Die Krone der Schöpfung

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5.

Die Wirklichkeit bleibt mir verschlossen, aber das bedeutet nicht, dass es sie nicht geben würde. Dasselbe gilt für die Vergangenheit, oder, präziser formuliert, für ein beliebiges Ereignis in der Vergangenheit. Die Wirklichkeit zu verstehen würde bedeuten, ihre Unermesslichkeit zu verstehen. Ihre Unermesslichkeit definiert sich durch die Unbeschränktheit der Ursachen, die zwischen den Ereignissen wirken können. Auf welche Art die Ursachen wirken, kann ich untersuchen. Aber die größte Zahl dieser Ursachen liegt hinter meinem Informationshorizont. Ich weiß einfach nichts davon. Was sich hinter der nächsten Hausecke ereignet, sehe ich nicht. Und der Hausecken gibt es viele.

Je mehr Ursachen ich kläre, umso deutlicher wird die erkenntnistheoretische Lücke zwischen meiner Erfahrung und der Wirklichkeit. Man hat das Wissen eine Kugel genannt, die im Ozean des Unwissens schwimme. Mit jedem Erkenntnisgewinn wird sie größer, und daher nimmt die Oberfläche und ihr Kontakt mit dem Unwissen zu.

Die Wirklichkeit wird nicht verstanden, die Wirklichkeit wird zuerst empfunden. Wenn ich die Umstände der Heirat zwischen Carlos II von Spanien und Marie Louise d’Orléans klären will, kann ich die Quellen des Jahres 1679 sammeln und zum Beispiel versuchen, die Rolle der Kirche und der Inquisition anhand der Dokumente zu entschlüsseln. Ich kann Analogien herstellen, versuchen, ein hegemoniales System heutiger mit einem hegemonialen System vergangener Tage zu vergleichen. Und je weiter ich voranschreite in meiner Erkundung, umso deutlicher wird, dass ich niemals wissen kann, was ein Zeuge des Autodafés am 22. November eben jenes Jahres auf der Plaza Mayor in Madrid empfunden hat. Ich werde niemals wissen, was die Verbrennung von zweiundzwanzig Ketzern anlässlich der Hochzeit eines Monarchen für ihn bedeutete.

Man findet die Darstellung dieses Problems üblicherweise nicht in historischen, sondern in philosophischen Werken, und dort in der Abteilung der Philosophie des Geistes. Das Bewusstsein eines anderen Menschen, eines anderen Tieres, bleibt uns verschlossen. Ich kann niemals wissen, ob meine Begriffe in einem anderen Menschen dieselben Empfindungen auslösen oder ob wir dieselben Begriffe für unterschiedliche Sinneswahrnehmungen verwenden. Man nennt dieses Problem in der Philosophie die Qualia, und es beschreibt die Erkenntnis, dass jedes Bewusstsein letztlich in sich selbst eingeschlossen ist.

Wenn ich einem Menschen begegne, dann kann ich ihn befragen, was er unter einem gewissen Wort versteht, mit dem er ein beliebiges Ereignis beschreibt. Es ist nicht üblich, den Verfasser zu konsultieren, falls man sein Werk nicht versteht, aber da es die Möglichkeit grundsätzlich gibt, geht der Leser davon aus, dass der Korpus der Begriffe dem Korpus der Empfindungen entspricht. Dies liegt hauptsächlich am Umstand, den die deutsche Sprache treffend den »Erfahrungshorizont« nennt und den ich mit meinen Zeitgenossen potenziell teile. Potenziell: nur als Möglichkeit teile, aber alleine die Möglichkeit reicht, um zu behaupten, dass sich Begriffe und Wirklichkeit meiner Mitmenschen in weitgehender Übereinstimmung mit meiner Empfindung befinden, und, falls nicht, man Missverständnisse ausräumen könne. Man muss sich nur darüber austauschen. Aus diesem Austausch entsteht ein wesentlicher Teil der kulturellen Produktion.

