Die Farbe von Jade

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Ein paar Tage würde sie sich verstecken müssen. Sie durfte nicht sofort zurück. Ob wohl das ganze Dorf zerstört war? Vielleicht war es nur ein kleiner Überfall von ein paar Soldaten gewesen, die zufällig in der Nähe waren. Vielleicht würde Mi Mi auch wieder warm werden, vielleicht …?

San Youn wusste, dass sie sich da selbst kindisch belog. Sie hoffte nur inständig, dass sie ihre Schwestern finden würde. Und wenn sie sie nicht fand? Wenn sie noch lebten, waren sie vielleicht bei den Tatmadaw, den Regierungssoldaten. Von denen musste San Youn sich auf jeden Fall fern halten, denn die würden mit ihr das tun, was sie mit der Mutter getan hatten. Ob hingegen die Geister des Waldes sie lange schützen würden, das wusste sie auch nicht. Sie musste nachdenken, musste klug sein wie ihre Mutter. Jetzt, wo sie allein war, musste sie ganz erwachsen sein. Hier war sie nicht mehr die Jüngste, sondern die Einzige. Sie konnte nicht länger die kleine, die Mi San Youn sein, von jetzt an musste sie Ni San Youn sein, die starke San Youn.

Um vor Kriech- und Raubtieren wenigstens ein wenig sicherer zu sein, kletterte sie auf einen abgebrochenen, morschen Baum und klemmte sich so zwischen die holzigen Lianen, dass sie nicht herunterfallen konnte. Dort auf dem Baum fiel sie in einen halbschlafähnlichen Zustand. Ob sie schlief oder wachte, wusste sie nicht. Sie sah und hörte nichts mehr. Der Wald um sie herum lebte und deckte sie mit seinen tausend Stimmen zu.

Irgendwann erwachte im aufsteigenden Nebel der Tag-Wald und der Nacht-Wald ging zur Ruhe. San Youn kletterte aus ihrem Versteck. Sie war durstig. Wasser, sie musste Wasser finden. Während sie umherstreifte, las sie Raupen, Ameisen, Grillen und Samen auf und steckte sie sich in den Mund. Als sie einen Bach fand, trank sie gierig. San Youn versuchte, die Wunden an ihren Füßen auszuwaschen, die Wurzeln und Dornen bei ihrer unachtsamen Flucht hineingerissen hatten, zog kleine Holzsplitter aus der Haut und spuckte auf die wunden Stellen, um sie ein wenig zu desinfizieren. In der Nähe des Baches hielt sie nach einem Versteck Ausschau, das ihr den bestmöglichen Schutz bot. Sie fand eine enge Höhle im Hohlraum eines älteren Banyan, einer Würgefeige. Dieser Baum bestand aus dichten Wurzeln, die bis in den Himmel aufragten und einst einen anderen Baum umschlungen hatten, bis dieser abgestorben war. Nun war der einstige Baum in der Mitte verrottet und der Innenraum, den die Feigenwurzeln umschlangen, war leer. Farne und andere Pflanzen umwucherten das Wurzelgerüst. San Youn kroch halb hinein und wischte mit einem Stock die Spinnweben herunter, suchte die Wurzelhöhle nach Giftspinnen und Schlangen ab. Sehr sicher war dieses Versteck nicht, aber auf dem Boden zu schlafen, war wegen der Skorpione noch gefährlicher. Die Angst schnürte sich wie eine Schlinge um ihren Hals. Sie musste jetzt tapfer sein. Bisher hatte sie überlebt. Sie wollte nicht sterben, doch wenn es so käme, dann lieber durch eine Schlange als durch die Soldaten. Aus einem Dickicht schnitt sie in mühseliger und kraftraubender Arbeit ein paar Zweige und Lianen und flocht sie als eine Art Hüttenboden waagerecht in den Hohlraum der Feige. Um das Versteck zu tarnen, stopfte und klemmte sie Farne und belaubte Zweige in die Lücken der Wurzelwand. Mechanisch verrichtete San Youns Körper die Arbeit, mechanisch stellte sie ihre Überlegungen an. Ihre Seele war nicht anwesend. Sie musste auf dem Feld zurückgeblieben oder im Wald verloren gegangen sein.

