Theologie des Neuen Testaments

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3Jesus von Nazareth


Abb. 3: Grundriss des Gehöfts eines wohlhabenden Landbewohners mit Wirtschafts- und Wohnräumen, Hoffläche, Olivenpressen, Weinpresse und Zisternen aus dem südlichen judäischen Bergland (Anab al-Kabir).

3.1Einführung

Jesus von Nazareth zog durch „Dörfer, Städte und Gehöfte“ (Mk 6,56). Die reale Welt seines Wirkens als Verkündiger und Wundertäter waren die Häuser und Siedlungen jüdischer Männer und Frauen, die ihren Alltag nicht zuletzt zwischen Vorratshaus, Olivenpresse, Zisterne und Kleinvieh verbrachten. Das oben abgebildete Gehöft eines wohlhabenden Landbewohners im judäischen Bergland soll einen Eindruck von der agrarisch geprägten Welt vermitteln, aus der die literarische Überlieferung zu Jesus hervorgegangen ist. Der Besitzer eines solchen Gehöfts war meist reich und lebte in der Stadt. Er überließ die Verwaltung seiner landwirtschaftlichen Gehöfte einem Verwalter. Dieser leitete und beaufsichtigte die tägliche Arbeit, die von Männern und Frauen als Knechten und Mägden oder Sklaven und Sklavinnen geleistet wurde. Diese bildeten wiederum eine weitgehend autarke Arbeits- und Lebensgemeinschaft unter der Leitung des Verwalters. Die Überschüsse der Produktion wurden als Markterlös oder Naturalien an den reichen Besitzer in der Stadt geliefert. Viele dieser alltäglichen Sachverhalte werden in der Verkündigung Jesu thematisiert und mit seiner Botschaft von der Königsherrschaft Gottes verbunden, etwa das Kneten von Brotteig, die Arbeit an einer Mühle, die Sorge um das Kleinvieh oder die Abwesenheit des Besitzers eines Landguts (Q 12,42–46; 13,20 f.; 15,4; 17,35; 19,15).

Die Verkündigung Jesu ist in den Evangelien und damit im Rahmen biographischer Erzählungen überliefert. Die Evangelienverfasser schaffen damit eine neue Literaturgattung: die Jesuserzählung bzw. das Evangelium. In ihnen kommt vor allem die Erzählperspektive der Evangelienverfasser zum Ausdruck. Sie entwerfen mit literarischen Mitteln ihrer Zeit ein Bild vom Wirken Jesu bzw. einen sogenannten erinnerten Jesus: „Die synoptische Überlieferung bietet Belege nicht so sehr für das, was Jesus tat oder sagte, sondern für das, dessen sich die ersten Jünger von dem, was Jesus tat und sagte, erinnerten.“1

Die Jesuserzählungen der Evangelisten enthalten auch umfangreiche Wortüberlieferungen, die als Aussprüche Jesu präsentiert werden. Diese Aussprüche können zum Teil als historischer Gehalt des von den Evangelienverfassern Erinnerten auf Jesus von Nazareth zurückgeführt werden. Es handelt sich dabei oft um Aussagen, die sprachlichen Formen folgen, die für das aramäischsprechende Judentum charakteristisch sind. An erster Stelle steht hier der Einzelspruch, hebr. maschal (משל) und gr. parabole (παραβολή, dt. Parabel), der als Spruch bzw. Logion oder als ausgeführtes Bildwort bzw. Gleichnis begegnet. Jesus wählt mit dem maschal oder Bildwort eine Sprachform, die für seine Verkündigung besonders geeignet ist. In ihr werden alltägliche oder plausibel erscheinende menschliche Wirklichkeitswahrnehmungen und Erfahrungen aufgegriffen, verfremdet, neu interpretiert und auf die Botschaft der Königsherrschaft Gottes ausgerichtet. Der maschal ist eine in sich geschlossene semantische und syntaktische Wortfolge, die etwas bedeutet, was sich dem Sinn konstituierenden Lesen/Hören alleine nicht erschließt, sondern weitere kognitive Operationen, wie z. B. den Vergleich und den Bedeutungstransfer erfordert. Jesus wählt eine Sprachform, die die Adressaten in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Wirklichkeitswahrnehmung zu Ablehnung, Kritik oder Zustimmung auffordert. Das rhetorische Ziel der Sprüche Jesu ist das Einverständnis in die neue Wirklichkeitswahrnehmung, die im Horizont der Königsherrschaft Gottes so grundlegend verändert ist, dass in ihr Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe als Ausdruck des Willens Gottes zum Zuge kommen.