Im Falle der Toten ist die Ausräumung dieser Missverständnisse nicht möglich. Wir können die Toten nicht befragen, in welchem Sinne sie ein gewisses Wort verstanden und verwendet haben. Wenn ich einen Text aus dem Jahre 1913 lese, der äußersten zeitlichen Grenze, für die es noch Zeugen gibt, dann gehe ich davon aus, dass die meisten Begriffe meinem heutigen Verständnis entsprechen. Ich lese einen Satz aus dem »Fliegenpapier« von Robert Musil, aber ich erschließe diesen Satz mit der Empfindung eines Menschen des Jahres 2020. Etwas anderes ist unmöglich. Trotzdem gehe ich davon aus, dass die Übereinstimmung zwischen seinem und meinem Empfinden so groß ist, dass ich das, was er sagen wollte, ungefähr verstehen kann. Natürlich stocke ich, wenn ich in seinem Text die Worte »Aeroplane« und »Negeridole« lese. Mein Stocken führt aber nicht dazu, dass ich glaube, den Text nicht zu verstehen, ich füge diese kleine Unsicherheit bloß auf den unterschiedlichen Sprachgebrauch zurück, nicht auf einen grundsätzlichen Unterschied zwischen seinem, Musils, und meinem Empfinden.

Aber das ist nur eine hilfreiche Unterstellung. Es ist denkbar, dass für Musil jeder einzelne Begriff eine völlig andere Bedeutung besaß und meine Interpretation des Textes ein vollkommenes Missverständnis darstellt. Der Wortschatz kann der gleiche bleiben, die Bedeutung hingegen eine völlig andere sein, und nur die Grammatik würde uns dazu verleiten, das von Musil Gemeinte mit meinem Gemeinten zu verwechseln.

Wir sprechen davon, dass ein Ereignis »weiter« in der Vergangenheit liege als ein anderes. Wir benutzen einen räumlichen Begriff und behelfen uns mit einer Analogie. Die Zeit schafft allerdings keine Distanz. Der Moment von vor fünf Minuten ist nicht »weiter« entfernt als jener von vor fünftausend Jahren: Der eine ist so unzugänglich wie der andere. Der Unterschied besteht alleine in der Zahl der Quellen und der Zeugen, die mit der Zeit abnehmen.

An einer anderen Stelle habe ich versucht, dieses Problem anhand eines einzigen Begriffes anschaulich zu machen, des Wortes συμφιλεῖν nämlich, mit dem die Titelheldin des Stückes »Antigone« des Sophokles ihren Widerstand gegen die Staatsgewalt rechtfertigt. Heute übersetzen wir dieses Wort üblicherweise mit »mitzulieben«, aber Antigones Liebesbegriff wird mit unserem kaum in eine Übereinstimmung zu bringen sein. Und da wir weder Sophokles noch seine Zeitgenossen fragen können, wie er dieses »symphilein« gemeint haben könnte, entstehen Missverständnisse.

Diese Missverständnisse sind manchmal schädlich und manchmal nützlich, wirksam sind sie meistens. Dies beweist das Beispiel Hegels, der in seiner »Phänomenologie des Geistes« Antigone als Zeugin anführt, allerdings mit Worten, die sie niemals gesprochen hat.

6.

Ein Mensch ohne Empfindung hat keinen Begriff von der Wirklichkeit, und er hat auch keinen Begriff von der Wahrheit. Aber die Empfindung allein reicht nicht, gerade der Wahnsinn fühlt sich wirklich und wahr an. Jeder Mensch ist der einzige Zeuge seines Bewusstseins, und da er die Empfindung nicht teilen kann, braucht er das Wissen, um sich über diese Wirklichkeit auszutauschen.

7.

In seinem Aufsatz »Spurensicherung« aus dem Jahre 1979[7] legt der Historiker Carlo Ginzburg unfreiwillig die Achillesferse der Geschichtswissenschaft offen. Er führt die Entstehung der Schrift auf einen historischen Prozess zurück, der aus der Notwendigkeit des Jägers rührt, Tierspuren zu »lesen«. Ginzburg schafft hier eine Analogie zum Wahrsager, der ebenso eine Realität minutiös erkundigt, um andere Ereignisse, die Gegenwart eines Tieres oder die bevorstehende Hungersnot zu entdecken. Und obwohl Ginzburg mit dieser Herleitung nur beabsichtigt, eine alternative Methodenlehre der Geschichtswissenschaft zu etablieren, eben jene, die dann in das mündete, was man heute Mikrohistorie nennt, bezeichnet er in diesem Abschnitt die Qual der Geschichtswissenschaft mit sich selbst: »Aber der grundsätzliche Unterschied ist unseres Erachtens ein anderer: Die Wahrsagung bezog sich auf die Zukunft und das Spurenlesen der Jäger auf die – vielleicht nur sekundenalte – Vergangenheit.«

