Die Farbe von Jade

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Mit den Schreien der Gibbons begann der neue Tag. Bevor San Youn die Augen öffnete, prüfte sie mit den Ohren ihre Umgebung. Schritte, vereinzelt Stimmen, das Klappern von Dingen, die aufeinandergestapelt wurden, das Knistern von Bastmatten, die man zusammenrollte. Die anderen Kinder waren schon aufgestanden. Als San Youn sich bewegte, stieß sie jemand an. Es war dieselbe Frau wie gestern. »Bist du wieder kräftig? Kannst du aufstehen?« San Youn verharrte. »Versuch es, los. Wir brechen gleich auf. Wenn du nicht stark genug bist, musst du hierbleiben, also versuch es.« San Youn erhob sich schwerfällig. Die Frau rollte für sie die Matte zusammen. »Hier«, sagte die Frau und drückte ihr einen dicken Zweig in die Hand, den sie als Gehstock benutzen konnte. »Damit geht’s besser.« San Youn stand auf wackeligen Beinen. Die Anstrengung der letzten Tage und das wenige Essen hatten sie geschwächt. Nichts desto trotz gab die Frau ihr einen recht schweren Rucksack. »Entweder du trägst oder du bleibst hier«, sagte sie und ging zu der Gruppe, die sich in einer langen Reihe in Bewegung setzte. Auf dem Rücken trug sie ein riesiges Tragegestell, beladen mit einem Zelt, Panzerfäusten und Töpfen. Die Männer trugen viel weniger Gepäck als die Frauen. Die Rücken der Frauen waren so vollgeladen, dass San Youn nur die wankenden Tragegestelle und die aufgeladenen Sachen sehen konnte. Ganz vorn, mit Abstand, gingen zwei Kinder.

Die Gruppe bewegte sich auf schmalen Pfaden, die sich durch den Wald schlängelten. San Youn folgte unbeachtet, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer. Niemand wartete auf sie. Bei diesen Leuten gab es Essen, gab es Sicherheit. Also ging sie, ging und stolperte, ohne nachzudenken, immer darauf bedacht, nicht zurückzufallen. Der Wald war hier heller als in der Umgebung ihres Dorfes, er ließ mehr Licht zum Boden dringen. Dafür war aber der Boden viel dichter mit Pflanzen überwuchert und das Gehen anstrengender. Außerdem begannen hier die Ausläufer der Berge, stetig ging es bergauf. Jetzt im Mai, dem Ende der Trockenzeit, war es unerträglich heiß und schwül. Sogar Tiger würden jetzt hechelnd im Schatten liegen und sich so wenig wie möglich bewegen. Der Schweiß lief einem nur so herunter, während ein Fuß vor den anderen gesetzt wurde und die Rucksäcke auf den schmerzenden Schultern schwerer und schwerer wurden.

Nach einem stundenlangen Fußmarsch erreichten sie eine freigeräumte Lichtung. Hier lagen bereits ein paar Baumstämme, Äste und Bretter. Gräben waren an den Seiten der Lichtung ausgehoben, der Boden war lehmig. Sofort begann man, Bretter über die Baumstämme zu legen und Zelte und Schlaflager darauf zu errichten. Die Kinder gingen im Wald nach Grillen und Fröschen suchen. Zwei Feuer wurden angezündet und bald gab es Mohinga, Suppe mit Reis und einer Fischsoße, gegrillte Frösche und Grillen. Zum Essen saß man auf Bastmatten, die Gewehre blieben auf den Rücken hängen, man aß schweigend. San Youn schlürfte gierig die Suppe herunter und verschlang die gerösteten Grillen. Die anderen schenkten ihr kaum Beachtung. Vor Erschöpfung war sie dem Umfallen nahe und man erlaubte ihr nach dem Essen eine Ruhezeit. Sie breitete eine Bastmatte über das erbaute Schlaflager aus und schlief unter dem Zirpen, Zwitschern und Rufen des Waldes sofort ein.

Nach ein paar Stunden wurde sie erneut geweckt, bekam Wasser und wurde zu einer Gruppe Kinder geschickt, die im Halbkreis auf Matten saßen und einer Frau in Uniform zuhörten. Die Frau redete von Nationalstolz und Tapferkeit, von Opferbereitschaft und lauter Dingen, zu denen Mi Mi sicher anderes gesagt hätte. Immer wieder hatte San Youn Schwierigkeiten, sie zu verstehen, weil sie einen Dialekt sprach, den San Youn nicht so gut kannte. In ihrem Land gab es viele Sprachen und selbst innerhalb der einzelnen Volksgruppen viele Dialekte, die untereinander kaum verstanden wurden. Die Soldaten hier sprachen überwiegend Sgaw oder auch Birmanisch, das in dieser Region oft als Verständigungsbrücke benutzt wurde und das San Youn immerhin ein wenig verstand.