Ihre Spuren, die zu diesem Versteck führten, versuchte San Youn zu verwischen. Sie kletterte hinein und dann begann das Warten. Sie lauschte, ob sie Menschen hörte. Ihre Schwestern oder Soldaten. Lauschte dem Schreien verborgener Tiere, horchte auf das Knistern und Summen der Insekten und das leise Fallen einzelner Blätter. Versuchte, aus den zahllosen Gerüchen des Waldes, die Tag und Nacht wechselten, eine Botschaft zu lesen, frisch, modrig, scharf, süßlich. Gelegentlich flogen Schmetterlinge vorbei, bunt und formenreich. Bei jedem Schmetterling fragte sie sich, ob er ein Bote war, ein Bote ihrer Schwestern. Denn diese hatten ihr erzählt, dass Schmetterlinge gute Nachrichten überbringen konnten. Doch keiner kam zu ihr ins Versteck.

Am nächsten Tag waren Hunger und Durst so groß, dass sie hinauskriechen musste. Sie trank vom Bach, suchte zum Essen unter der Erde liegende Sprossen und Triebe und Früchte, die Affen fallengelassen hatten. Bei jedem Geräusch, bei jedem Knacken und Knistern erschrak sie. In einem Bodennest fand sie Vogeleier, die sie gierig verschlang. Aber sie aß nicht das ganze Gelege. Sie wollte den Wald nicht verärgern. Sie war auf seine Hilfe angewiesen. Weit ging sie nicht und als sie zu ihrem Versteck zurückkam, verwischte sie ihre Spuren so gut es ging, schlüpfte dann eilig hinein, lag einfach da, zusammengekauert in dieser Mulde aus Zweigen, Wurzeln und Farnen im Inneren des Banyan und lauschte.

Unendlich langsam verstrichen die Stunden. San Youn schlief ein, wachte irgendwann wieder auf. Nichts hatte sich geändert. War das alles wirklich geschehen? War es nicht doch nur ein Traum? Sie schaute aus ihrem Versteck. Blätter fielen, Insekten summten, sonst gab es nichts. Als sei sie der einzige Mensch auf der Welt. Vielleicht war das ja nur eine Prüfung. Vielleicht musste sie hier nur eine Weile ausharren und dann könnte sie wieder zurückkehren. Ihre Mutter würde sie umarmen, ihr Reis geben mit Chili oder es gäbe dann vielleicht sogar Kokosnuss und Bananen. Alle wären sie da. Mi Mi, Aung Ni, Nu Kaung und San Kyi und die Zebu-Kuh. Vielleicht hatten sich Nu Kaung und San Kyi auch nur versteckt und kamen sie gleich holen. Dann hatte sie die Prüfung bestanden. Sie musste ja lernen, sich zu verstecken und sich zu schützen vor den Regierungssoldaten, den Tatmadaw. Vor denen hatten sie alle Angst. Auch Mi Mi. Noch mehr als vor den wenigen scheuen Raubtieren.

San Youn hörte plötzlich die Stimme ihrer Mutter. Sie hatte damals gelauscht, als Mi Mi abends mit den Nachbarn und der Dorfältesten zusammengesessen hatte:

»Selbst die großen Tiger vergewaltigen niemals«, sagte Mi Mi. »Sie schießen niemals und greifen nicht in Gruppen an. Sie töten nicht aus Hass. Wenn sie Angst haben, laufen sie weg und schießen nicht. Raubtiere töten nur, um zu fressen. Oder um ihre Kinder zu beschützen.«

Jemand sagte: »Das tun unsere Soldaten auch.«

Mi Mi seufzte: »Jaja, es gibt gute und schlechte Soldaten. Die guten sind immer die des eigenen Volksstammes.«

Ein älterer Mann schlug mit der Hand auf den Boden. »Die Milizen der Karen vergewaltigen nicht. Sie schießen nur, weil es sonst noch mehr Tote gibt! Die Tatmadaw werden uns alle töten. Sie zerstören die Dörfer, klauen Kinder und Frauen und schlachten uns ab wie Vieh. Das muss aufhören. Die Militärregierung beleidigt und zerstört das ganze Land. Dieses Land war einmal eines der reichsten Länder Asiens. Jetzt haben sie es zu einem der unterentwickeltsten Länder überhaupt gemacht. Die Welt schaut auf uns herab und wir verhungern!«

Ein jüngerer Mann nickte. »Wenn man nicht zurückschießt, werden wir bald alle tot sein und in kürzester Zeit auch andere Volksgruppen.«

Mi Mi nickte zustimmend: »Ja, es ist schlimm, was die Regierung tut. Deshalb dürfen wir aber nicht auch etwas Schlimmes tun.«

Die Dorfälteste meldete sich zu Wort. »Wie stellst du dir das vor?«

»Einen Menschen darf man nur dann erschießen, wenn man ihn ganz genau kennt«, sagte Mi Mi bestimmt. »Wenn man weiß, wovor er Angst hat und was er sich wünscht. Wenn man das so macht, kann und will man kaum noch jemanden erschießen.«

Ein dritter Mann lachte über sie. »Wenn du so klug bist, schreib deinen Mist doch auf.« Er wusste, dass sie nicht schreiben konnte.