Was Ginzburg hier nicht erwähnt: Ich kann die Zeugen und die Quellen der Vergangenheit so lange und gründlich studieren wie ich will, ich werde dadurch keine Aussage über die Eigenschaft geschichtlicher Ereignisse in der Zukunft treffen können. Es spielt keine Rolle, ob man die Gründe für diese Unmöglichkeit in der Kontingenz oder in der Willensfreiheit sieht. Die Geschichte kann in diesem Sinne nicht als Wissenschaft gelten, wie die Physik oder die Chemie als Wissenschaften betrachtet werden, die beide den Anspruch haben, verlässliche Aussagen über die Art und Weise der unter bestimmten Umständen eintreffenden Ereignisse »in der Zukunft« voraussagen zu können.

Ein Pendel »gehorcht« den Newton’schen Gesetzen, und es wird, so lehrt uns die Physik, ihnen auch morgen und übermorgen gehorchen. Die Sprache unterstellt die Herrschaft eines Gesetzes, das zu entschlüsseln die Aufgabe einer Wissenschaft ist. Welchem Gesetz unterwirft sich die Geschichtswissenschaft?

Die Angst der Historiker wie Carlo Ginzburg, dass unter dem Ansturm des postmodernen Relativismus der begriffliche Kernbestand ihrer Disziplin pulverisiert werden könnte, war berechtigt. In seinem Kampf um Wahrheit und Wirklichkeit, in seiner Abwehr gegen die Anwendung erzähltheoretischer Konzepte auf die Geschichtswissenschaften, wie Hayden White sie in »Metahistory« vorgeschlagen hat, vergaß Ginzburg, dass sich die Postmoderne auch aus einer Ideologiekritik entwickelte. Die totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts verstanden sich als große Erzählungen, in denen jeder Akteur seinen bestimmten Platz einzunehmen hatte. Die Trümmer und die Leichenberge, die diese Narrationen hinterlassen haben, die Einsicht, dass der Anspruch auf absolute Wahrheit in einer gesellschaftlichen Ordnung zu Mord und Totschlag führt, und der gleichzeitige Versuch, den Anspruch auf die Durchdringung der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, führte in die Dekonstruktion der überkommenen Formen. Die Postmoderne, ihr Insistieren darauf, dass niemand den Anspruch haben kann, jenseits der Formen zu agieren, ist zum Problem für alle geworden, die erneut nach der Heimat in einer großen Erzählung suchen.

 

8.