Die Soldatin sprach davon, dass die anderen – das waren immer wieder unterschiedliche, besonders aber das Militär der Regierung – das Volk unterjochten, versklavten und demütigten, sprach von Widerstand und Freiheitskampf. Sie fragte die Kinder laut: »Wer ist unser Anführer?«, »Was ist unsere Heimat?« und »Wer sind wir?« Alle Kinder riefen die Antworten laut heraus. Alle dieselben. Mi Mi hätte etwas anderes geantwortet. Instinktiv wusste San Youn, dass sie sich die Antworten, die man von ihr erwartete, schnellstmöglich einprägen sollte und so begann sie, nach und nach, zögerlich mitzurufen. Und dann wurde sie unerwartet von der Lehrerin angesprochen. Sie musste vor die Gruppe treten und konnte sich nicht mehr zwischen den anderen Kindern verstecken. Alle schauten sie an.

»Dieses Mädchen war allein in ihrem zerstörten Dorf. Ohne unsere Hilfe wäre sie gestorben.«

San Youn wurde aufgefordert zu erzählen, was die Soldaten mit ihrem Dorf getan hatten. Ihr schnürte sich die Kehle zusammen. Sie wollte nicht erzählen, konnte es nicht. Da waren keine Worte und die Bilder wollte sie auch nicht sehen, wollte sich nicht erinnern. Der Befehl wurde wiederholt. San Youn biss sich auf die Lippen und schaute zu Boden.

»Hier wird nicht geweint. Jede Träne ist ein Sieg für den Gegner! Du wirst Rache üben und unser Volk befreien. Erzähl uns, was die Regierung unserem Volk antut!«

San Youn wimmerte leise.

»Unsere Schwäche ist die Stärke der Tatmadaw. Mit jeder vergossenen Träne werden sie stärker und werden noch mehr Dörfer überfallen. Deine Tränen töten dein eigenes Volk! Durch Jammern werden die Toten nicht lebendig. Nur durch eiserne Härte und Entschlossenheit. Willst du den Feind stärken? Oder willst du dein Volk befreien?«

Alle schauten sie erwartungsvoll an. San Youn hatte nicht alles genau verstanden. Sie versuchte, sich zusammenzureißen und sich zu konzentrieren.

»Befreien«, murmelte sie leise.

»Was? Sag es lauter. Ohne Entschlossenheit kannst du gar nichts! Was willst du?«

»Befreien«, sagte San Youn nun lauter.

»Noch mal!«

»Befreien«, presste sie laut heraus und zwang sich, es fest und entschlossen klingen zu lassen.

»Gut«, sagte die Soldatin. »Und nun sag, was mit deinem Dorf ist. Hat die Armee auf euch geschossen?«

»Die Armee hat geschossen.« San Youn musste nun jedes Gefühl zurückdrängen und tief in sich vergraben.

»Haben sie getötet?«

»Sie haben getötet!« San Youn musste die Antwort schreien, sonst hätte sie sie nicht herausgebracht, denn die Worte klammerten sich in ihrer Kehle fest und mussten mit Gewalt hinausgeschleudert werden.

»Wen haben sie getötet?«

»Meinen Bruder und meine Mutter!« Sie biss sich auf die Zunge, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

»Willst du, dass sie aufhören?«

»Ich will, dass sie aufhören!«

»Wer ist dein Anführer?«

San Youn wiederholte das eben Gelernte, ohne viel nachzudenken. Sie hoffte nur, dass es richtig sein würde und sie sich bald wieder zwischen den anderen Kindern verstecken konnte, und dass das alles bald aufhören würde. Sie ließ die Fragen über sich ergehen: »Was ist deine Heimat?« Laut rief sie die Antworten heraus und es tat beinahe gut, zu rufen, zu schreien, auch wenn es Worte waren, die ihre Mutter traurig gemacht hätten.

»Was ist dein Auftrag?«

»Mein Volk zu befreien! Befreien!« San Youn schrie die Antworten hinaus. Ja, sie wollte ihre Mutter befreien, wollte sich befreien, aus dieser Situation, hier vorne zu stehen, wollte sich von den Erinnerungsbildern befreien, die in ihrem Kopf lauerten, von ihrer Angst und Verzweiflung. Und das Schreien half.

