Vom Angsthasen zum Liebesküken

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„Ich kümmere mich um ein Abspielgerät für dich“, versicherte ich ihm, als ich die CD für ihn auf den Tisch in seinem Zimmer legte und mich von ihm verabschiedete.

Am Abend stand ich mit dem Lidschattenpinsel in der Hand vor dem Spiegel in meinem Badezimmer und ließ zufrieden pfeifend die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren. Ich empfand es als äußerst beglückende Erfahrung, mich frei von Zeitdruck und Terminen ausschließlich der Stimme in meinem Innern hinzugeben und ihr zu folgen. In einer knappen Stunde war ich mit Philippe verabredet, um mit ihm in Alims Bistro seinen Geburtstag ausklingen zu lassen. Mit etwas Wimperntusche setzte ich abschließend meine Augen in Szene und warf mich dann in ein Outfit, das meine schlanken Beine betonte und gleichzeitig mein kleines Bäuchlein kaschierte.

Wenig später saß ich bei Alim am Tresen, da informierte mich ein Piepsen über den Erhalt einer SMS auf meinem Handy. Ich öffnete die Nachricht.

„Ich gehe mit den Kollegen noch etwas trinken und nehme einen Zug später. Bis gleich! Philippe.“

Er würde sich also verspäten …

Beim Lesen von Philipps Nachricht zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen, was ich zuerst nicht deuten konnte und dann als Enttäuschung darüber verbuchte, dass er es vorzog, an seinem Ehrentag den Feierabend mit seinen Arbeitskollegen zu verbringen anstatt mit mir. Doch ich schob meine Eifersucht beiseite und entschied, die Zeit dafür zu nutzen, „ungestört“ mit Alim zu philosophieren, denn die Gesprächsthemen, denen wir uns am liebsten widmeten, interessierten Philippe ohnehin kaum.

Als Philippe am späteren Abend eintraf, verschlechterte sich meine Gemütsverfassung innerhalb kurzer Zeit rapide. Die hohe Schwingung, in der ich seit meinem Besuch bei Kaya nahezu durchgehend verweilt hatte, sank plötzlich spürbar ab. Stattdessen ergriff ein anderes Gefühl Besitz von mir und ließ mich an dem Gespräch, das ich bis dahin mit meinem Sitznachbarn am Tresen geführt hatte, nur noch mit großer Mühe teilhaben. Mit der massiven Angst, die plötzlich in mir aufstieg, war ich kaum noch in der Lage, meinem Gegenüber zuzuhören, sodass ich das Gespräch beendete und mich stattdessen Philippe zuwandte. Doch auch ihm gegenüber fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, so beschäftigt war ich mit dem plötzlichen Gefühlschaos in mir. Als Folge eines mir noch unbekannten Auslösers schien sich mein ganzer Körper plötzlich in Alarmbereitschaft zu befinden und mit Flucht reagieren zu wollen.

„Ich würde gerne gehen …“, brachte ich etwas schroff hervor, ohne es zu wollen.

„Jetzt schon?!“ Ungläubig sah Philippe mich an, der ja gerade erst angekommen war. „Aber wir wollten doch meinen Geburtstag ausklingen lassen.“ Natürlich konnte er meinen plötzlichen Stimmungswandel nicht nachvollziehen.

Ich sah ihn flehend an. „Ich habe einfach das starke Bedürfnis zu gehen. Es geht mir nicht gut“, erklärte ich knapp. „Kommst du mit?“ Die Ungeduld in meiner Stimme war wohl unüberhörbar. Ich hoffte inständig, er würde zustimmen, denn es war mir nicht wohl bei dem Gedanken, alleine aufbrechen zu müssen.