Wir Zeitgenossen sollten weiter sein. Es gibt keinen Grund für ein Reenactment vergangener Schlachten. Die Literaturwissenschaftlerin Muriel Pic hat in einem langen Essay, der in in der Zeitschrift »Incidence« erschien,[8] einen dritten Weg vorgeschlagen, um jenseits des postmodernen Relativismus und der gefährlichen Sehnsucht nach einer integralen und integrierenden Erzählung eine Empfindung für die Wirklichkeit zu entwickeln. Sie schlägt die Philologie vor, die Deutung und Auslegung der Fragmente, um die Vielzahl der zerbrochenen Wirklichkeiten lesbar zu machen. Gewiss würden diese Methoden der Einsicht entsprechen, dass nach dem zwanzigsten Jahrhundert die Wirklichkeiten nur als Scherben gedeutet werden können. Allerdings könnte es sein, dass dieser Vorschlag zu spät kommt. Im Zuge der neurophysiologischen Forschung und im Windschatten des Triumphes der Evolutionstheorie haben jene, die Geschichte nicht nur lesen, sondern schreiben wollen, längst begriffen, dass die menschliche Vorstellungskraft das Kriterium der Wahrheit nicht braucht, um sich ein Bild von der Wirklichkeit zu machen. Nur die Anschaulichkeit, die Plausibilität, oder, um wieder eines der entlarvend schönen Worte der deutschen Sprache zu benutzen, die »Glaubwürdigkeit« entscheidet letzten Endes über die Wirkungsmacht einer Erzählung, und es ist einerlei, ob es eine literarische, eine politische oder eben eine historische Erzählung ist. Alleine der Status des Erzählers entscheidet, welchen Wert seine Erzählung hat, ob ich sie als wahr betrachte oder nicht. Gerade deshalb hat sich meine Generation dringend zu fragen, wie sie mit dem Verlust der letzten Zeugen der Shoah umgehen will. Und wir erleben gerade, dass allenthalben versucht wird, die Deutungslücke, die sich durch dieses Verschwinden ergibt, ideologisch zu besetzen. Die Rekapitulation der bisherigen Positionen wird die Tradierung nicht sicherstellen, ebenso wenig die verständlichen, aber nutzlosen Abgrenzungsversuche zwischen Fakt und Fiktion, Literatur und Geschichtswissenschaft. Jede Empfindung für Wahrheit und für Wirklichkeit bedarf nicht zuerst des Wissens, sie bedarf des Vertrauens. Um dieses Vertrauen haben wir uns zu bemühen, die eigene Glaubwürdigkeit sollten wir pflegen, als Individuen und als Institutionen, weder die Offenlegung unserer Mittel noch das Eingeständnis ihrer Beschränktheit dürfen wir scheuen, wir müssen uns selbst in aller Rücksichtslosigkeit kritisieren und dabei auf unsere Redlichkeit bestehen, als Schriftsteller, als Historiker, als Menschen.

Das Ulmensterben

Bevor ich mich einer bestimmten Art der Ascomycota widme, will ich die Aufmerksamkeit kurz einer Sache zuwenden, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie betrifft eine gewisse literarische Form, die weit verbreitet ist und der ich neulich in einer Kurzgeschichte begegnet bin. Als mir am Ende eines langen und arbeitsreichen Tages nach leichter Zerstreuung war, fiel mein Blick im Bücherregal zufällig auf einen Band, den ich vor zwölf oder mehr Jahren aus der Wühlkiste meiner Buchhandlung gefischt, bisher aber nicht gelesen hatte. Auf drei Dutzend Seiten lernte ich jetzt eine junge Frau kennen, die mit ihrer asthmatischen Schwester in einer namenlosen Provinz lebt. Die Eltern längst tot, die Aussichten auf eine Heirat gering mit täglich abnehmender Tendenz, entkommt sie der Enge ihres Daseins nur durch Theateraufführungen, die sommers in einer nahe gelegenen Stadt gegeben werden. Jedes Jahr besucht die Frau diese Vorstellungen mit glühendem Herzen und lässt die kranke und argwöhnische Schwester derweil einen Sonntagnachmittag alleine.

Nach einer Vorstellung von Shakespeares »As You Like It« und mit dem Kopf noch bei Rosalind und Orlando im Wald von Arden, vergisst unsere Heldin in der Toilette des Theaters ihre Handtasche. Geld, Fahrkarte, Schlüssel: unauffindbar. Tränen, Angst, Verzweiflung; die Heldin nun an jenem Punkt, den man in Hollywood Plot Point nennt.

Auftritt Hund, Rasse Dobermann, er hat sich losgerissen, daher gefolgt von einem Mann. Kurzer Dialog auf den Treppen des Theaters, danach Spaziergang in seinen Laden, in dem der Mann werktags Uhren repariert. Er serviert der jungen Frau nun ein karges, aber schmackhaftes Mal aus Gulasch und Rotwein, das als frugal zu bezeichnen die Autorin vermeidet. Geplauder über dieses und jenes. Während der Dobermann artig in einer Ecke wartet, stellt sich bald eine Vertrautheit ein. Später am Abend begleitet der Mann sie zum Bahnhof, wo er ihr die Karte für die Rückfahrt kauft. Beim Abschied auf dem Schotter am Ende des Bahnsteigs schenkt er ihr den ersten Kuss ihres Lebens und nimmt ihr das Versprechen ab, nach Ablauf eines Jahres dasselbe grüne Kleid anzuziehen, den gleichen Zug zu besteigen und seinen Laden mit den Uhren aufzusuchen. Was dort geschehen soll, wird nicht gesagt, aber die Aufregung, die das arme Wesen nun die nächsten zwölf Monate auf Trab hält, lässt vermuten, dass die Verheißung nicht in einem weiteren Teller des ungarischen Rindereintopfs besteht.