Die Soldatin klopfte ihr auf die Schulter. »Sehr gut. Das war wirklich sehr gut.« Sie wandte sich an die Gruppe. »Eure Schwester hat großen Mut, Stärke und Tapferkeit bewiesen. Zum Dank und zur Ehre nehmen wir sie in unsere Gruppe auf.« An San Youn gerichtet befahl sie: »Knie nieder!« San Youn kniete sich hin. »Gehorsam der Gruppe gegenüber in allen Situationen ist unsere größte Stärke und unser größter Schutz. Nur so kannst du überleben und alle andern auch. Ungehorsam bringt den Tod in die Gruppe. Wirst du gehorchen?«

»Ich werde gehorchen.«

Die Soldatin überreichte San Youn ein aus Holz geschnitztes Gewehr. »Dies ist dein erstes Gewehr. Auch wenn es eine Holzwaffe ist: trage es stets am Körper. Lege es nie ab, nicht zum Essen, nicht zum Schlafen. Bald wirst du lernen, eine echte Waffe zu halten und zu benutzen. Zuerst musst du lernen und deinen Gehorsam beweisen.« San Youn sollte sich wieder zu den Kindern setzen. Sie war eine der wenigen mit einem Holzgewehr. Die meisten hatten echte. Dabei waren manche Kinder noch viel kleiner als sie.

Am folgenden Tag befand man sie für kräftig genug und sie sollte am Training teilnehmen. Ein schwerer Sack baumelte an einem Baum. Die Kinder standen in einer Schlange und bekamen nacheinander Befehle. Je nach Befehl liefen sie auf den Sack zu und traten oder schlugen ihn und stellten sich eilig wieder hinten an. In der schwülen Gluthitze des Nachmittags war das Training unerträglich anstrengend. Ein Junge machte das Falsche. Er schlug, anstatt zu treten, denn ihm ging langsam die Kraft aus und der Sack hing ziemlich hoch. Er bekam eine deftige Ohrfeige und musste unzählige Liegestütze machen, bis seine Arme zusammenbrachen. Danach musste er erneut zum Sack, im Sprung treten und sich anschließend bei dem Soldaten bedanken.

San Youn versuchte, die Befehle so gut wie möglich zu verstehen und zu befolgen. Da sie noch recht schwach war, musste sie an diesem Tag nicht das gesamte Training mitmachen. Erst am nächsten Tag, nach einer Nacht, die sie dicht gedrängt auf dem Schlaflager verbracht hatte, begann für San Youn das volle Programm. Während unweit die älteren Kinder und die Erwachsenen Schießübungen machten, wurde für die Jüngeren ein Feuer angezündet. Sie mussten mit ihren Gewehren und lauten Schreien darüber springen, sich gegenseitig mit Schlägen traktieren, um den Körper und den Geist hart zu machen. Sie übten, sich anzuschleichen und sich zu verstecken und wer zu leicht gefunden wurde, bekam einen Schlag mit einer Rute. Es gab Übungen, bei denen einer allein gegen fünf Gegner kämpfen musste. Jeder war mal dran. Die Gruppe schlug mit mäßig starken Schlägen auf das Opfer ein. Das Opfer musste sich wehren, so gut es ging. Mit Händen und Füßen, mit kleinen Stöckchen, die Messer darstellten. Für San Youn, die sich fast noch nie geprügelt hatte und die die anderen Kinder noch nicht kannte, war das schlimm. Als sie sich zusammenkauerte, um den Schlägen möglichst wenig Fläche zu bieten, musste sie feststellen, dass sie nicht aufhörten, und Schläge und Tritte prasselten unentwegt auf sie ein. Der Soldat, der daneben stand, schrie ihr etwas zu. Sie solle aufstehen und kämpfen. San Youn traute sich nicht, die Hände vom Gesicht zu nehmen und ihren Körper aufzurichten und dadurch zu öffnen. Einige Kinder hielten unschlüssig inne. »Weiter«, schrie der Soldat sie an, »sie muss lernen, zu kämpfen. Sonst ist sie eine Gefahr für sich selbst und für uns alle. Weiter! Bis sie aufsteht und kämpft!« Als die Schläge nicht aufhörten, stürzte sich San Youn in voller Verzweiflung nach vorn gegen ein tretendes Bein, packte es und stieß mit ihrer Schulter dagegen. Der Junge fiel. Ein Tritt traf San Youn am Kopf. Als der gefallene Junge aufstehen wollte, stürzte sie sich erneut auf ihn und sie fielen gemeinsam wieder hin. San Youn drehte sich im Fallen so, dass der größere Junge auf sie drauf fiel. Sie packte seinen Kopf von hinten und legte ihren Arm um seinen Hals. Während sie ihn würgte, benutzte sie seinen Körper als Schutzschild gegen die Tritte. Fest griff sie zu, bis der Junge röchelte und kurz darauf still wurde. Der Soldat schrie: »Stopp, aufhören! Das reicht!« Die Kinder sprangen auseinander. »Loslassen!«, brüllte der Soldat und jetzt erst ließ San Youn den Jungen los und kroch unter ihm hervor. Der Mann ohrfeigte den Jungen, der sich nicht mehr bewegte. Nochmal und nochmal, dann schüttelte er ihn. Der Junge öffnete benommen seine Augen. Er brauchte eine Weile, bis er aufstehen konnte. »Na also«, rief der Soldat, »geht doch. Nur musst du bei den Übungen nicht gleich deine Kameraden töten. Lass sie das nächste Mal am Leben und bewahre dein Feuer, bis du dem Feind begegnest. Selbstbeherrschung und Besinnung sind genauso wichtig wie Gehorsam, hörst du?«