„Ja, gleich“, sagte Philippe, sichtlich enttäuscht. „Ich trinke nur noch aus.“

Innerlich angetrieben sah ich meinem ehemaligen Verlobten zu, wie er sich in aller Seelenruhe mit seinem Sitznachbarn auf der anderen Seite weiter unterhielt und nach einer Weile noch ein Bier bestellte, als hätte er vergessen, was wir gerade besprochen hatten. Ich hatte das Gefühl, die Sache beschleunigen zu müssen, wenn ich nicht vor versammelter Mannschaft in Tränen ausbrechen wollte, und wandte mich an Alim, der hinter dem Tresen Gläser polierte: „Kannst du uns bitte ein Taxi bestellen?“

Alim nickte überrascht, vergewisserte sich aber vorsichtshalber, ob wir sicher wären, dass wir nicht noch ein wenig bleiben wollten, und wählte dann auf mein heftiges Nicken hin die Nummer des Taxiunternehmens.

Die darauffolgenden Minuten bis zum Eintreffen des Taxis erschienen mir wie eine halbe Ewigkeit, und ich hatte große Mühe, mein plötzliches Unwohlsein hinter einem höflichen Lächeln zu verbergen. Daher stand ich auf, um draußen zu warten. Ich atmete die kühle Nachtluft ein und fragte mich, was es mit diesem unvermittelt aufgetauchten Sturm in mir auf sich hatte, ohne eine Antwort darauf zu finden.

„Schade, dass wir schon gehen müssen“, bedauerte Philippe, als er kurze Zeit später zu mir ins Taxi stieg. „Ich wäre gerne noch geblieben.“

Ich knipste das Licht im Flur an, zog meine Schuhe aus, entledigte mich bis auf die Unterwäsche auch meiner übrigen Kleidung und lief zur Couch im Wohnzimmer, wo ich mich unter die Decke kuschelte und auf Philippe wartete. Ich sehnte mich danach, von ihm gehalten zu werden, und hoffte, dadurch würde die Angst in meinem Innern gelindert. Doch es kam anders.

„Ich war eigentlich noch gar nicht bereit zu gehen. Ich wäre gerne noch geblieben …“, nörgelte Philippe, der noch im Flur stand. „Ich dachte eigentlich nicht, dass mein Geburtstag schon zu Ende ist.“ Noch bevor ich Philippe davon überzeugen konnte, dass wir es uns doch auch zu zweit hier zu Hause noch gemütlich machen konnten, setzte er genervt nach: „Ich überlege ernsthaft, ob ich ein Taxi bestelle und zu Alim zurückfahre.“

„Wie bitte?!“, antwortete ich fassungslos. „Aber es ist fast 2 Uhr! Wir haben gerade viel Geld für ein Taxi ausgegeben, um zu dir nach Hause zu kommen.“

„Ja, aber ich will eben noch nicht Schluss machen für heute ….“ Er klang trotzig und nuschelte, da seine Zunge von den zahlreichen Bier wohl schon etwas schwer geworden war.

Das Geräusch eines Reißverschlusses ließ mich aufhorchen. Ich spähte von der Couch aus um die Ecke, sodass ich in den Flur blicken konnte und fand bestätigt, was ich geahnt hatte: Philippe hatte seine Jacke wieder zugemacht und war im Begriff, das Haus zu verlassen. Augenblicklich erfasste eine neue Welle von Panik meinen Körper. „Wenn er mich jetzt hier zurücklässt und geht, dann gehe ich, und zwar für immer!“, hallte eine Stimme in meinem Kopf, und innerhalb weniger Sekunden startete ein neues Flucht-Programm, als wäre dies die einzige Möglichkeit, mein Überleben zu sichern. In Windeseile und noch ehe ich verstand, was hier vor sich ging, sprang ich von der Couch, schlüpfte in meine Klamotten, zog im Flur meine Schuhe an und riss im Vorbeigehen eilig meine Jacke von der Garderobe.

„Wo willst du hin?!“, fragte mich Philippe überrascht, als ich am Hauseingang auf ihn traf. Die Überforderung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und meine zornigen, tränenerfüllten Augen starrten ihn an.

