Hoffentlich hält sich Großmutter kurz!«, denkt sie und überlegt, inwiefern die jungen Damen mit Vettel bekannt sein könnten.

»Vielleicht sind das ja überhaupt keine Mädchen, sondern Hexen, bei denen der Verjüngungszauber funktioniert hat«, spekuliert sie, bevor sie durch einen aufdringlichen Applaus aus ihren Gedanken gerissen wird und automatisch lächelt.

Doch plötzlich hat sie das Gefühl, jemand würde sie beobachten. Sicher, die Gäste begutachten sie alle ausgiebig, aber das ist nicht das, was sie spürt. Es ist dieses unangenehme Gefühl, wenn man im Dunkeln durch leere Gassen läuft und glaubt, beobachtet zu werden. Verunsichert blickt sie durch den Saal und hofft, dass ihre Großmutter endlich zum Schluss kommt. Da bemerkt sie, dass ihre Nackenhärchen sich aufstellen. Hektisch dreht sie sich um und entdeckt einen Jungen, der lässig an einem Hibiskusbaum lehnt und sie fixiert. Selbst als sie ihm direkt in die Augen sieht, verzieht er keine Miene, sondern starrt sie weiterhin stur an.

J.J. wird total nervös. Provozierend starrt sie zurück, um ihm ihre absolute Ablehnung zu demonstrieren. Sie zieht die Augenbrauen schnippisch nach oben und dreht sich selbstbewusst wieder weg. Aber das unbehagliche Gefühl lässt nicht nach. Genervt dreht sie sich nochmals um, doch da ist dieser Junge verschwunden. Verwundert schüttelt sie den Kopf und wendet sich den Gästen zu, da ein erneuter Applaus, der viel länger anhält als die vorherigen, erahnen lässt, dass ihre Großmutter endlich zum Ende kommt.

»Und deshalb hoffe ich, dass wir zusammen einen wundervollen Abend in der Karibik verbringen werden. Coralline, bitte serviere nun das Mahl!«

Oma Vettel erhebt wie ein Dirigent die Hände und badet im Jubel, der von gellenden Pfiffen untermauert wird. J.J. ist überzeugt, dass die Gäste einfach nur froh sind, dass diese Ansprache vorüber ist und der Applaus eigentlich Coralline gilt. Trotzdem lässt sie sich anstecken und klatscht kräftig mit.

Auf dem Rückweg wird sie nun von den meisten Gästen mit einem freundlichen Handschlag begrüßt, sodass sie große Mühe hat, ihren Platz zu erreichen. Erst eine Stunde später sitzt sie endlich auf ihrem Stuhl und trinkt hastig eine kühle Limonade. Ihr Tisch befindet sich direkt am Eingang des Esssalons. Das hat Oma Vettel extra so arrangiert, damit sie die ankommenden Gäste sogleich begrüßen kann. Und davon gibt es jede Menge. Nach und nach füllt sich das tropische Paradies mit weiteren Gästen.

Bei J.J. sitzen Oma Vettel, Furiase und Hystasia vom Hexenrat, die Designerhexe Madame Strada, Gretchen von Winterhardt, eine weit entfernte Verwandte, die J.J. unentwegt Komplimente für ihr Kleid macht, und Sir Benjamin Curtis Butterford, ein Abgesandter des dunklen Phads, dessen Funktion J.J. auch nach einer ausführlichen Erklärung seinerseits ein Rätsel bleibt.

Als das Mahl endlich serviert wird, kommt sie aus dem Staunen nicht heraus. Im Minutentakt servieren Kellner die erlesensten Köstlichkeiten. Muscheln, Langusten, gedünsteter Fisch, Ratatouille, gebackene Süßkartoffeln, verschiedene Salatvariationen, Brot aus dem Steinofen mit Trüffelbutter, Steaks von Rindern, die täglich massiert werden, Meeresfrüchtesalat und Pilzragout.

»Ich korrigiere. Ich werde nicht zwanzig, sondern mindestens vierzig Pfund zunehmen«, denkt J.J., während sie ihren Teller randvoll lädt.

Das Essen schmeckt so fantastisch, dass sie sich mehrmals Nachschlag nimmt. Zum Nachtisch gibt es Pavlova, eine neuseeländische Spezialität, die nur aus Zucker und Sahne besteht, sowie frisches, exotisches Obst. J.J. ist vom Hauptgang zwar schon mehr als gesättigt, trotzdem kann sie nicht aufhören, dieses traumhafte Dessert zu schlemmen. Reumütig sieht sie zu ihrer Großmutter.

»Das ist das beste Pavlova, das ich je gegessen habe! Ich glaube, ich bin süchtig«, stammelt sie mit vollem Mund, während Vettel zufrieden in die Runde lacht.

Nachdem das Geschirr wie von Zauberhand vom Tisch verschwunden ist, prosten sich die Anwesenden überschwänglich zu und gehen zum ausgelassenen Teil der Party über.

Myrrda springt samt Harfe in den Pool, wo sich im selben Moment ein Plateau erhebt, auf dem eine Musik-Band die Gäste wie auf Knopfdruck mit ausgesuchten Ohrwürmern von den Stühlen reißt. J.J. ist begeistert, da auch moderne Stücke aus der realen Welt gespielt werden. Manche zwar völlig frei interpretiert, aber alle sehr tanzbar. An der Stelle, wo Vettel vorhin noch ihre Endlos-Ansprache hielt, glänzt nun eine Spiegelglastanzfläche, die von bunten Scheinwerfern beleuchtet wird, während eine überdimensionale Discokugel durch den Saal schwebt.

J.J. fühlt sich inspiriert und bekommt große Lust auf Small Talk. Da ihre Großmutter momentan heftig mit Tante Gretchen diskutiert, stürzt sich das Mädchen allein in die Menge. Hier und da hält sie einen kurzen Plausch, meist über Mode oder die Musik. Das Kleid und ihr blondes Haar werden oft gelobt, was sie in Anbetracht der extravaganten Modelle diverser Damen verunsichert. Trotzdem schlendert sie gut gelaunt durch den Saal und steuert mutig auf einen Tisch zu, an dem eine Gruppe junger Mädchen sitzt.

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