3.2Historische Grundlagen

Die Frage, ob Jesus von Nazareth Teil einer Theologie des Neuen Testaments sein kann, ist daran zu entscheiden, ob sich die Gedankenwelt Jesu hinreichend sicher historisch rekonstruieren lässt. Die ältere Forschung neigte zu dem Urteil, dass man die Verkündigung Jesu einigermaßen gut, sein Leben aber kaum zuverlässig darstellen könne. Tatsächlich ist der Bestand der Verkündigung Jesu, der sich aus der synoptischen Überlieferung entnehmen lässt, nur wenig umstritten, auch wenn dessen Deutungen, etwa ob sie vor allem auf die Zukunft, d. h. eschatologisch, oder auf die Gegenwart, d. h. weisheitlich, ausgerichtet ist, divergieren. Aufgrund der großen theologischen Bedeutung, die die Forschung des vergangenen Jahrhunderts der Verkündigung Jesu beimaß, wurde fast um jedes einzelne Wort gerungen, z. B. ob Jesus das Wort „Lösegeld“ (gr. lytron; λύτρον) in Mk 10,45 gesagt und auf seine Lebenshingabe bezogen habe.2 Dabei stand in einer Zeit, in der man die Klärung methodischer Fragen als Königsweg zur Wahrheit verstand, die Diskussion um die Kriterien, nach denen die Authentizität der Jesusworte bestimmt werden könnte, im Mittelpunkt. Die Forschung bis in die frühen siebziger Jahre folgte dem sogenannten Differenzkriterium oder Unableitbarkeitskriterium, wie es Käsemann hier beschreibt:

„Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat.“3

In Bezug auf das frühe Christentum berücksichtigt dieses Kriterium die exegetische Beobachtung, dass Jesus sich in der ältesten Überlieferung niemals als Messias/Christus oder gar als Sohn Gottes bezeichnet und auch vom Menschensohn nur in der dritten Person spricht. Die Verkündigung Jesu war demnach unmessianisch.4 Die in diesem Kriterium zum Ausdruck gebrachte Abgrenzung vom Judentum kann hingegen nicht durch die neutestamentlichen Texte begründet werden. Jesus wird durchweg als ein Jude seiner Zeit dargestellt. Die alleinige Anwendung des Differenzkriteriums führt zu einem unjüdischen und oft genug zu einem antijüdischen Jesusbild, z. B. bei Ernst Käsemann oder Günther Bornkamm.5

Neben diesem methodischen Einwand gegen dieses Kriterium ist aber eine andere Entwicklung von weit größerer Bedeutung. Das Wissen über die Vielfalt des antiken Judentums ist in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen. Das führt dazu, dass die Forschung bestimmte Haltungen wie die Kritik am Jerusalemer Tempel oder Abweichungen im Verständnis von Speisegeboten, der Reinheitstora oder dem Sabbatgebot nicht mehr als grundsätzliche Gegnerschaft zu Tempel, Tora oder gar dem Judentum überhaupt interpretiert, sondern vielmehr als Teil des Diskurses um die Fassung der Tora und um die Konkretisierung von Torageboten versteht.6 Jesus von Nazareth ist demnach historisch dann angemessen dargestellt, wenn die rekonstruierten Überzeugungen und Verhaltensweisen innerhalb der Vielfalt des antiken Judentums plausibel und auch in ihren kritischen Akzenten als Ausdruck innerjüdischer Kontroversen verstehbar bleiben. Dafür ist von Theißen der Begriff „historische Kontextplausibilität“ vorgeschlagen worden.7 Dort, wo Jesus Anschauungen des Judentums seiner Zeit wiedergibt, etwa in seinem Gottesverständnis oder bezüglich seiner Schöpfungsvorstellung (Mk 10,6–8; Mt 5,34 f.), spricht man von kontextueller Korrespondenz, d. h. die Aussagen und das Verhalten Jesu stimmen (korrespondieren) mit den Erwartungen seiner Umwelt (Kontext) überein. Dort, wo Jesus Ansichten äußert, die als kritische Beiträge zum innerjüdischen Diskurs erscheinen, etwa bezüglich der Frage von rein und unrein (Mk 7,15), beurteilt man diese Aussagen als kontextuelle Individualität oder kontextgebundene Besonderheit, d. h. die Aussagen Jesu sind zwar ungewöhnlich (individuell), aber doch vorstellbar (kontextplausibel) innerhalb seiner Umwelt.8