Man liest mit angehaltenem Atem und will wissen, ob die Heldin ihren Uhrmacher tatsächlich wiederfindet, wie sie es ihrer hilflosen und asthmatischen Schwester beibringen und welcher Art das Unglück sein wird, das unweigerlich zuschlagen muss. Glücklich enden diese Geschichten nie. Die Erzählung übrigens ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, und so sehr ich die Autorin für ihre Handwerkskunst bewundere, scheint mir diese Erzählung ein prototypisches Beispiel für einige der grundlegenden und potenziell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur zu sein, die, wenn sie sich nicht von diesem stilistischen Efeu befreit, daran ersticken wird.

Damit man mich richtig versteht: Es liegt nicht an dieser spezifischen Geschichte. Sie steht nur als Exempel. Man findet dieselbe Manier bei allen Erzählungen dieser Autorin, die übrigens mit einigen hohen, ja den höchsten Ehrungen ausgezeichnet wurde. Das Problem beschränkt sich gleichfalls nicht auf diese Autorin. Wäre dies der Fall, würde ich keine Zeit damit verlieren, denn es müsste genügend Auswahl geben, um auch für meinen Geschmack das Passende zu finden. Nein, dieses Genre und seine Konventionen haben mittlerweile eine horizontale, vertikale und folglich hegemoniale Verbreitung gefunden. Nur deshalb nehme ich mir Zeit und Mühe, um in aller Kürze und bevor ich auf das eigentliche Thema komme, das Problem in seinen Grundzügen darzulegen.

Zuerst: Diese Literatur überlässt der Psychologie das alleinige Primat. Die sozialen, ökonomischen, politischen Bedingungen der handelnden Figuren werden höchstens nebenbei erwähnt und im Ungefähren belassen. Die erzählerische Anstrengung gilt dem Versuch, die Grenze des Mentalen zu überschreiten und das Problem der Qualia für einen Augenblick aufzuheben. Bekanntlich weiß niemand, wie es ist, ein anderes als das eigene Bewusstsein zu besitzen, und jeder Versuch, diese erkenntnistheoretische Grenze zu überwinden, gehört in den Bereich des Fantastischen, eine Eigenschaft, die deshalb wesensmäßig zu dieser Art von Literatur gehört.

So führt sie in der Regel eine beliebige Person ein und beginnt, diese so lange ihrer gesellschaftlichen Hüllen zu entkleiden, bis sie nackt vor uns steht. Und wie weiland die Leichen im anatomischen Theater, so liegen alsbald diese Heldinnen vor uns, und wie der Präparator dort die Muskeln, Gewebe und Nerven, geht die Erzählerin hier nun daran, die Wünsche, Begierden, Gedanken und Affekte dieser Heldin freizulegen. Die Erzählerin besitzt zu diesem Zwecke ein literarisches Seziermesser, mit dem sie jede Schutzschicht wie etwa Selbsttäuschung, Lebenslügen und falsches Gerede beiseiteschafft – und sie verfügt darüber hinaus über einen fantastischen Röntgenapparat, der das unsichtbare Geschehen aufzeichnet und ins Bild rückt. So wandelt diese arme Heldin nach wenigen Seiten seziert und bis auf die Knochen entblößt durch ihre provinzielle Existenz. Den Augen der fiktiven Figuren bleiben diese Vivisektionen hingegen verborgen. So heißt es etwa in jener Erzählung über unsere Heldin: »Die Mühe, die sie darauf verwendet hat, es geheim zu halten, war vielleicht gar nicht erforderlich, angesichts der Meinung, die die Leute sich von ihr gebildet haben – die Leute, die sie jetzt kennt, irren sich darin genauso gründlich wie die Leute, die sie vor langer Zeit kannte.«

Man braucht hier nicht zu wissen, was diese Person geheimhalten will oder muss, und es ist ebenfalls einerlei, worin die Leute irren: Entscheidend ist die deutliche und unüberbrückbare Trennung zwischen dem Wissen der Leserin und jenem der Figuren. Nur wir Leser erkennen sie als zerfledderten Rest einer pathologischen Untersuchung. Alle anderen, ob Protagonist oder Antagonist, haben davon keine Ahnung und behandeln sie auch weiterhin wie eine der ihren.