 

Damit waren die Kinder entlassen und das Training beendet. Der Junge, den San Youn besiegt hatte, obwohl er größer war als sie, schaute sie böse an und spuckte auf den Boden. Die Kinder gingen auseinander. San Youn war sich nicht sicher, ob sie sich Respekt verschafft oder den Hass der Kinder zugezogen hatte. Dem Jungen versuchte sie so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Sie fürchtete sich vor seiner Rache.

San Youn fühlte sich schrecklich allein. Die Kinder befreundeten sich kaum untereinander und es gab niemanden, dem sie vertraute. Inständig hoffte sie, hier bald wieder wegzukönnen. Doch wo sollte sie hin? Sie bekam mehr und mehr das Gefühl, dass man hier nicht weglaufen durfte. Man würde sie bestimmt suchen und bestrafen. Das strenge Regelwerk in der Gruppe, die Befehle, das Schweigen, die Uniformen und die Waffen sperrten sie in einen unsichtbaren Kerker und legten ihr unsichtbare Ketten an. Die Angst, bestraft zu werden, fesselte ihren Geist und versiegelte den Kerker.

Nach einem Abendessen beobachtete San Youn, wie ein Mädchen von einem Soldaten einen Befehl zugeflüstert bekam. Sie war ungefähr elf Jahre alt. Das Mädchen hörte sofort auf, den restlichen Reis aus ihrer Schale zu sammeln und bewegte sich nicht mehr. Der Soldat stieß sie an: »Na los.« Er nickte in die Richtung des großen Zeltes. Das Mädchen stellte die Reisschale weg und stand auf. Langsam ging sie auf das Zelt zu. Vor dem Zelt saß der Kommandant der Guerillagruppe und rauchte. Er winkte das Mädchen heran. Sie zauderte, der Kommandant winkte erneut und sagte etwas. Zaghaft trat sie zu ihm. Der Mann legte seinen Arm um ihre Hüfte und hielt ihr die Pfeife an den Mund. Das Mädchen hustete und keuchte und der Anführer lachte leise. Ein Soldat kam zum Zelt, blieb stehen, ließ sich die Pfeife reichen und zog. Den Blick hielt er dabei auf das Mädchen gerichtet. Der Kommandant erhob sich und schob das Mädchen ins Zelt. Der Soldat folgte ihnen.

San Youn fühlte sich komisch. Sie verstand nicht, was da passierte, obwohl sie eine vage Vermutung hatte. Angst pochte in ihren Ohren. Hier war sie bei den Karen. Das waren doch die guten Soldaten, die so etwas nicht taten. Sie irrte sich sicher und das Mädchen bekam nur etwas Wichtiges gesagt. San Youn wurde angestoßen. Sie musste aufräumen helfen, das Lager ausfegen, ein Pulver um das Lager herum ausstreuen, das Schlangen und Skorpione fernhalten sollte. Das Mädchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Es wurde dunkel und die Kinder legten sich auf ihr Lager, Seite an Seite, dicht gedrängt. Das Nachtlied des Waldes begann. San Youn lauschte, ob sie aus dem Zelt etwas hören konnte. Doch da waren nur das Zirpen der Grillen, die leisen Stimmen einiger Soldaten, sonst nichts. Nichts, was sie irgendwie erkennen und verstehen konnte. Bald überwältigte ihre Müdigkeit die würgenden Zweifel und sie schlief ein.