Da nahm Mi Mi einen Zweig und malte in die Erde zwei Menschen. Jeden mit einem Maschinengewehr und einem Herz. Dann sagte sie: »Beide sind aus derselben Erde, mit demselben Zweig gezeichnet. Sie haben zwei Dinge bekommen, ein Gewehr und ein Herz. Nun müssen sie sich entscheiden, was sie damit machen wollen.«

Der Mann, der über sie gelacht hatte, schlug ihr ins Gesicht. Die Dorfälteste aber nickte lächelnd.

San Youn erwachte wieder aus ihren Träumen. Mi Mi würde sie niemals so lange in den Wald schicken. Auch nicht, um sie zu prüfen. Sie wollte weinen, wollte schreien, traute sich aber nicht, wollte keine Geräusche machen. So nahm sie ein Stück Holz und biss darauf.

Der Tag wollte und wollte nicht vergehen. Und die Nacht, als sie endlich hereingebrochen war, erst recht nicht. San Youns Beine und Füße waren blutig und wund von zahllosen Zweigen und scharfen Blatträndern. Sie fror, obwohl es nachts sehr warm und schwül war. Die Kälte kam von innen. Bauchschmerzen plagten sie. Vielleicht war es das Wasser vom Bach. Dieses Wasser konnte krank machen. Es lebten winzige, unsichtbare Geister darin. Vielleicht kam das Bauchweh auch von den unbekannten Blättern, die sie hin und wieder aß oder von den ungekochten Insekten. Oder es war die Angst. Oder böse Geister, die umhergingen. Sie hatte ihre Mutter und den Bruder im Stich gelassen. Wie sehr wollte sie wenigstens nach Mi Mi rufen, es ihr erklären, sie um Vergebung bitten. Aber das durfte sie nicht, musste leise sein, musste erwachsen sein. Wo wohl Nu Kaung und San Kyi waren? Und die Zebu-Kuh? Ob die Soldaten die Kuh auch töten würden? Ob sie sie mitgenommen hatten? Ob sie wohl gut zu ihr waren? Der Wald flüsterte wieder. Nun hörte sie Buschmesser, unentwegt, und Schritte. Sie waren überall.

Die Buschmesser wüteten die ganze Nacht. San Youn hatte kein Zeitgefühl mehr. Nun blieb sie in ihrem Banyan, halb wachend, halb schlafend, halb ohnmächtig. Irgendwann konnte sie die Geräusche der Schritte und Buschmesser nicht mehr ertragen. San Youn verließ ihr Versteck – endlich, nach endlosen Stunden, die zäh und langsam durch vier Tage und Nächte gekrochen waren. Sie wollte nach Hause, wollte aus dieser Höhle heraus, die ihre Haut zerschnitt und sie nicht richtig schützen konnte. Sie hatte Hunger, wurde immer schwächer und ihr Geist verlor seine Richtung. Sie wollte weg. Wollte weglaufen. Einfach gehen. Einfach nur gehen. Sonst wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es zog sie Richtung Dorf. San Youn suchte sich den Weg zurück durch die dichte Vegetation. Sie kam nur langsam voran, arbeitete sich durch das Gewirr von Lianen, Wurzeln und Ästen, immer darauf bedacht, Schlangen und anderen gefährlichen Waldgeistern aus dem Weg zu gehen. Die Schritte der Soldaten schienen ihr stetig zu folgen, immer unsichtbar, immer da.

 