Natürlich findet diese Behauptung keine Grundlage in der Wirklichkeit. So wie in Schauergeschichten Vampire empfindlich gegen Sonnenlicht sind und in der Science-Fiction Raumschiffe schneller als das Licht reisen, handelt es sich um eine Konvention des Genres. Während sich dort der Leser niemals fragt, ob diese Behauptung in den Bereich der Wirklichkeit oder der Hirngespinste gehört, behauptet dieses Genre einen Realismus, eine dokumentarische Haltung. Niemals bringt diese Literatur ihre eigene Fantastik zum Bewusstsein. Hier wird nichts erschaffen und nichts konstruiert, hier wird bezeugt, und deshalb unternimmt diese Belletristik alles, um den Anschein der Natürlichkeit zu bewahren und ihre Künstlichkeit zu verbergen. Sie kaschiert jede Nahtstelle und hängt die Mechanik ab. Ihre Instrumente, Retuschierpinsel und Concealer, versteckt sie schamhaft, und obwohl gerade in der Fabriziertheit ihre Kraft liegen würde, fürchtet sich diese Erzählform vor der eigenen Puppenhaftigkeit und es bleibt die Frage, was der Grund für diese Angst ist.

Weil ich die Sache nicht unnötig verlängern und endlich zu Ophiostoma novo-ulmi und dem Ulmensterben wechseln will, darf ich summarisch auf jene Erzähltheoretiker verweisen, die bereits vor langer Zeit definierten, dass nur jemand zum Helden werden kann, der mit aller Kraft ein bestimmtes Ziel verfolgt, er muss nach etwas streben, das er vorderhand nicht in die Hände bekommt. Die zur Frage stehende Literatur weiß noch davon, aber es gibt für ihre Heldinnen kein Abenteuer mehr. Die Gesellschaft, in der sie leben, hat dies nicht vorgesehen, im Gegenteil, ihre Absicht besteht gerade darin, durch den Fortschritt alle Fährnisse von ihren Bürgern fernzuhalten. Und weil es keine Gefahr gibt, fehlt ebenso die Entscheidung zwischen Erlösung und Untergang. Alles was den Heldinnen bleibt, ist ein langsames Absterben. Es gibt keinen Konflikt mehr, und weil das nicht hinzunehmen ist, weil es nämlich die Bedeutungslosigkeit der Heldin und gleichzeitig der Erzählung beweisen würde, wird behauptet, dass sich der Konflikt in die Innenwelt der Figuren verlagert habe und es nun unter den interessierten Blicken einer zugewandten Leserschaft die erste Aufgabe der Erzählerin sei, ihn von dort zu befreien und ans Tageslicht zu befördern. Allerdings bleibt auch dies, da es ja ein Vorgang ist, der nur für die Lesenden sichtbar ist, für die Dramaturgie weiterhin wirkungslos. Die Lösung für dieses narrative Dilemma liegt in einer Epiphanie, in der Erscheinung des Göttlichen, des Transzendenten. So bricht früher oder später unweigerlich die Metaphysik in eine Existenz, in der es dafür weder Form noch Sprache gibt. In der nämlichen Erzählung besteht dieser Einbruch darin, dass der Mann nach dem verstrichenen Jahr unsere Frau, die pünktlich in einem zwar anderen, aber immerhin grünen Kleid in seinem Laden erscheint, wortlos ins Gesicht schlägt. Zerstört kehrt die Frau zu ihrer kranken Schwester zurück, die irgendwann stirbt, sie bleibt trotzdem unverheiratet, hat hier und da eine Affäre, aber leidet ihr Leben lang an dieser Kränkung. Schließlich erfährt sie durch Zufall, dass jener Mann, der sie geschlagen hat, überhaupt nicht der übrigens längst verstorbene Uhrmacher, sondern sein taubstummer und eineiiger Zwilling war und sie also, so die Schlussfolgerung des gebildeten Lesers, ihr Leben ebenfalls im Wald von Arden verbracht hatte, ohne jemals den Weg nach draußen zu finden. Und so ist der Fluchtpunkt aller perspektivischen Hilfslinien dieser zur reinen Manier, zum toten Stil herabgesunkenen Literatur, jenes Gefühl, das uns am Ende der Lektüre mit jenem typischen Kloß im Hals zurücklässt und das darüber hinaus die bürgerliche Gesellschaft grundiert, die unstillbare Sehnsucht nämlich.