Die Unterscheidung der jesuanischen Verkündigung von den Anschauungen des frühen Christentums wird hingegen nach wie vor so vollzogen, dass die in den Evangelien berichteten Aussagen und Verhaltensweisen Jesu, die das spätere Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes voraussetzen oder ihm eine damit kohärente gehobene Bedeutung zuweisen, eher als Ausdruck des Bekenntnisses der Gemeinde (Gemeindebildung) zu verstehen sind und historisch nicht auf die Verkündigung Jesu zurückgeführt werden können. Wenn allerdings Aussagen festgehalten sind, die mit dem Bekenntnis übereinstimmen, etwa über Jesus als Wunderheiler, in denen aber auch tendenzwidrige Züge zu erkennen sind, etwa dass Jesus für die Heilung eines Blinden seinen Speichel verwendet (Mk 8,23), haben diese eine hohe historische Glaubwürdigkeit.

In Bezug auf das Leben Jesu sind, gemessen an dem, was man gerne aus einer Biographie erfahren würde, nur einige wenige Sachverhalte deutlich benennbar. Bei der Näherbestimmung dieser historisch wahrscheinlichen Ereignisse im Leben Jesu wird man sich zunächst auf diejenigen beschränken, die sowohl in der Erzählüberlieferung der Evangelien als auch in der Verkündigung Jesu einen Anhaltspunkt haben. Wenn also z. B. von Jesus erzählt wird, er habe die Taufe von Johannes empfangen (Mk 1,9–11), und auch in der Verkündigung Jesu der Täufer erwähnt wird, etwa als der Größte „unter den von Frauen geborenen“ (Lk 7,28), dann ist es sehr wahrscheinlich, dass Jesus in einer Beziehung zum Täufer stand. Unter diesem Gesichtspunkt sind sechs biographische Geschehnisse als historisch sehr wahrscheinlich hervorzuheben: 1. Die Beziehung zu Johannes dem Täufer (Mk 1,9–11; Q 3,2–7,35), 2. Jesu Aufenthalt in Galiläa, bes. in Kapernaum (Mk 1,9.14; Q 7,1; 10,13–15), 3. Seine Heilungen und Exorzismen (Mk 1,23–34; Q 10,13–15; 11,14–20), 4. Die Bildung einer Jüngergemeinschaft und evtl. auch die darauf bezogene Zwölfzahl (Mk 3,13–19; Q 22,30), 5. Der Weg nach Jerusalem (Mk 11,1–10; Q 13,34), 6. Der Besuch des Tempels (Mk 14,58; Mk 11,15–17).9

 

3.3Königsherrschaft Gottes

Die „Königsherrschaft Gottes“ ist die zentrale Vorstellung, um die sich die Theologie Jesu von Nazareth gruppiert. Ihr Gehalt, die Errichtung der Herrschaft des Schöpfers, bestimmt auch das Gottesverständnis. Aus ihr wird die Ethik der Köngisherrschaft abgeleitet, die von den Menschen im Umgang mit dem Nächsten die Nachahmung der barmherzigen Fürsorge des Schöpfers fordert.

3.3.1Königsherrschaft im Hellenismus und im Judentum

Die Wendung „Königsherrschaft Gottes“ ist eine quellensprachlich orientierte Übersetzung der griechischen Wendung basileia tou theou (βασιλεία τοῦ θεοῦ). Anders als die traditionelle Übersetzung mit „Reich Gottes“ (z. B. Luther) nimmt sie den bildhaften Anteil des griechischen Wortes, nämlich „König“, auf. Im Griechischen bezeichnet basileia, Königsherrschaft, den durch die Befehlsgewalt eines Königs bestimmten sozialen, rechtlichen, politischen und religiösen Handlungsraum. Die Vorstellung vom Königtum ist im Hellenismus seit Philipp von Makedonien und Alexander dem Großen als Gegenbegriff zur Stadtgemeinschaft bzw. Staat (gr. polis; πόλις) ausgeprägt worden. Zum Verstehenshintergrund gehört die hellenistische Vorstellung vom „charismatischen Königtum“, nach der der König Wohltäter, höchster Richter, Gesetzgeber und Garant des religiösen Kultes zugleich ist.10 Gehrke fasst pointiert zusammen: „Die basileia (Königsherrschaft) ist der König“.11 Die Verbindung des Wortes „Königsherrschaft“ mit dem Genitivattribut „Gott“ führte dann zur Übersetzung mit „Königsherrschaft Gottes“ oder verkürzt mit „Gottesherrschaft“.

