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9



Lilljehorns Schlaf war leicht gewesen. Das Schnarchen seines Burschen Fritz, dessen Bett von seinem nur durch einen Paravent abgetrennt war, ließ ihn immer wieder hochfahren. Wovon der wohl träumte, träumte er überhaupt? Er mochte Fritz, weil er mit ihm Deutsch sprechen konnte, bevor er sich an seinen Werther setzte. Ja, seit dem gestrigen Abend wusste er, er schrieb jetzt nicht mehr für sich, jedes seiner Worte war nun bedeutsam.



Eine Stunde früher als üblich ließ er sich von Fritz das Frühstück aus der Küche heraufbringen. Zwieback, Kaffee und Butter. Wie immer nahm Fritz Haltung an, wenn er von seinem Herrn einen Befehl erhielt, wenn er Stiefel putzte, Gewehre lud, beim Ankleiden half, Schnallen polierte, Pferde striegelte oder sich einfach unsichtbar machen sollte. Dabei erfüllte ihn eine tiefe Zufriedenheit, denn die Armee war ihm eine gütige und ernste Heimat. Selbst wenn es nicht die große und mächtige Armee des Preußenkönigs war. Die Armee achtete ihn, gab ihm Kost und Logis.



Nach dem Kaffee trat Lilljehorn auf die Straße. Der Winter war zurück. Ihm blieb noch ein halber Tag zum Dienstantritt. Für seine wirkliche Arbeit musste er rasch wach werden. So hoffte er auf die schneidende Kälte. Wohin ihn seine Schritte lenkten, kümmerte ihn nicht. Allmählich wurde es selbst in den schmalen Gassen der Stadt milchig weiß. Er dachte an die letzte Ossian-Szene im Werther:

»Armar kam in seinem Grimm, drückt ab den grau befiederten Pfeil, er klang, er sank in dein Herz, o Arundal, mein Sohn! Statt Erath, des Verräters kamst du um, o Arundal, mein Sohn!«



Musste nicht jede empfindsame Seele gerührt werden? Als er aufblickte, stand er vor der Tyska Kirkan. Die Turmuhr schlug sechs, jetzt begann der Morgengottesdienst. Deutsche Handelsherren, Seeleute vor dem Auslaufen und Dienstboten drängten sich in den hölzernen Bänken. Lilljehorn freute sich über jedes deutsche Wort, und die Kantate »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Erde« stimmte ihn feierlich.



Nun erklomm ein neuer Pastor aus Stralsund die Kanzel aus Ebenholz und Alabaster. Er hatte den Mann noch nie gehört, der nun mit gepresster Stimme die Geschichte von der Heilung des Wassersüchtigen am Sabbat auslegte. Das Gleichnis sei so zu verstehen, dass die Erzählung vom Wunder, das nicht stattgefunden haben müsse, keineswegs gegen die Vernunft spreche. Denn Jesus als Rabbi und Gelehrter verfügte über Kenntnisse der Kräuter und Arzneistoffe, die er gegen das Vorurteil des Sabbats zur allgemeinen und größeren Glückseligkeit einsetzte. So wie man einen Ochsen, ein Nutztier, am Sabbat aus einem Brunnen ziehen dürfe, müsse man auch am Tag des Herrn das allgemeine Wohl befördern. Nur eine unaufgeklärte Epoche halte starr an der Arbeitsruhe von Sonnabend bis Sonntag fest.



Ungestüm erhob sich Lilljehorn aus seiner Bank und trat ins Vestibül. Dabei stieß er an das Regal mit den Gesangsbüchern, von denen mehrere zu Boden fielen. Als er das erste Buch zurücklegen wollte, fiel ein zusammengefaltetes Papier auf den Boden. Mit sicherem Strich waren da Mann und Frau dargestellt – sie nackt, nach hinten über ein Sofa gebeugt, mit entblößter Scham. In wilder Lust legte sie ihren Kopf in den Nacken, erwartete den Liebhaber. Vor ihr ein schmächtiges Männlein mit Hakennase und ungepflegtem Haar, ebenfalls halb nackt, sein erigiertes Glied knapp vor dem Eindringen. Hinter diesem Mann war eine zweite Figur deutlich zu erkennen, ein hochgewachsener Offizier, jedenfalls stärker und männlicher als die Gestalt vor ihm. Dieser zweite stützte den ersten und führte dessen Glied in die Scham der Frau. Jedes Kind hätte die drei Personen erkannt. Die Frau war die Königin, der schmächtige Mann der König und der Offizier sein Vertrauter aus Jugendtagen, Adolf Frederik Munck. Und um jeden Zweifel zu zerstreuen, war mit ungelenker Hand die Beschriftung hinzugefügt: S. Magdalena, G. III, Munck.