Am nächsten Morgen stand das Mädchen, das San Youn am Vorabend beobachtet hatte, wie jeden Tag mit den Kindern in dem sich langsam hebenden Frühnebel auf. Ihr Gesicht war blass und unbewegt. Vielleicht war alles nur ein schlechter Traum gewesen, belog sich San Youn. Sie erinnerte sich an ihren eigenen schlimmen Traum der letzten Nacht. Ihre Mutter hatte mit Thanaka überall Gewehre an die Wände der Hütte gemalt, dann kamen Maden aus den Wänden. San Youn hatte sich nicht zu weinen getraut, als sie aufgewacht war. Mi Mi hatte gesagt, wenn man Opium rauche, bekäme man Albträume. Auch San Youn war schon einmal eine Pfeife angeboten worden. Sie hatte vorsichtig so getan, als ob sie es inhalierte, aber darauf geachtet, den komisch schmeckenden Rauch nicht in die Lunge zu ziehen. Sie hatte ihn im Mund behalten und dann langsam ausgeblasen. So war es keinem aufgefallen, dass sie nicht echt geraucht hatte. Trotzdem war ihr schwindelig und komisch geworden. Seither war es ihr gelungen, sich an der Pfeife oder den Schlafmohnzigaretten vorbeizudrücken. Genauso machte sie es jetzt auch mit den seltsamen Tabletten, die sie immer heimlich ausspuckte. San Youn hatte Angst, man könne ihren Betrug erkennen. Hier rauchten alle und alle nahmen diese Pillen. Vielleicht waren deshalb die Menschen hier so eigenartig. Sie sagten, dass es gut sei. Es mache sie ruhig und mutig. Es helfe zu schlafen nach der anstrengenden Arbeit und es helfe gegen Angst.

San Youn wollte gern, dass auch ihre Angst aufhörte. Aber Mi Mi wäre dann böse. Sie hatte gesagt, wirklich Erwachsene würden nicht rauchen, weil sie wüssten, dass es ihnen nicht guttue. Denn Erwachsensein bedeute, dass man Verantwortung für das Leben übernähme. Vielleicht käme Mi Mi ja doch zurück und holte sie nach Hause. Vielleicht hatte ihr Geist nur für kurze Zeit ihren Körper verlassen. San Youn hatte furchtbares Heimweh. Das Rauchen würde auch gegen Heimweh helfen, sagte man ihr. Niemand hier hatte mehr Heimweh. San Youn fragte den Elefanten auf ihrer Brust, denn er würde alles sehen, was sie tat, und würde es der Mutter sagen. Vielleicht war der Geist der Mutter selbst da drin, in dem Stein, und beobachtete sie.

Der Elefant sagte, sie solle nicht rauchen. Denn dadurch würde sie ihre Seele verlieren. Auch wenn die Seele jetzt wehtat – ihr Heimweh und ihre Angst zeigten ihr, dass sie noch lebte. Das war eine Antwort, die nur Mi Mi gegeben hätte. Sie musste wirklich in dem Stein sein.

Obwohl die Soldaten Gewehre hatten und schossen, obwohl Mi Mi sagte, das würde die Seele kaputtmachen, hatten die Soldaten Stärke. Je älter sie wurden, desto stärker wurden sie, denn hier war man jemand. Hier war man wichtig und bekam eine Aufgabe. Die Leute hier sagten, dass es ihrem Leben einen Sinn gäbe. Sie wären nicht mehr nur hilflose Opfer. Sie würden das Land befreien und dann wäre endlich Frieden. Mi Mi hätte etwas anderes gesagt. Dass Frieden so nicht geht. Dass Frieden kein Ziel ist, sondern ein Weg. Hier sagte man, dass durch stilles Leiden kein Frieden käme. Sie sagten, dass es nicht friedlicher wäre, nur weil Mi Mi jetzt tot war. Zumindest damit hatten sie Recht. Die Tatmadaw hatten Mi Mi und Aung Ni getötet und vielleicht auch das ganze Dorf. Und sie würden weitermachen. San Youn wusste nicht, was sie tun sollte. Vielleicht gab es einen Kompromiss. Oder sie würde abwarten, was noch geschehen würde. Die Zeit würde ihr so manche Antwort geben. Also funktionierte sie einfach, gehorchte, tat, was man ihr sagte und wenn sie bestraft wurde oder gelobt, ließ sie es über sich ergehen. Sie folgte und gehorchte wie ein Zombie. Wenigstens musste sie niemanden töten, noch war ihr Gewehr aus Holz. Auch eine Uniform bekam sie noch nicht, sie trug nur ein graues Hemd und eine braune Hose. Ein bisschen freute sie sich auf die Uniform, denn die machte stark. Dann wäre alles leichter. Sie machte ihre Übungen und tat nur, was man ihr sagte. Wenn sie keinen Befehl bekam, stand oder saß oder lag sie stumm da und wartete.