Die basileia ist demnach ein von einer Person, dem König, dominierter Bereich, eben das Reich, über das der hellenistische König in allen Belangen die Herrschaft hat. Der Bereich der basileia ist nicht in erster Linie räumlich und durch Grenzen definiert vorzustellen, sondern ist vor allem durch die Reichweite der königlichen Befehlsgewalt bestimmt.

Die basileia wird nicht vorrangig als die im König konzentrierte Herrschermacht (funktional: Königsherrschaft) verstanden oder als das Gebiet, das ihm durch Grenzen zugewiesen ist (geographisch: Königreich), sondern meint vielmehr den sozialen und politischen Raum seiner Machtausübung und damit den Bereich, in dem seine königliche Macht uneingeschränkt wirksam ist. Die Königsherrschaft wird als eine dem Menschen gegenüber wirksame Macht aufgefasst, die sich als heilvoll, friedensbringend, rechtschaffend und wohltätig erweisen kann, aber auch als unheilvoll, kriegführend, willkürlich und vernichtend. Die basileia ist die Welt in ihren tatsächlichen Machtdimensionen und deren symbolischen Inszenierungen (Herrscherrituale) und Repräsentationen (Insignien).

In biblischer Tradition wird die Vorstellung der Königsherrschaft mit dem Schöpfungsgedanken verbunden und so auf „Himmel und Erde, und alles, was darinnen ist“ (Ps 146,6; Apg 17,24) übertragen. Das wird besonders in der Variante „Königsherrschaft der Himmel“ oder traditionell „Himmelreich“ (gr. basileia ton ouranon; βασιλεία τῶν οὐρανῶν), die im Matthäusevangelium (Ausnahme: Mt 12,28; 21,31.43; vgl. 6,33; 19,24) und im rabbinischen Judentum verwendet wird, deutlich. „Himmel“ ist in dieser Wendung eine Umschreibung des Gottesnamens, die auf der Vorstellung beruht, dass der Himmel der Thron Gottes ist (Ps 11,4; 103,19). Jes 66,1 thematisiert die Inszenierung Gottes als Schöpfer und königlichen Herrscher:

Jes 66,1: So spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße.

In Mt 5,34 f. wird dieser Gedanke von der Himmel und Erde umfassenden Herrschaft Gottes von Jesus aufgenommen und mit dem Königstitel verbunden:

Mt 5,34 f.: Ich aber sage euch: Schwört gar nicht, weder beim Himmel, denn er ist der Thron Gottes, noch bei der Erde, den sie ist der Schemel seiner Füße, noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs (d. i. Gott).

Die Königsherrschaft Gottes bezeichnet den sozialen und politischen Handlungsraum, in dem Gott die alles bestimmende Instanz ist. Dieser Handlungsraum umfasst die ganze Schöpfung, über die Gott als König seine Herrschaft ausübt. In diesem theozentrischen Weltbild ist der eine und einzige Gott als der Schöpfer, Erhalter und Herrscher über seine ganze Schöpfung das alles entscheidende Gegenüber des Menschen.

Die Königsherrschaft Gottes ist zudem durch Inhalte bestimmt, die ihre prägende Vorgeschichte im biblischen Psalter haben. Die Redaktion des Psalters vertrat eine Theologie, die das Kommen eines messianischen Königs nach dem Vorbild Davids und die Errichtung der „Königsherrschaft Gottes“ (hebr. malkut JHWH; מלכות יהוה) für die „Armen“, die zugleich als fromm und gerecht galten, erwartete. Die Eigenschaften dieser Königsherrschaft werden ebenfalls in den Psalmen näher geschildert. Insbesondere die Psalmen 145 und 146–150 sind hier bedeutsam. Ps 145 gilt als eine Zusammenfassung der Theologie des Psalters und die Psalmen 146–150, das Schlusshallel, als der Ausblick auf das Anbrechen der Königsherrschaft Gottes.12 Diese Herrschaft geht vom Zion bzw. Jerusalem aus und befreit Israel von seinen Feinden. In dieser machtvoll gesicherten Herrschaft erweist sich der barmherzige Schöpfer als fürsorglich gegenüber allen, die seiner Hilfe bedürfen, und als machtvoll gegenüber denjenigen, die diese gute heilvolle Herrschaft gefährden. In Ps 145, einem Alphabet-Akrostichon (jede Zeile beginnt mit einem Buchstaben, die zusammengenommen die Abfolge des Alphabets bilden), dessen theologischer Gehalt der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu besonders nahesteht, wird diese Herrschaft so dargestellt:

Ps 145,11–13

כ/Kaph 11: Sie sagen von der Herrlichkeit deiner Königsherrschaft und von deiner Kraft reden sie,

ל/Lamed 12: um den Menschen deine Kraft zu verkündigen und den herrlichen Glanz deiner Königsherrschaft.