Mit großer Überwindung zwang ich mich zu einer Erklärung: „Ich gehe nach Hause. Was soll ich hier, wenn du mich alleine lässt?!“

„Jetzt warte doch …“, lenkte er kleinlaut ein, als würde ihn meine spontane Fluchtaktion auf einmal nachdenklich stimmen. Doch ich war nicht länger in der Lage, ihm in die Augen zu schauen.

Meine Füße liefen wie fremdgesteuert los, und ein lautes Schluchzen drang aus meiner Kehle, während ich mitten in der Nacht schnellen Schrittes die dunkle Straße entlanglief, als würde es um mein Leben gehen.

„Annie! So warte doch!“, rief Philippe mir verzweifelt nach.

Ohne anzuhalten, drehte ich mich im Weiterlaufen um und sah, dass er mir ein paar Schritte nachgerannt war. Niedergeschlagen stand er jetzt mitten auf der Straße und blickte mir nach.

Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter mir ins Schloss, nachdem ich in meine Wohnung getreten war. Regungslos und lauthals weinend blieb ich mitten im Raum stehen und versuchte zu begreifen, was da vor sich ging. Es war, als würde ich Schutz suchen, ohne diesen finden zu können, egal wo ich hinlief. Ich fühlte mich einsam, verlassen und ohnmächtig. Ich hielt inne und fragte mich, was das war, in mir, das da tobte, und was es wollte. Ich lauschte in mein Herz und begann den Sturm wie von außen zu beobachten. Wut! Auf einmal dämmerte es mir. Hinter den Tränen steckte große Wut! Ich ballte meine Fäuste und kniff meine Augen zusammen. Immense Wut!

Ich ließ meinen Blick durch mein Wohnzimmer schweifen, um ein Objekt ausfindig zu machen, auf das ich einschlagen könnte. Meine Augen blieben an der Couch hängen. Ich lief hinüber, kniete mich vor mein cremefarbenes Ledersofa und fing an, auf die Sitzfläche einzuschlagen. Immer heftiger knallten meine Fäuste auf das Leder, während wütende Knurrgeräusche meine Kehle verließen und meine Zähne sich aufeinanderpressten, bis mein Kopf schließlich vor Erschöpfung auf die Sitzfläche sank. Weinend verharrte ich einige Minuten in dieser Position. Dann erhob ich mich schwerfällig, um nach oben ins Schlafzimmer zu wandern, wo mich gleich eine weitere Wut-Welle überrollte. Statt der Ledercouch musste jetzt die Matratze meines Bettes herhalten, und unaufhaltsam bohrten sich meine Fäuste mit heftigen Stößen in sie hinein.

„Was zum Teufel ist das?!“, brüllte ich wie ein ungezähmter Löwe, dann sanken meine Hände langsam auf die Matratze nieder. Ich war fest entschlossen herauszufinden, was mich derart in Not brachte, also setze ich mich mit ausgestreckten Beinen auf mein Bett und lehnte meinen Oberkörper gegen das Kopfteil. Mein Atem flatterte, ich schloss die Augen. „Ich bitte darum, die Ursache dieser Wut sehen zu können“, flüsterte ich und presste meine beiden Hände auf meinen Brustkorb. Ich spürte mein Herz heftig schlagen. Nach einer Weile erschien ein Ort vor meinem inneren Auge, der mir wohlbekannt war. Meine Gedanken kreisten sofort um jene Personen, die an diesem Ort lebten, doch es bildete sich keine bestimmte Szene auf meiner inneren Leinwand ab. Stattdessen begann mein ganzer Körper, der ansonsten wie gelähmt war, zu zittern, und meine Zähnen klapperten laut. Ich ließ meine Hände auf meinen Unterbauch wandern, während mein Kopf sich angewidert zur Seite drehte. Bei offenem Mund kam ein abstoßendes Röcheln aus meinem Hals, und Ekel breitete sich von meinem Unterleib ausgehend im gesamten Körper aus. Ich lag reglos da und hielt meinen Genitalbereich mit beiden Händen.