Es dauerte, bis sie das Dorf wiederfand. Im Dickicht des Waldrandes versteckte sie sich. Sie lauschte. Es gab kein Geräusch. Vorsichtig schlich sie sich näher. Die Hütten waren zerstört und ausgeplündert. Der Geruch von Tod hing schwer in der Luft. Keine Menschenseele war da. Keine Kuh und auch sonst kein lebendiges Wesen. Bis sie doch jemanden entdeckte. Zuerst sah sie nur das schmutzige Kleid, das die Frau trug, dann ihr Gesicht. Es war die Dorfälteste, die da halb unter der herausgerissenen und zertretenen Bambustür ihrer Hütte lag. Sie war einundsiebzig Jahre, so alt, wie kaum ein Mensch wird. Sie war unglaublich klug, kannte viele Heilkräuter und wenn man einen Rat brauchte, fragte man sie. Man hatte Respekt vor ihr und ihrem Alter. Jetzt krochen Fliegen aus ihrem offenen Mund, und Maden, ihr Kiefer war seltsam schief und ihre Haut hatte eine bläulich graue Farbe. Sie würde jetzt ein sehr böser Geist sein, der viel Kraft hatte. San Youn konnte sich kaum regen. Übelkeit schnürte ihr den Atem ab. Sie zwang sich weiterzugehen, sie musste zu ihrer Hütte, auch wenn sie sie von hier schon sehen konnte. Die Stützpfosten waren zerstört und die Hütte lag eingestürzt auf dem Boden. San Youn blieb vor der Ruine stehen und begann, leise nach ihren Schwestern zu rufen, den Blick starr auf die Reste der Hütte gerichtet. Da lagen unter den langen, trockenen Nipapalmblättern, die einst das Dach gebildet hatten, der graue Reibstein und die zerbrochene Reibschale, und der Kessel zum Kochen. San Youn nahm sich zusammen und versuchte, in den Trümmern noch etwas Brauchbares zu finden. Ein Buschmesser, etwas Essbares. Aber alles, was brauchbar gewesen wäre, war fort. Sie kehrte um, wollte in den Wald zurück. Als sie wieder an der Leiche der alten Frau vorbeikam, blieb sie stehen. »Dem Dorf kannst du jetzt nicht mehr schaden«, dachte sie. »Aber hierbleiben möchtest du sicher auch nicht.« Sie wollte schreien, um den Geist der Alten fortzuschicken. Aber es wollte kein Laut aus ihrer Kehle kommen. Sie tastete nach dem steinernen Elefanten auf ihrer Brust. Wo waren nur Nu Kaung und San Kyi? Wo waren die Dorfbewohner?

Sie war alt genug, um zu wissen, was mit den Dörfern passierte. Nur nicht alt genug, um es zu verstehen. Mi Mi hatte gesagt, dazu ist niemand alt genug. Nicht einmal die Elefanten. Nicht einmal Schildkröten. Die Flüchtlingslager waren völlig überfüllt. Schlimme Arbeit musste man dort machen oder man wurde getötet oder geschändet. Und oft wurden Menschen verschleppt. So wie ihr Bruder damals. Und deshalb schießen die Karen zurück, die Shan und alle anderen, jeder schießt auf jeden.

»Und jeder Schuss macht noch mehr Schüsse, die dann von der anderen Seite kommen«, hatte die Mutter gesagt, als sie mit den Nachbarn zusammensaß.

»Du kannst das ja gar nicht beurteilen«, sagte eine Frau zu ihr.

Mi Mi nickte dazu. »Das stimmt.« Dann hatte sie zu weinen begonnen. »Ich hasse jeden, der ein Gewehr in der Hand hält.«

Jemand sagte: »Dein eigener Sohn, dein Ältester, den haben sie doch auch. Der hält jetzt wahrscheinlich auch ein Gewehr in der Hand.«

Mi Mi antwortete nicht.

»Also ist es doch richtig, zu schießen«, behauptete ein Mann.

Mi Mi stand auf und sagte nur leise: »Wie ihr meint. Gott hat es uns in die Hand gelegt. Uns allen. Und jeder muss nun sehen, was er damit macht.«

Die Leute sagten oft, Mi Mi tue nur so, als sei sie klug, aber in Wahrheit sei sie zu dumm, um so etwas zu wissen. Manche hatten sie für verrückt erklärt.

San Youn war jetzt die Älteste. Sie war jetzt ihre Mutter. Sie versuchte, die Mutter in sich zu finden und die alte, weise Frau. Versuchte, sie zu befragen. Wie lange konnte sie im Dschungel überleben? Und was könnte sie retten? Was sollte sie tun? Im Wald konnte sie nicht ewig bleiben. Wo sollte sie hin? Nach Europa, kam es ihr in den Sinn. Und jetzt fiel ihr plötzlich auf, dass ihre Mutter sie all die Jahre darauf vorbereitet hatte: Sie sollte nach Europa. Aber wo lag Europa – und wie reiste man um die Welt? Im Süden und im Westen solle das Meer sein, hatte die Mutter ihr gesagt. Und nach Europa komme man am besten durch die Luft oder mit einem Schiff. Wenn aber das Meer im Süden ist und Europa im Norden – wie sollte sie dann mit einem Schiff dorthin kommen? Und hier in den Wäldern gab es keine Flugzeuge. Die gab es in der großen Stadt, in Rangun. Die war im Westen und man musste ein großes Stück Meer umwandern, um dorthin zu kommen. Und da war das Militär. Doch vielleicht auch ein paar Europäer, die dort Reis einkauften und die sie mitnehmen konnten. Mi Mi hatte San Youn auf Europa vorbereitet. »One, two, three, four, five …«, so hatte sie ihr Englisch beigebracht, »six, se-ven«. San Youn hielt den Elefanten auf ihrer Brust fest und schaute sich hilflos um. »Eight, nine, ten and then e-le-ven …« Sie sprach ängstlich den Zählreim vor sich hin und die Wörter, die sie gelernt hatte, suchte nach den Wörtern wie nach einer schützenden Hand. »Rice, coconut, thank you, love«, sie ging zögerlich zurück durch das Dorf in die andere Richtung, Richtung Westen, »yes, no … fish … yes, no …« Aber wie man ein Flugzeug finden kann, das wusste sie nicht.