מ/Mem 13: Deine Königsherrschaft ist eine Königsherrschaft für alle Ewigkeit.

Und dein Herrschaftsgebiet gilt von jedem Geschlecht zu Geschlecht.

Die Lektüre der Zeilen Kaph bis Mem ergibt in umgekehrter Reihenfolge gelesen das Wort hebr. mlk, König. Thema der Zeilen ist ebenfalls hebr. malkut, die Königsherrschaft. Die Nun-Zeile fehlt im masoretischen Text. Darüber gibt es eine umfangreiche, kontroverse Debatte. Inzwischen neigt man dazu, das Fehlen der Nun-Zeile für ursprünglich zu halten. Möglicherweise sollte der Leser inne halten, auf die Zeilen Mem bis Kaph zurückblicken und das Wort hebr. mlk für König entdecken. Die Königsherrschaft Gottes ist demnach ein Gebilde, das direkt aus der Kraft und der Majestät Gottes als König abgeleitet wird.

Mit der Vorstellung von der Herrschaft durch Gott selbst konkurrieren messianische Aussagen im Psalter. Nach diesen wird eine messianische Königsfigur nach dem Vorbild Davids die Herrschaft antreten. Ps 2 thematisiert die Einsetzung eines „Sohnes Gottes“ als Herrscherkönig. Im Verlauf des Psalters tritt die Vorstellung, dass eine messianische Königsfigur wie David auftreten müsse, um die Herrschaft Gottes zu verwirklichen, allerdings zunehmend zurück. Nach Ps 89, endgültig aber mit Ps 144 dominiert die theokratische Sichtweise über die messianische Psalterredaktion. Die letzte Erwähnung des königlichen Gesalbten findet sich in Ps 132,10.17.13 In Ps 146,10 heißt es hingegen ausdrücklich: „Der Herr (JHWH) wird König sein.“ Er wird Jerusalem aufbauen und die Zerstreuten des Volkes wieder zusammenführen (Ps 147,2). Er wird als gerechter Richter in Israel auftreten (Ps 148,6) und seine Frommen werden an den Feinden Israels Rache üben (Ps 149,6–9).

Im ersten Jahrhundert n. Chr. gehört der Psalter zu den am intensivsten rezipierten Texten der Hebräischen Bibel. Zudem ist die Gattung des Psalms lebendig und bringt weitere Psalmdichtungen hervor, etwa die zahlreichen apokryphen Nach- und Weiterdichtungen in den Qumrantexten, den Psalmen Salomos, aber auch im Neuen Testament (z. B. Lk 1,46b–55; 1,68–79; 2,29–32).14 Die Psalmen Salomos, die aus einer jüdischen Sondergruppe mit Nähe zur pharisäischen Bewegung stammten und im 1. Jh. v. Chr. entstanden sind, entfalten die Vorstellung eines davidischen Königmessias, der die Königsherrschaft Gottes in Israel durchsetzt.15 In der Komposition von achtzehn Psalmen werden die beiden Grundgedanken der Redaktion des kanonischen Psalters aufgenommen: Das Ergehen des Gerechten und die Herrschaft Gottes. Sie werden im Begriff der „Gerechtigkeit“ (gr. dikaiosyne; δικαιοσύνη) miteinander verbunden. So spricht der Beter der Psalmen Salomos:

PsSal 1,2: Er erhört mich, weil ich von Gerechtigkeit erfüllt bin.

Gerechtigkeit ist der Kern der Beziehung zwischen Gott und Mensch im Konzept der Gottesherrschaft. Auch in den Psalmen Salomos wird Gott als König der Gottesherrschaft gepriesen (PsSal 17,1–3.46).

PsSal 17,1–3: Herr, du selbst bist unser König […] 3 Wir aber hoffen auf Gott, unseren Retter, denn die Macht unseres Gottes (ist) in Ewigkeit mit Erbarmen und die Königsherrschaft unseres Gottes ist in Ewigkeit über die Völker im Gericht.