Nach unzähligen Tagen wurde San Youn einer kleineren Gruppe zugeteilt. Die Gruppe ging in einer Reihe hintereinander durch den Wald. Vorne ein paar Kinder, hinten die Erwachsenen. Ganz vorne tasteten sich mit einem Stock das Mädchen, das in dem Zelt gewesen war, und die Soldatin, die San Youn bei ihrer Ankunft das Essen gegeben hatte, voran. Diese Frau war wie die anderen sehr streng und redete nicht, außer den Sachen, die zu sagen waren. Auch sie ging hin und wieder in das Zelt des Kommandanten. San Youn beneidete das Mädchen, das vorn bei ihr sein durfte. Die Frau war sehr stark und sicher auch sehr klug. Sie könnte San Youn vielleicht zeigen, was sie tun sollte, könnte ihr helfen und sie beschützen. Ihre Haltung war gerade, aber ihre recht großen Augen wichen jedem aus. Manchmal aß sie nicht alles auf, dann gab sie ihr Essen den Kindern. San Youn hatte auch schon einmal was von ihr bekommen. Wann durfte sie endlich auch vorne gehen, damit sie bei dieser Frau sein konnte?

Die Gruppe kam in ein Waldstück, wo die Bäume nicht so dicht standen und es nur wenig Gesträuch gab. Sie bewegten sich leise und vorsichtig voran, hielten die Gewehre bereit, spähten, lauschten. Zwischendurch stoppten sie und erst auf ein Winken des Anführers gingen die Frau und das Mädchen vorne langsam weiter. Bis auf das Zirpen im Wald und das entfernte Rufen einiger Affen war nichts zu hören. Dann ein leises »Klick«. Die Frau blieb abrupt stehen und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Nach der ersten Schrecksekunde schmolzen ihre verschlossenen Gesichtszüge. Sie schrie dem kleinen Mädchen vor ihr etwas zu, das erschrocken zur Gruppe zurückrannte.

»Mine! Zurück!«, rief nun auch ihr Anführer laut. Die Gruppe sprang ängstlich zurück, während die Frau vorn zu weinen begann. Sie war auf eine Tretmine getreten. Das klickende Geräusch hatte sie gehört, noch bevor sie den Fuß wieder anhob, um weiterzugehen. Geistesgegenwärtig behielt sie ihren Fuß auf der Mine und verhinderte damit die sofortige Explosion.

Einer der Männer legte das Gewehr auf die Frau an und schaute den Anführer fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. »Wir gehen da lang.« Der Soldat, der sein Gewehr immer noch im Anschlag hielt, sagte leise: »Sie wird sowieso …« Der Anführer der kleinen Gruppe überlegte kurz. Er nickte: »Na gut.«

Der Schuss fiel, die Frau brach zusammen und im selben Moment krachte es laut und die Mine explodierte. Der Knall war ohrenbetäubend. Ein Pfeifen hallte noch lange in San Youns Kopf nach. Noch hartnäckiger brannte sich das Bild des zerrissenen Körpers in ihr Gehirn und das Bild, wie die Gruppe einfach weiterging, an der Toten vorbei, sie selbst als erste voran. Denn San Youn war es jetzt, die das Kommando bekam, zusammen mit dem anderen Mädchen vorweg zu gehen und eventuelle Tretminen mit ihren Füßen aufzuspüren oder den ersten Angriffspunkt für Schlangen darzustellen. Denn nun konnte man auf sie am ehesten verzichten. Das war also das Privileg, vorneweg zu gehen.

Sie pirschten weiter, ohne weitere Zwischenfälle. Irgendwann kehrten sie zum Lager zurück, ohne dass San Youn erfuhr, was genau der Ausflug sollte. Von der Frau wurde nicht mehr gesprochen. Noch wochenlang kam der Geist der Toten San Youn in ihren Träumen besuchen. Sie verlangte ihren Körper zurück, verlangte nach ihrem Bein, nach ihrem Fuß. Auch der abgerissene Fuß kam San Youn besuchen. Tagsüber hatte sie immer wieder den Eindruck, überall Füße zu sehen. In Bäumen, unter Büschen, im Feuer.