Wieder kam sie an ihrer zerstörten Hütte vorbei. Sie blieb stehen. Dann verließ sie der Mut. Sie kauerte sich auf den Boden in der Ruine, zog ein paar Palmblätter des eingestürzten Daches über sich und rollte sich ein. Die zerbrochene Reibschale nahm sie fest in den Arm und endlich lösten sich die Tränen. Erst Stunden später, als sie sich völlig müde geweint hatte, ihre Augen brannten und keine Tränen mehr da waren, schlief sie ein.

Bremen, Deutschland, 2005

Lea trug weiterhin die Post aus, bei Sonne, bei Regen und bei Wind. Hinter der Gardine war es still geworden. Manchmal bildete sie sich noch ein, hinter dem Fenster einen Schatten zu sehen, aber sie schaute kaum noch hin. Es wurde Herbst, es kam der lange November, der Januar. Das Jahr 2006 war angebrochen. Monate waren ins Land gezogen. Die Tage waren kürzer geworden und die Abende unendlich lang. Eigentlich wurde es zurzeit gar nicht erst hell, zumindest fühlte es sich so an.

Ein kalter Wind blies ihr den Regen ins Gesicht und die Hände wurden klamm. An diesem Nachmittag stand das Tor des Hauses Starrenberg wieder offen. Lea überlegte, ob sie die Post weiterhin hier am Tor in den Kasten werfen sollte oder in den Kasten direkt am Haus. Sie entschloss sich für den Kasten am Tor. Mit steifgefrorenen Fingern fasste sie nach den Zeitungen in ihrer Wagentasche und zog dabei versehentlich ein paar andere Zeitungen mit hinaus, die unversehens auf das nasse Pflaster klatschten. Natürlich musste genau in diesem Moment der Wind auffrischen und in die Zeitungen greifen. Lea fluchte in ihre Kapuze hinein, die sie fest um den Kopf gezogen hatte, und sammelte die Zeitungen auf. Sie stapfte ungelenk hin und her und raffte die Zeitungsblätter zusammen, legte sie gegen den Willen des Windes wieder zurecht. Hoffentlich waren sie nicht allzu schmutzig geworden. Sie hatte nämlich keine Lust, sich eine Beschwerde einzufangen. Plötzlich nahm sie dicht hinter sich einen Schatten wahr. War ja klar. Jetzt musste auch noch der Starrenberg ihr begegnen und sie bei einem solchen Missgeschick erwischen. Abrupt drehte sie sich um. Hinter ihr stand eine Frau, die sich eingepackt hatte wie ein Yeti und aus deren Kapuze heraus Lea ein Blick traf, der ihr die Knie weich werden ließ, tief und unergründlich, jener Blick, den sie versucht hatte, zu vergessen.

»Verzeihung«, stammelte Lea und ging einen Schritt zur Seite, um ihr mehr Platz zu machen. Dabei war da genug Platz. Die Frau stand still wie ein Baum bei Windstille und schaute Lea an. Lea schluckte, stammelte ein unschlüssiges »Guten Tag«. Ihre Stimme war plötzlich belegt. »Na, wieder da?« Lea hasste sich für diese blöde Frage. Was sollte die andere denn antworten – nein, ich bin nur eine Erscheinung? Außerdem mischte sie sich mit dieser Frage schon wieder ein.

Die Frau senkte den Kopf. »Ja«, sagte sie kaum hörbar. Kurz darauf schaute sie verstohlen wieder auf und lächelte. »Danke. Für Karte.« Ihre Stimme war leise und warm. Sie hatte einen starken Akzent.