 

In dieser Verfassung war mir kaum klar, dass ich ein traumatisches Ereignis berührt hatte, welches mein Körper unter heftigen Abwehrreaktionen erinnerte, das ich aber bewusst nur erahnen konnte.

Ein Klingeln an der Tür schreckte mich auf und holte mich abrupt zurück ins Hier und Jetzt. Benommen kletterte ich die Treppe vom Schlafzimmer herunter und griff nach dem Hörer der Sprechanlage.

„Ich bin’s, Philippe. Kann ich hochkommen?“ Philippes Stimme klang traurig und zerknirscht.

Ich drückte den Türöffner-Knopf der Haustür im Erdgeschoss und horchte ins Treppenhaus.

Als Philippe oben bei mir angekommen war, sagte er beschämt: „Es tut mir so leid, Annie!“ Dann nahm er zuerst meinen Kopf in seine Hände, um mich zu küssen, und dann meinen Körper fest in den Arm.

„Da sind schreckliche Dinge passiert …“, stammelte ich verwirrt und auch fassungslos und sackte weinend in Philippes Armen zusammen. „Ganz schreckliche Dinge!“ Die Erinnerungen, die infolge meiner inneren Führung gerade vor meinem geistigen Auge aufgeblitzt waren und die ich körperlich scheinbar gerade noch einmal durchlebt hatte, ließen mich erschaudern. Doch endlich fand ich den Halt, nach dem ich mich schon den ganzen Abend über gesehnt hatte und den ich nun über die Maßen brauchte.

HOCHZEIT MIT MIR SELBST

Das Jahr 2017 begann für mich mit einer emotionalen Achterbahnfahrt. Auf jede hohe Welle folgte augenblicklich ein tiefes Tal, auf jedes Tal ein Aufstieg. Enttäuscht stellte ich fest, dass es kaum möglich war, die kurzen Momente der Fülle festzuhalten, so sehr ich auch mit geführten Meditationen versuchte, jene Blockaden aus dem Weg zu räumen, die meiner Selbstliebe, nach allem, was ich als Kind erlebt hatte, noch im Wege standen. Dennoch gab ich jedem Tag aufs Neue schon bei meinem Aufwachen die Chance, der beste meines Lebens zu werden. Um nicht in Negativität abzugleiten, schrieb ich jeden Morgen zehn Dinge in mein Tagebuch, für die ich dankbar war – so wie ich es bereits im Jahr davor regelmäßig praktiziert hatte. Ich dankte für die Unterstützung, die mir bei der Organisation des bevorstehenden Landschulheimaufenthaltes durch unsere Sozialarbeiterin zuteilwurde, für meine Badewanne, von der ich regen Gebrauch machte, und meine verständnisvolle Kollegin Cecilia. Ich war dankbar dafür, dass sie mich zu Kaya geführt hatte, dass die Halbjahresinformationen gedruckt waren und für jeden Abend, an dem ich in Philippes Armen einschlafen durfte. Ich empfand es als großes Glück, beim Einkaufen Schnäppchen zu erhaschen, die meinen Geldbeutel schonten, einen Kamin zu besitzen, für den ich von meinem Vater regelmäßig Holz geliefert bekam, damit ich ihn befeuern konnte. Ich wusste, dass mein Vater Schwierigkeiten hatte, mir seine Liebe auf eine Weise zu zeigen, wie es Väter normalerweise tun, aber ich wusste auch, dass er mit seiner in kamingerechte Stücke gehackten Holzzuwendung einen Weg gefunden hatte, mir zu zeigen, dass ihm mein Wohlergehen am Herzen lag.