 

Gemeinsam mit ihren dargestellten Figuren ersehnt diese Literatur die Erfahrung und das Leben, und weil es niemals geschieht, weil überhaupt nichts geschieht, spricht, wer diese Art von Literatur verteidigt, gerne über »Atmosphäre«, flüchtet sich in »die Stimmung«, in »das, was ungesagt bleibt«. Sie verzichtet auf eine historische Situation, arbeitet jedoch exzessiv mit dem Kolorit einer Epoche. So wird in dieser Erzählung ganz zu Beginn eine gewisse Jacqueline Kennedy erwähnt, besser gesagt ihre Frisur, die unsere Heldin nachahmt. Wer diese Person ist, wird nicht erklärt. Die Autorin geht stillschweigend von einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund aus, der durch die Erwähnung eines toupierten Schopfs eine Kaskade von stereotypen Bildern auslöst: bestimmte Automobile, eine besondere Art von Musik, eine Kulisse, in der wir eine gewisse Zeit erkennen sollen, ohne länger darüber nachzudenken. Es handelt sich hier um eine weitere Andeutung, die ihre spezifische Funktion zu spielen hat.

Diese Erzählung ist zum ersten Mal im Jahre 2004 erschienen, das heißt, kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001, in einer Zeit, die von großer Verunsicherung geprägt war. Niemand wusste, in welche Richtung sich die gesellschaftliche Entwicklung bewegen würde. Die fünfziger und frühen sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, jene Epoche, da die gesellschaftliche Revolution von 1968 die Übersichtlichkeit und die Grenzen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen noch nicht eingerissen hatte, waren zu einer Zeit geworden, die ein Mensch jener Tage mit nostalgischen Gefühlen betrachtete. Es geht nicht um die Analyse einer Epoche, es geht um das Gefühl der Sehnsucht, und ihre belletristische Produktion folgt den Gesetzen eines bestimmten Marktes.

Ein literarischer Text im Spätkapitalismus muss, ganz im Einklang mit den Forderungen an irgendeine andere Ware, viel versprechen und wenig halten. Es ist sein Fetischcharakter, der ihm seinen Wert gibt. Der Fetisch steht für das Abwesende, das nicht Verfügbare. Der literarische Text darf nicht vollständig verstanden werden. Das Erzählen flüchtet sich deswegen in die Allegorie, in das andere Bild, in die Andeutung, den Verweis, damit wir dort als Leser ein Geheimnis vermuten, das niemals zur Sprache kommen kann und das wir ersehnen. An nichts leidet der bürgerliche Mensch so sehr wie an der Entzauberung seiner Existenz. Diese erzählerische Tendenz, diese Flucht vor der Klarheit und der Verständlichkeit findet vorderhand keine Korrektur, im Gegenteil, es scheint so etwas wie eine Eskalation zu geben. Je eindeutiger die Trivialliteratur wird, je mehr sie sich den absoluten Kategorien von Thriller und Porno angleicht, desto mehr flieht die sogenannte Belletristik ins Ungefähre. Das ist der Platz, der dieser Literatur geblieben ist, die Funktion, die sie zu erfüllen hat, und es scheint gut möglich zu sein, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Leserinnen und Leser die Literatur des ausgehenden zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts als grotesk empfinden werden, nicht wegen der Überzeichnung, sondern wegen exzessiver Langeweile.

Aber genug davon, nun endlich zu Scolytus scolytus und seinem Reifefraß, der am Anfang dieser Tragödie steht.

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