Lea konnte im ersten Moment nicht antworten. Dass die Frau sofort an die Karte dachte, wunderte Lea, immerhin war das jetzt schon fast ein halbes Jahr her. »Gern«, sagte sie und lächelte unsicher. Die Frau wirkte gar nicht so abweisend, wie Lea es vermutet hatte. Ganz im Gegenteil. In Lea regte sich der Impuls, nach ihrem Namen zu fragen. Der feige – oder auch vernünftige – Teil in Lea stellte sich eifrig dagegen. Sie überlegte, ob es nicht eine unverfängliche Frage gab, die sie stellen könnte, denn sonst wäre es jetzt eigentlich an der Zeit zu gehen. Und sie stellte fest, dass sie das nicht wollte. Sie wollte noch mit dieser Frau sprechen, wollte herausfinden, wer sie war, wollte wissen, ob sie tatsächlich für den Herrn Starrenberg nur arbeitete, oder ob da noch mehr war – wollte eigentlich nur in ihrer Nähe sein. »Sagen Sie, soll ich die Post hier am Tor einwerfen oder am Haus?« Die Frau schien die Frage nicht zu verstehen. Lea zog einen Brief aus dem Wagen und zeigte auf die beiden Briefkästen. »Post – da oder da?«

Die Frau zögerte und wies auf den Kasten am Tor: »Da.« Dann lächelte sie verschwörerisch und zeigte auf den anderen Kasten, direkt am Haus. »Nein, da.«

Über Leas Gesicht zog sich unwillkürlich auch ein breites Lächeln. »Gut«, sagte sie. »Also bis bald.« Sie gab sich innerlich einen Tritt in den Hintern, um zu gehen.

Während sie über das Kopfsteinpflaster durch die Weiden fuhr, konnte sie nicht umhin, innerlich vor Freude zu hüpfen, ohne so genau zu wissen, warum. Darüber, dass sie der Frau endlich doch begegnet war, dass sie mit ihr gesprochen hatte? Darüber, dass sie noch einmal so einen Blick bekommen hatte? Darüber, dass die Fremde sich noch an die Karte erinnerte? Darüber, dass sie die Briefe bis ans Haus bringen durfte? Letzteres war doch vollkommen albern. Was machte es schon für einen Unterschied! Die Frau hatte sie nicht auf größtmöglichem Abstand gehalten. Das war der Unterschied. Na und? Lea war ja nicht … Nein, das konnte ja nicht sein, das wäre ja Blödsinn, sie konnte nicht … Sie grinste glücklich in sich hinein und musste gleichzeitig über sich lachen und mit sich schimpfen, denn sie war es offensichtlich doch – verliebt. Zumindest ein wenig.

Zu Hause kochte Lea sich eine Riesenportion Nudeln. Während sie die Tomaten schnitt und im Hintergrund Mercedes Sosas voluminöse Stimme sang, grinste sie immer noch zufrieden. Nein, das war doch sinnlos. Sie sollte sich das ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Als sie den Knoblauch hackte, dachte sie an das Lächeln dieser Frau. Sie war vielleicht unsicher, darunter allerdings schimmerte eine enorme Stärke durch. Und Verletzlichkeit. Vielleicht auch Verletztheit. Das Basilikum ließ traurig die Blätter hängen. Wo sie wohl herkam? Nein, Quatsch, das war doch völlig egal. Außerdem war sie wahrscheinlich mit diesem blöden Typen zusammen. Okay, er hatte Lea nichts getan. Vielleicht war er ja gar nicht blöd. Wenigstens hatte sie noch gefrorene Kräuter im Tiefkühlfach. Möglicherweise war sie ja auch verheiratet und hatte tausend Kinder. Ach Scheiße. Das Olivenöl breitete sich langsam in der Pfanne aus. Was wohl die Muttersprache der schönen Fremden war? Lea dünstete den Knoblauch und die Tomaten kurz an und mischte die Kräuter unter. Als sie aß, saß die Frau mit ihr am Tisch, Lea sah ihren unergründlichen Blick, hörte ihre warme Stimme und suchte nach Antworten.

Es wurde Montag. Leas Herz begann zu hämmern, als sie auf das Haus Starrenberg zuging. Hoffentlich war er nicht da. Hoffentlich war sie da. Herr Starrenberg war ihr irgendwie unangenehm. Lea warf ganz langsam den ersten Brief in den Kasten an der Haustür. Irgendeine Werbung. Sie ließ den Briefkastendeckel geräuschvoll zufallen, bevor sie gemächlich in den Wagen griff und nachschaute, wo denn nur der zweite Brief und der andere Werbemüll war, der in diesen Kasten gehörte. Heute war es viel. Natürlich hatte sie das sofort überprüft, als sie den Postberg sortiert hatte. Sie hatte sogar noch einen Bonus an Werbematerial dazugegeben.