 

Mit dem einsetzenden Regen gaben die Geister plötzlich Ruhe. Hoch über dem Wald ballten sich die undurchdringlich wirkenden Wolken zusammen, der Monsun brach mit heftigen Gewittern das windstille Schweigen der Hitze und brachte in Strömen sein lebenspendendes Geschenk. Nun würde es fast jeden Tag regnen. Der Regen rauschte in den Blättern hoch über San Youn. Er begoss die Köpfe und durchtränkte die Kleidung. Der Boden wurde schlammig und rutschig. Blitze zogen durch den Himmel und krachend schlug der Donner in San Youns Seele, gefolgt von tiefem Grollen. Normalerweise war der Beginn der Regenzeit ein Fest im Dorf, denn der Regen brachte neue Lebensgeister, machte das Land fruchtbar. Die Luftfeuchtigkeit stieg noch mehr und nach jedem Regenguss stieg der Nebel dampfend und dicht zwischen den Bäumen empor. Hier wurde kaum darauf geachtet. Es wurden lediglich zusätzliche Zelte gebaut.

Auch San Youn ließ den Regen unbemerkt über ihr Gesicht laufen. Sie bekam kaum noch etwas von dem mit, was sie dort tat und erlebte. Es passierte einfach. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr und fühlte auch sonst nichts mehr, nicht, wenn sie Hunger hatte, nicht, wenn man sie schlug. Es war, als wäre sie gar nicht da, sie bemerkte nicht, dass Tage, vielleicht Wochen vergingen. Ob sie schlief oder wach zwischen den dicht gedrängten Körpern der anderen lag, wusste sie nicht. Ob sie etwas aß oder nicht, wusste sie auch nicht.

An einem Morgen wurde sie einem Versorgungstrupp zugewiesen. Früh am Morgen brachen sie auf und mit San Youn voran marschierten sie mehr als einen halben Tag durch den regennassen, dampfenden Wald, fast ohne Pausen zu machen. Die Luft war jetzt so dunstig, so feucht, dass man die einzelnen Tröpfchen in der Luft zu sehen vermeinte. Sie wanderten auf zugewachsenen Trampelpfaden, die nach und nach zu kleinen Wegen wurden und schließlich zu einem größeren Dorf führten. Im Dorf wartete ein Geländewagen. Sie stiegen ein. Erschöpft schaute San Youn während der Fahrt aus dem Fenster.

Hpa-an war die Hauptstadt des Karen-Staates. San Youn hatte davon gehört, war aber noch nie in einer echten Stadt gewesen. Sie suchte nach den Froschskulpturen, die in den Pagoden stehen mussten und die der Stadt den Namen gaben – Hpa bedeutet Frosch. Vielleicht würden die Frösche sie zu buddhistischen Mönchen führen, die gut waren. Von dort könnte sie dann Europäer suchen gehen, die sie nach England mitnahmen. Die Frösche aber ließen auf sich warten.

In einer Seitenstraße hielten die Soldaten und stiegen aus, begrüßten einen Mann und diskutierten über irgendetwas. Der Mann winkte jemandem, den San Youn nicht sehen konnte. Säcke wurden herangeschleppt und zu San Youn in den Wagen geworfen. Die Soldaten gaben dem Mann Geld. Der Mann schaute durch das Fenster und musterte San Youn. Er fragte die Soldaten etwas, es wurde erneut verhandelt. Der Mann bezahlte etwas von dem Geld zurück und legte dem Soldaten eine Flasche Orangenschnaps in die Hand. Der Mann, der Birmanisch mit einem starken Hpa-an-Dialekt sprach und den San Youn nicht verstand, klopfte an die Scheibe und winkte. San Youn schaute fragend zu den Soldaten herüber. Die winkten ihr bestätigend zu. Sie stieg aus, die Soldaten stiegen ein, grüßten den Mann und fuhren davon.

San Youn erschrak. Sie wollte dem Wagen hinterherlaufen, aber dieser Fremde hielt sie am Arm fest. Sie wollte schreien, aber der Wagen war schon fort. Nun war sie allein mit diesem Mann. So sehr sie vor den Soldaten Angst gehabt hatte, sie waren doch vertrauter als dieser Mann und die Stadt. Sie verstand nicht, warum die Soldaten sie hier zurückgelassen hatten. Warum hatte der Mann sie aus dem Wagen gewunken? Regungslos stand sie da. Sein kantiges Gesicht flößte ihr Respekt ein. Ob es freundlich war oder nicht, vermochte San Youn nicht zu sagen. Der Mann führte sie ins Haus. Sie war noch nicht oft in einem Steinhaus gewesen und auch der Straßenlärm war ihr fremd. Die Gerüche waren hier anders. Im Haus führte der Mann sie in einen Waschraum, bedeutete ihr, sich zu waschen, gab ihr ein einfaches Leinenkleid und verschwand. Hier gab es fließendes Wasser, das aus der Wand kam. Es musste ein sehr reiches Haus sein. Vielleicht bekam sie nun doch Hilfe. Dennoch war es ihr unangenehm, sich jetzt waschen zu sollen. Unbeholfen tat sie es. Nachdem sie sich angezogen hatte, rief der Mann sie heraus, brachte sie in ein Zimmer und schloss von außen die Tür ab. Durch die Tür hörte sie ihn kurz darauf mit jemandem sprechen. Seltsamerweise hörte sie den Gesprächspartner nicht. Vielleicht hatte er so ein Telefonding, mit dem man mit Menschen sprechen konnte, die weit weg sind. Davon hatte San Youn schon gehört und auch schon mal eins gesehen. Alltäglich waren diese Dinge aber nicht für sie.