Das Erbarmen Gottes richtet sich auf Israel, das Gerichtshandeln gegen die (nichtjüdischen) Völker. Dies ist ein zentraler, immer wiederkehrender Gesichtspunkt in der Wahrnehmung von Welt und Geschichte. Die Perspektive ist israelzentriert und wird auch innerhalb Israels oft auf eine kleinere Gruppe der Frommen und Gerechten beschränkt. In den Psalmen Salomos ist das mit einiger Wahrscheinlichkeit die Gruppe der Pharisäer. Sie erhoffen sich, dass Gott seine Herrschaft durch einen messianischen Sohn Davids durchsetzt.

PsSal 17,21: Herr lass ihnen ihren König, den Sohn Davids zu einem Zeitpunkt erstehen, den du, Gott, ausgewählt hast, damit er herrsche als König über Israel, deinen Knecht.

Mit den königlichen Macht- und Herrschaftsattributen sind durchweg auch Eigenschaften der Fürsorge und des Schutzes verbunden. Sie erstrecken sich auf diejenigen, die zur Königsherrschaft hinzugehören, nämlich auf Israel oder zumindest auf die Frommen in Israel. Durch die Schöpfungsterminologie, die mit diesen Aussagen verbunden ist, entsteht der Eindruck, dass die Fürsorge Gottes als König uneingeschränkt ist. Dafür nochmals ein Beispiel aus Ps 145, dem „Kompendium“ der Theologie der Psalmen.16

Ps 145, 14–20

14:JHWH unterstützt alle Gefallenen und richtet alle Gebeugten auf.

15:Die Augen aller hoffen auf ihn und du gibst ihnen ihre Speise zu ihrer Zeit.

16:Du öffnest deine Hand und sättigst alles Lebende wohlgefällig.

17:Gerecht ist JHWH auf allen seinen Wegen. Und liebevoll in allen seinen Werken.

18:Nahe ist JHWH allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Treue anrufen.

19:Er erfüllt den Willen derer, die ihn fürchten, und er hört ihre Hilferufe und hilft ihnen.

20:JHWH behütet alle, die ihn lieben, aber alle Frevler rottet er aus.

Wir sehen also, dass die Vorstellung einer Königsherrschaft Gottes im Judentum zur Zeit Jesu klare Konturen hatte und verbreitet war. Sie konnte mit dem Auftreten eines davidischen Königs verbunden sein, musste aber nicht. Dort, wo eine messianische Figur auftritt, ist sie Gott selbst unter- und zugeordnet. Das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch in der Vorstellung vom Reich Gottes stellt sich wie folgt dar: Gott ist der majestätisch Herrschende, der eine Form von Gerechtigkeit schafft, die für Israel Frieden bringt. Der Mensch in dieser Beziehung zu Gott ist als der Fromme und Gerechte vorgestellt, der auf die Errichtung der Gottesherrschaft vertraut. Dieses Vertrauen beruht nicht zuletzt auf der Vorstellung von der Welt als Schöpfung Gottes. So wie Gott immer wieder heilvoll in die Geschichte Israels eingegriffen hat, so erweist er sich täglich als fürsorglicher Schöpfer, der sich seiner Geschöpfe erbarmt.

Die Theologie der Gottesherrschaft im 1. Jh. n. Chr. beruht auf einem Gottesverständnis, nach dem der Gott Israels barmherziger Schöpfer, fürsorglicher Erhalter und geschichtsmächtige Majestät, d. h. sowohl König als auch Richter, ist. Die geschichtliche Welt wird in den binären Oppositionen von Israeliten und Nichtisraeliten („Heiden“) nach außen und von Gerechten und Frevlern nach innen wahrgenommen. Der Mensch wird von der Königsherrschaft Gottes herausgefordert, als Gerechter auf Gott zu vertrauen. Dem Gerechten steht Landbesitz, Gerechtigkeit und Frieden zu, während dem Frevler Strafe und Vernichtung drohen.

 

3.3.2Königsherrschaft Gottes in der Verkündigung Jesu

Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu schließt an diesen Vorstellungen kohärent und kontextplausibel an. Worin besteht nun aber ihre Originalität bzw. kontextuelle Individualität?