 

Endlich regte sich was am Fenster. Die Gardine wurde zurückgeschoben und das Gesicht der bezaubernden Fremden erschien. Sie lächelte und winkte. In ihrem Blick lag Wehmut. Lea schmolz förmlich dahin und musste aufpassen, dass sie nicht eine Pfütze vor der Haustür bildete, einen kleinen See aus Entzücken. Warum kam die Frau nicht heraus, warum nahm sie die Post nicht persönlich entgegen, wenn sie schon zum Fenster kam? Wie auch immer, ihr Lächeln war einfach mehr als Gold wert. Auch am folgenden Tag winkten sie sich nur durch das Fenster zu und am nächsten und am übernächsten auch. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, naja, einen halben Meter oder doch eher einen ganzen. Jedenfalls viel zu weit. Und immer war da diese Glasscheibe zwischen ihnen.

Lea hielt es einfach nicht aus. Entgegen aller Vernunft schrieb sie eine neue Postkarte: »Sie sind für mich wie eine Gazelle in der Nacht: schön, flüchtig – geheimnisvoll. Doch auch das Bild auf dieser Karte passt zu Ihnen: sanft, aber zugleich stark, wie jemand, der nicht vergessen kann.« Auf der Karte war ein Elefant.

Vor dem Haus klapperte sie mit dem Briefkastendeckel. Ihr Herz klapperte mindestens genauso laut. Als das Gesicht erschien und die Frau ihr winkte, hielt Lea die Karte ans Fenster. Die Augen der Frau senkten sich auf das Bild, sie wirkte erst erschrocken, dann erfreut. Sie verschwand. Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür. Leas Herz machte einen Sprung. Die Frau stand im Türrahmen und begrüßte sie mit leiser Stimme. »Guten Tag … Was ist das?«

Lea hielt ihr die Karte entgegen. »Ein Elefant«, sagte sie und biss sich sofort auf die Zunge. Warum gab sie so eine blöde Antwort, die Frau war ja nicht blind!

»Was?«

»Äh, Elefant. Wir nennen das Elefant. Naja, das wissen Sie sicher schon.« Lea atmete durch, gerade noch gerettet.

Die Frau betrachtete die Karte in Leas Hand. Dann öffnete sie ihre dunkelbraune Strickjacke, die sie bisher fest um sich geschlungen hatte, und gab damit ihren Hals und den Ansatz ihres Dekolletés frei. Ein leiser Duft ging von dieser Frau aus, kaum greifbar. Geheimnisvoll und weich. Ein Duft, der viele Geschichten in sich barg. Lea schluckte. Ihr Blick glitt den zarten, sehnigen Hals herunter, die Wollränder der Jacke entlang, über die Schlüsselbeine und die Schnüre eines Lederbandes bis zur Brust der Fremden. Dort hing ein kleiner graugrüner Stein, unbehauen und ungeschliffen.

»Elefant«, sagte die Frau und versuchte damit, das Wort auf Deutsch zu wiederholen. Ihre Stimme war leise und zurückhaltend, klang wie ein Stück losgelöste Borke im Herbst. Wie rauer Samt, wie ein Ausschnitt eines großen Tuches, unter dem sich Dinge verbargen. Lea schaute etwas genauer hin und versuchte, sich nicht von der warmen Haut der Frau ablenken zu lassen. Der Stein sah tatsächlich wie ein Elefant aus. Die Frau lächelte, aber ihr Lächeln schien aus einer tiefen Trauer zu kommen.

Lea schaute in das wehmütige Gesicht. »Woher ist dieser Elefant?«

Die Frau legte ihre Hand auf den Elefanten. »Elefant aus … Asien. Aus Birma. Ist Geschenk. Zum Schutz vor Tod.«

»Und? Hat er Sie beschützt?«

Die Frau nickte verhalten. »Ich habe Mann kennengelernt. Guter Mann.«

Lea rutschte das Herz in die Hose. Sie schluckte. War ja klar.

Die Stimme der Frau klang nun wie aus weiter Ferne. »Hier Arbeit. Gute Arbeit. Das gut.«

Lea lächelte gezwungen. »Das freut mich.« Sie ließ die Postkarte in ihrer Hand sinken. Jetzt schämte sie sich dafür. Sie sollte sie ihr nicht mehr geben. Wie konnte sie nur so blöd sein!