Die Wutwellen überrollten mich meist unerwartet, in rasanter Geschwindigkeit und lösten zu dieser Zeit noch regelmäßig Ohnmachtsgefühle in mir aus. Erst allmählich lernte ich mit der Unterstützung einer Heilpraktikerin, die sich auf eine körperzentrierte Therapieform namens Hakomi spezialisiert hatte, meine Wut auf gesunde Art durch meinen Körper auszudrücken. Wenn ich keinen anderen Ausweg mehr wusste, setzte ich mich manchmal in mein Auto – der einzige Ort, an dem ich mich bislang lauthals zu schreien traute – und betete zu Gott, er möge mich an einen Ort führen, an dem ich meinen inneren Frieden zurückerlangen könnte. Spätestens auf der Autobahn schlug ich dann oft wie eine Furie mit meiner rechten Faust auf den Beifahrersitz ein und schrie mir die Seele aus dem Leib, bis ich heiser war. Meist richteten sich meine scheußlichen Hassbekundungen gegen Philippe, der immer häufiger schmerzvolle Empfindungen aus meiner Vergangenheit in mir triggerte, die ich oft erst mit etwas zeitlichem Abstand mit dem als Kind Erlebten in Zusammenhang bringen konnte.

So war es auch an einem Abend Ende März, als ich in meinem Trevis saß und über die A6 von Heilbronn in westliche Richtung fuhr. Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt und meine Augen waren schon ganz verquollen vom vielen Weinen, als ich mich spontan entschied, die Autobahn gen Norden zu verlassen und den südlichen Odenwald zu durchqueren. Während ich erschöpft durch die idyllischen kleinen Dörfchen fuhr, kam mir auf einmal die Idee, in einem Gasthof einzukehren. Mein derzeitiger Finanzsparplan ließ mich kurz zögern, allerdings war die Vorstellung, meine leeren Batterien bei einem schönen Abendessen wieder aufzutanken und meine Heimreise erst am nächsten Morgen antreten zu müssen, nach der emotionalen Talfahrt der letzten Stunden derart verlockend, dass ich nicht wegen Geldknappheit darauf verzichten wollte. Notfalls gab es ja noch die Kreditkarte. Ich hatte bereits eine ganze Reihe von Landgasthöfen passiert, als ich schließlich wie von selbst an einer Mühle in den großen Innenhof einer einladend aussehenden Pension einbog.

„Erwarten Sie noch jemanden?“, fragte der Kellner, als er mir kurze Zeit später die Menükarte reichte.

„Nein, ich bin heute mit mir unterwegs“, antworte ich lächelnd.

Tatsächlich fühlte es sich erstaunlich gut an, mit mir selbst verabredet zu sein. Ich bestellte mir einen Grauburgunder und ein kleines Mineralwasser und ließ meinen Blick über das Angebot der gut bürgerlichen Küche schweifen. Dann bestellte ich eine Portion Käsespätzle mit Salat und zückte meinen E-Book-Reader, um bis zum Servieren meines Abendessens meine aktuelle Lektüre mit dem Titel „Heirate dich selbst“ fortzusetzen. Veit Lindau, der Autor, hatte recht: Wie konnte ich erwarten, dass Philippe mich liebte, wenn ich mich selbst kaum liebte? Reue stieg in mir auf, als ich mein Verhalten reflektierte. Es kam mir auf einmal albern und kindisch vor, dass ich Philippe mit Nichtbeachtung und Rückzug strafte und mich absichtlich seit Stunden nicht bei ihm meldete.

Der Duft aromatischer Käsespätzle zog mir in die Nase und ließ mich von meinem Buch aufblicken. Der nette Kellner stellte gerade den dampfenden Teller mit der XL-Portion vor mich auf den Tisch, da kam mir plötzlich die Idee, mit dieser Mahlzeit in der Abgeschiedenheit des hier wenig besiedelten Odenwaldes einen ganz besonderen Moment in meinem Leben zu markieren: Die Hochzeit mit mir selbst! Diese könnte vielleicht sogar einen Meilenstein in meiner spirituellen Entwicklung darstellen. Ich spähte auf die Datumsanzeige meines Handys, das neben meiner Serviette auf dem Holztisch lag, und nickte: Der 29. März würde künftig in jedem Jahr mein Hochzeitstag sein, denn diesmal würde ich nicht davonlaufen. Das war auch gar nicht mehr möglich, denn schließlich befand ich mich bereits mitten im heiligen Geschehen. Das Hochzeitsessen war zugegebenermaßen wenig exklusiv, aber dafür ganz nach meinem Geschmack. Zur Feier des Tages bestellte ich mir ein weiteres Glas Wein und erkundigte mich dann nach der Verfügbarkeit eines Einzelzimmers.