Jesus teilt viele der Vorstellungen, die seine Zeitgenossen von der Gottesherrschaft haben. Das Gottesverständnis im Rahmen der Königsherrschaft Gottes konzentriert sich auf den für Israel geschichtsmächtig wirkenden Gott und auf Gott als Erhalter der Schöpfung. Der Mensch in dieser Konzeption ist zunächst einmal Israelit, der die Welt aus einer israelzentrierten Perspektive sieht und vor allem zwischen Israel und den nichtjüdischen Völkern unterscheidet. Dabei gelten ihm die Unterschiede zwischen Israel und den Nichtjuden insgesamt als bedeutender als die Unterschiede zwischen den verschiedenen nichtjüdischen Völkern. Er erwartet die Königsherrschaft Gottes insbesondere als Teil der Geschichte des Volkes Israel. Er steht der Königsherrschaft Gottes nicht ausschließlich passiv gegenüber. Sein Vertrauen auf Gott, seine Frömmigkeit und sein Gotteslob haben Teil an der Dynamik der Königsherrschaft. Sie provozieren und ermuntern Gott zum Handeln, das von einem Messiaskönig wie David oder durch direktes göttliches Eingreifen erwartet wird. Das Reich Gottes selbst wird durch Gerechtigkeit charakterisiert sein, die jeder Sippe und Familie in Israel Landbesitz und ein Auskommen garantieren wird. Die Vorstellung der Welt, die mit der Königsherrschaft verbunden ist, sieht die Welt zunächst als Gottes Schöpfung. Die Menschenwelt ist aufgeteilt in Israel und die nichtjüdischen Völker. Hier wird der Gott Israels durch sein Handeln die Rechte Israels wiederherstellen.

Es gibt so etwas wie eine Rahmenkonzeption des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in der Reich-Gottes-Vorstellung. Innerhalb dieser entwickeln die verschiedenen jüdischen Gruppen charakteristische Varianten, die sich etwa in der Vorstellung einer oder mehrerer messianischer Mittlerfiguren, in der Bedeutung Jerusalems, in der Rückführung der Diaspora oder in der Rolle der Tora in diesem Prozess ausdrücken.

Die Königsherrschaft Gottes ist demnach eine ereignishafte Wirkkraft, zu der sich der Mensch entschieden und folgenreich zu verhalten hat. In diesem Sinn verwendet Jesus von Nazareth den Begriff und bezeichnet mit ihm die herausfordernde Nähe und Präsenz des Machtbereichs des einen und einzigen Gottes, der Himmel und Erde und alles, was darinnen ist, gemacht hat, dessen Thron der Himmel und dessen Fußschemel die Erde ist. Ich wähle hier bewusst, die bildreichen und anschaulichen biblischen Aussagen, da Abstraktionen wie „Schöpfergott“ oder „Wille Gottes“ zwar sinnvoll sind, aber nicht dazu führen dürfen, dass der semantische Hintergrund biblischer Sprache verloren geht.

Basileia kommt im Neuen Testament etwa 162 Mal vor, davon ca. 140 Mal in der Wendung „Königsherrschaft Gottes“ oder „Königsherrschaft der Himmel. Etwa 55 dieser Nennungen von basileia tou theou/ton ouranon finden sich bei Mt, 46 bei Lk, 14 bei Mk, ca. acht in der Apg, zwei bei Joh, sechs bei Paulus und nur eine in der Apk. Von besonderer Bedeutung ist, dass in den Passagen, in denen Mt und Lk nahezu wörtlich übereinstimmen, in der sogenannten Logienquelle oder Q, die Wendung 14 Mal sicher (Mt=Lk im Nicht-Mk), insgesamt aber vermutlich ca. 20 Mal vorkommt. Der Begriff Königsherrschaft wird demnach vor allem in der synoptischen Überlieferung genutzt, wobei noch auf zwei wichtige Besonderheiten in der Verwendung aufmerksam zu machen ist. Die Logienquelle, Mk und Mt thematisiseren die Königsherrschaft als solche, etwa in der Formulierung „die Königsherrschaft ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,14), und verstehen sie als eigenständige Sache. Das lukanische Schrifttum (Lk und Apg) hingegen verbindet den Begriff häufig mit einem Verb des Sagens und Meinens (verbum dicendi) zu Wendungen wie „die Königsherrschaft verkündigen“, was dann für die Evangeliumsverkündigung überhaupt steht (z. B. Lk 4,43; 8,1; 9,2.11.60 u. ö.; Apg 1,3; 8,12 u. ö.). In Mt wiederum findet sich die Besonderheit, dass überwiegend von Königsherrschaft der Himmel die Rede ist, womit eine hebräische Wendung (hebr. malchut schamajim; מלכות שמים) aufgegriffen wird. Im Ergebnis ist deutlich, dass der Begriff Königsherrschaft vor allem in der synoptischen Tradition begegnet, bei Paulus und Johannes hingegen zwar auch bekannt ist, aber nur eine geringe Rolle spielt.