Es war beklemmend in diesem leeren Raum. Warum sind in diesen Häusern die Türen so dick und stark? Und die Wände und der Boden so kalt und hart? Es gab nur ein kleines Fenster, das mit Gitterstäben versehen und mit einem Papier zugeklebt war, sodass gedämpftes Licht hereinfiel. San Youn fühlte sich eingesperrt und bekam wieder Angst. Sie setzte sich auf den nackten Boden und wartete. Erst nach Stunden kam der Mann wieder, mit einer Schale Reis, einer Fischsoße und einer Flasche Wasser und einem Eimer. Der Eimer schien für die Notdurft zu sein, zumindest machte der Mann solche Andeutungen. Kurz darauf war er wieder weg.

Die Zeit verging quälend langsam. Irgendwann schlich die Nacht heran. San Youn konnte nicht schlafen, es gab keine Grillen, es roch nicht nach Wald. Stattdessen drang von draußen Straßenlärm herein. Der Steinboden war kälter als jedes Holz und jede Bastmatte. Die Stunden krochen zäh dahin. Vielleicht würde sie hier in der Stadt einen Europäer treffen, der ihr sagen konnte, wie sie nach Europa gelangen könnte. Und in Europa würde sie sich dann im Wald eine Hütte bauen und Reis pflanzen. Vielleicht gab es dort keine Soldaten, weil die Soldaten vor ein paar Jahren hierher, nach Birma gegangen waren. Vielleicht war Europa ein friedliches Land. So träumte San Youn vor sich hin, um sich von ihrer Angst abzulenken. Jetzt würde sicher alles gut werden.


Wo bist du? Ich suche dich in meiner Wohnung, in meinem Kopf, in meinem Herzen. Alles, was ich finde, ist Sehnsucht. Ich kenne dich so wenig, so flüchtig. Es war so plötzlich, dass du da warst in meinem Leben, stelltest dort alles auf den Kopf, und genauso plötzlich warst du wieder fort. Ich suche nach deinen Spuren, suche in meiner Küche, auf meiner Haut, in jedem Gesicht, das mir auf der Straße begegnet. Ich will dich auch im Rest der Welt suchen gehen. Wenn ich nur wüsste, wo du bist, wenn ich nur wüsste, ob du noch lebst. Dann könnte ich dich holen kommen. Oder könnte wenigstens um dich trauern. So aber weiß ich nicht, wo ich anfangen kann, dich zu suchen.


Bremen, Deutschland, Januar 2006

Lea warf sich auf ihren Küchenstuhl. Wie konnte sie nur so blöd sein! Einer völlig fremden Frau eine romantische Postkarte schreiben mit fast einer Liebeserklärung, obwohl die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie verheiratet war oder zumindest mit einem Mann zusammenlebte. Womöglich noch mit diesem Bullen. Lea stand auf und holte die Karte aus ihrer Jackentasche. Sie schaute den Elefanten an. Das Bild der Haut dieser Frau kam ihr in den Sinn, ihr Hals, der kleine Anhänger aus Stein auf ihrer Brust. Ihr Duft stieg in Lea auf und umhüllte sie, stärker als bei der realen Begegnung. In der kalten Luft hatte sie ihn kaum bemerkt, hatte nur einen flüchtigen Hauch wahrgenommen. Warm, tief und geheimnisvoll. Wie aus einer Welt, die Lea nicht kannte, die groß war, größer als sie es sich vorstellen konnte. Lea schluckte eine Träne herunter. Es war Spinnerei. Nichts als Spinnerei. Sie riss die Karte in der Mitte durch. Derselbe Riss zog sich mit dem scharfen Geräusch des aufreißenden Papiers durch ihr Herz.