Kurze Zeit später öffnete ich die Tür des gemütlichen Zimmers im obersten Stockwerk, welches mit Satelliten-TV und eigenem Badezimmer ausgestattet war. Ich schaltete das Licht an, steuerte geradewegs auf den Schreibtisch vor der Dachgaube zu und nahm das rosafarbene Ringtagebuch aus meiner Handtasche, welches ich vorsorglich immer bei mir führte. Dann setzte ich mich auf den gepolsterten Stuhl und schrieb in großen Druckbuchstaben das Wort EHEGELÜBDE als Überschrift auf eine neue Seite. Tränen rollten über meine Wangen. In akkurater Handschrift formulierte ich folgenden Text nach der Vorlage von Veit Lindau:

Heute, am 29.03.2017, hier in Mörlenbach, gehe ich beherzt und bewusst eine heilsame, liebevolle, lebendige Beziehung mit mir selbst ein.

Mein Versprechen an mich selbst lautet: Ich möchte mich, Annie Frank, von jetzt an erkennen, achten und lieben.

Ich hielt kurz inne, öffnete das dreieckige Fenster der Dachgaube und atmete die kühle Abendluft tief ein, während ich in die Dunkelheit des Straßendorfs blickte und dem sanften Rauschen eines kleinen Baches lauschte. Es fühlte sich herrlich an, mir selbst zuzusichern, von nun an stets an meiner Seite und mir selbst die beste Freundin zu sein sowie mir die Erlaubnis zu geben, mich bedingungslos zu lieben und mein volles Potenzial zu leben.

Erneut setzte ich mich, griff zum Kugelschreiber und setzte mein Ehegelübde mit der Entscheidung fort, aus ganzem Herzen Ja zu mir zu sagen und mich selbst zur Frau zu nehmen. Indem ich mich selbst einem Leben der Freude und des Wachsens verpflichtete, wich die Verzweiflung des vergangenen Tages einem Gefühl unbeschreiblicher Freude. Voller Überzeugung schrieb ich nieder, mir von nun an treu zu sein und mich zu lieben und zu ehren, solange ich lebte.

Im nächsten Absatz schwor ich mir selbst, mich zu respektieren, mir zuzuhören sowie für mich zu sorgen, und erklärte mich bereit, das loszulassen, was mir schadete. Weiter bat ich darum, dass alles, was noch Heilung benötigte, nun auf sanfte Weise heilen dürfte. Dann schloss ich mit den Worten „Möge meine Heirat mit mir selbst zum Wohle aller Wesen sein“ und setzte meinen Namen, das Datum und meine Unterschrift darunter.

Mit einem sanften, zufriedenen Lächeln legte ich mein Schreibgerät beiseite, schloss mein Tagebuch und griff zu meinem Handy. Ich wollte Philippe an diesem heiligen Ereignis teilhaben lassen und mich bei ihm für mein explosives, fluchtartiges Verhalten entschuldigen. Ich schickte eine Textnachricht an ihn ab, und dabei fiel mein Blick auf meine schmucklose rechte Hand, an deren Ringfinger ein Jahr und acht Monate zuvor beinahe der Ehering gelandet wäre, den mir Philippe gekauft hatte. Ich stellte fest, dass meine spontane Hochzeitsfeier, vor allem was die Abfolge charakteristischer Hochzeitsprozeduren anbelangte, in ein paar wesentlichen Punkten von einer regulären Trauung abwich. Da ich aber ohnehin nicht gewillt war, mein Leben weiterhin von festgefahrenen Traditionen bestimmen zu lassen, sah ich diesen Aspekt mit Gelassenheit und nahm mir vor, gleich am nächsten Tag auf dem Nachhauseweg bei einem Juwelier haltzumachen.

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