Die Königsherrschaft Gottes gilt den synoptischen Evangelien als der zentrale Begriff für die Verkündigung Jesu. Er bildet die Mitte seiner Theologie im Sinne der Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch.

Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu lässt sich also innerhalb des Judentums seiner Zeit als kontextplausibel und kohärent einordnen. Um vor diesem Hintergrund die kontextuelle Individualität oder Originalität der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung herauszuarbeiten, ist auf die Texte der ältesten Jesusüberlieferung selbst einzugehen. Nach Darstellung des Markusevangeliums lässt sich die Verkündigung Jesu mit folgenden Worten zusammenfassen:

Mk 1,15: Die Zeit ist erfüllt und die Königsherrschaft Gottes ist nahe heran gekommen, kehrt um und glaubt an das Evangelium!

In diesem markinischen Satz findet sich eine Wendung, die in der ältesten Jesusüberlieferung mehrfach unabhängig bezeugt ist, z. B. in der Aussendungsrede Jesu (Q 10,2–16): „Die Königsherrschaft Gottes ist nahe heran gekommen.“ (Q 10,9; vgl. Lk 10,11; 19,11; 21,31). In zwei weiteren Worten Jesu werden Kennzeichen der Nähe genannt:

Q 11,2: Deine Königsherrschaft komme.

Q 11,20: Wenn ich aber die Dämonen durch den Geist Gottes austreibe, dann ist doch die Königsherrschaft Gottes schon zu euch hingelangt.17

In beiden Logien, d. h. in der Bitte aus dem Vaterunser und in dem Wort über die Dämonenaustreibung, wird die Königsherrschaft als in Bewegung dargestellt: Sie soll „kommen“ (Q 11,2) und ist bereits an Orte „gelangt“ (Q 11,20), wo etwas geschieht, was in Relation zu Gott steht, nämlich das Gebet und Dämonenaustreibungen. Damit wird deutlich, dass die Königsherrschaft nicht als physikalischer oder durch geographische Grenzen definierter Raum vorgestellt ist, sondern als ein dynamisches Geschehen, als ein „Ereignis“.18 Gottesherrschaft ist der Bereich, in dem der Wille Gottes die Herrschaft angetreten hat. Dieser sich verwirklichende Wille „kommt“ zu den Betenden, ist „nahe“ und drängt, wo er „hingelangt“, die widergöttlichen dämonischen Mächte weg. Die Gottesherrschaft ist somit ein dynamischer Machtraum, der sich über den Bereich erstreckt, in dem Gottes Macht wirksam geworden ist. Diese Sichtweise wird durch ein weiteres Logion ausgedrückt:

Lk 17,20b.21: Die Gottesherrschaft kommt nicht mit Beobachtung, (21) noch wird man sagen „Siehe hier“ oder „(siehe) dort“. Denn siehe, die Gottesherrschaft ist direkt bei euch (gr. entos hymon; ἐντὸς ὑμῶν).

Luther übersetzte mit der kirchlichen Tradition das entos hymon in Anlehnung an das Lateinische intra vos mit „inwendig in euch“ und damit kaum zutreffend. Die Präposition entos bringt zum Ausdruck, dass etwas in der unmittelbaren Nähe vorhanden und verfügbar ist. Die neueren Kommentare nehmen das auf und übersetzen: „Die Herrschaft Gottes ist verfügbar für euch“19 oder „Das Reich Gottes (ist) in dem Raum, der der Eure ist“.20 Nun stellt sich die Frage, in welchem Sinne die Gottesherrschaft „kommt“, „hingelangt“ ist oder „da ist“. Ist sie eher zukünftig oder eher gegenwärtig vorgestellt? Die genannten Logien machen deutlich, dass die Verkündigung Jesu hier keine klare Grenze zieht. Sie verbindet vielmehr die Aussage, dass eine entscheidende Wende auf Erden bereits in der Gegenwart eingetreten sei, mit der Erwartung, dass eine umfassende Erfüllung der Königsherrschaft Gottes sich noch ereignen werde.21 Selbst die Frage, ob sich diese Erfüllung auf Erden oder in einer transzendenten Welt („Himmel“) vollziehen werde, kann nicht klar beantwortet werden. Jedenfalls erscheint die Königsherrschaft als „Gegenwelt“ zum Bestehenden und umfasst die gesamte Schöpfung.22