Die Frau schaute zu der Karte herunter. »Karte für mich?«

Lea heftete ihren Blick an die Hauswand, als sie log. »Nein, nein, die ist für jemand anderen. Ich fand das Bild so schön. Ich wollte es ihnen nur zeigen. Ich … mag Elefanten.«

»Schön, ja.« Die Frau nickte. »Elefanten gut. Hier keine Elefanten. Hier komische Kühe.«

Lea lächelte gequält. »Ja, hier komische Kühe«, und in Gedanken ergänzte sie, ich zum Beispiel. »Ich muss jetzt weiter. Tschüss.« Lea drehte sich um und ging. Im Gehen steckte sie die Karte wieder ein und ging wie auf Glatteis ihren Botengang beenden.

Südost Birma, Ende Mai 1996

Als San Youn erwachte, lag sie auf einer Bastmatte im Wald. Das Blätterdach war hier dünner als da, wo ihr Versteck war. Einige Bäume waren kahl. Das Dorf war verschwunden. Dafür roch es nach Feuer und gegrilltem Fleisch. San Youn schrak hoch, sah fremde Menschen. Sie trugen Uniformen. Schnell legte sie sich wieder hin und stellte sich schlafend. Schritte näherten sich. »Wach auf«, sagte eine Stimme über ihr, jemand schüttelte sie, dann bekam sie ein paar Ohrfeigen. Langsam und widerstrebend öffnete sie die Augen. Eine junge Frau in einer Soldatenuniform saß neben ihr und hielt sie an den Schultern. Sie hatte kurzes, struppiges Haar, das ihr spröde wie Stroh vom Kopf abstand. »Setz dich auf, iss was.« Sie half San Youn, sich aufzurichten. Dann reichte sie ihr eine kleine Schale mit Reis. »Iss.« San Youn hatte schrecklichen Hunger. So Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und kaum etwas aufnehmen wollte. Außerdem war ihr übel vor Angst. Trotzdem gehorchte sie und zwang sich zu essen. Langsam rollte sie den Reis zu Bällchen und schob ihn sich in kleinen Häppchen in den Mund. »Da«, sagte die Frau und gab ihr einen gegrillten Frosch. »Du musst zu Kräften kommen.« San Youn nahm das Holzstäbchen, auf dem der Frosch steckte, und nagte vorsichtig Stück für Stück das Fleisch herunter.

Ängstlich schaute sie sich um. Die Schlafstelle, auf der sie lag, bestand aus zwei nebeneinanderliegenden langen Baumstämmen, über die dicke Zweige gelegt waren, sodass sie etwas erhöht über der Erde lag. Da waren Zelte und Leute saßen um ein Feuer. Sie aßen ebenfalls. Es waren Erwachsene und auch Kinder. Viele trugen Uniformen und Gürtel, an denen Handgranaten hingen und fast alle hatten ein Gewehr auf dem Rücken. Auch die Kinder. San Youn erschrak. Ob sie jetzt auch schießen musste? Die Mutter hatte es ihr doch verboten. San Youn fragte sich, ob Nu Kaung und San Kyi auch da waren und suchte zwischen den fremden Rücken und Gesichtern ihre Schwestern. Doch es gab niemanden, den sie kannte. Sie spähte nach den Kennzeichen auf den Uniformen – wenigstens waren es die Soldaten der Karen. Erleichtert atmete sie auf. Vielleicht war sie jetzt gerettet, vielleicht würden die Soldaten sie nach Europa bringen. San Youn schaute auf ihren Reis. Ohne Mi Mi wollte sie nicht nach Europa. Wieder wollten Tränen in ihr aufsteigen, blieben aber in einem Kloß in der Kehle stecken. Niemand beachtete sie. Ob sie weglaufen sollte? San Youn rollte nervös den Reis zwischen ihren Fingern und schluckte trocken.

Bald wurde es dunkel und einige Kinder kamen auf San Youn zu. Ohne sie zu beachten, breiteten sie Bastmatten auf dem Schlaflager aus und legten sich in einer langen Reihe neben sie. Die Kinder sahen seltsam aus, ihre Gesichter waren ausdruckslos. San Youn konnte nicht sehen, ob sie traurig waren oder böse. Es waren Gesichter, die nicht zu Kindern passten. Sie mussten erwachsen sein für den Krieg, doch wirklich Erwachsene schießen nicht, hatte Mi Mi gesagt. Weil wenn man erwachsen ist, wirklich erwachsen und nicht nur alt, dann weiß man, dass man sich damit nur selber schadet, dass es keinen Sinn macht zu töten. Bald waren alle eingeschlafen. San Youn wagte nicht, sich zu bewegen. Grillen sangen das Nachtlied des Waldes, sie hörte vielfaches Schnarchen. San Youn lauschte, bis auch sie endlich wieder einschlief.