10



Auf der engen Straße vor dem Kirchhof drängte sich schon das Volk. Immer noch hielt er die Zeichnung aufgefaltet. Als sich ein fettes Mondgesicht grinsend über seine Schulter beugte, steckte er das Blatt zerknüllt in seine Brusttasche. Auf dem Rückweg zur Kommandantur brannte das Papier wie eine fiebrige Wunde direkt am Herzen. Wohin nur damit? Einem subalternen Polizeidiener wollte er sich nicht anvertrauen. Außerdem, der Dienstweg – bedeutete das nicht von Amtsstube zu Amtsstube ein ständig lauter werdendes Getuschel, zuerst ein böses Kichern hinter vorgehaltener Hand, dann: »Haben Sie das schon gesehen, Herr Kollege, degoutant, aber …«, schließlich: »Wer weiß, vielleicht hat Munck doch einen Kuckuck in das königliche Nest gelegt.« Türen fliegen auf, gehen zu, »der Zettel, unverschämt, aber die Ähnlichkeit des Thronfolgers mit Munck, man kann sagen, was man will, besonders der Nasenrücken.« So würde man wohl reden. Und Sivers selbst? Der kannte vermutlich schon jeden Federstrich, würde nicht einmal einen neuen Akt anlegen.



Seine Stube zog ihn nicht an. Mit der Fistelstimme des Pastors und der Schundzeichnung im Kopf wollte er Werthers Vorbereitungen zum Tod nicht entweihen. Als ihm vor dem Slottsbacken ein Wachsoldat mit vorschriftswidrig langer Säbelkordel entgegenkam, schnauzte er ihn an.



Die Kinder hatten sich verdrückt, die Maronenröster spähten nach spärlichen Kunden. Ein vom Unrat der Stadt fleckig gewordener Neuschnee machte die Straßen zum Riddarhuset gefährlich glatt. Die Menschen gingen vornübergebeugt die Häuserzeilen entlang, tasteten nach den Mauersimsen. Am Myntgatan gab es kein Weiterkommen. Eine Landwehrkompanie aus Finnland sperrte den Zugang zur Norrmalmbrücke. Lilljehorn fand sich unversehens zwischen Fußgängern, fluchenden Kutschern und nervösen Pferden eingekeilt. An ein Ausweichen war nicht mehr zu denken. Und dann spürte er den Geruch des Hasses, der von all diesen auf ihr Weiterkommen bedachten Menschen aufstieg. Rotwangig waren sie, ein kräftiges, unversöhnliches Geschlecht.



Vor ihm kam Bewegung in die Gruppe. Arme flogen in die Luft, die Masse setzte zurück, von den Kolbenstößen der Soldaten verscheucht. Der Blick auf die Straße war nun frei. Von aufgepflanzten Bajonetten flankiert, stolperte ein Haufen zerlumpter Gestalten zur Schiffsanlegestelle am Strandsvägen. An den Füßen trugen sie zu grotesken Bündeln zusammengeflickte Stofffetzen. Was ihnen vom Leib hing, war einst Uniform gewesen. Graue Lappen. Die Menge um Lilljehorn war zum Stehen gekommen, ein großes Tier, das Atem holte, bevor es seinen Fang schlug, ein trotz Kälte und Hieben unbesiegbares Monstrum. Ein Schrei erhob sich, schwebte über den Augen und Mündern der Gaffer, bevor er sich auf ihnen niederließ, um hundertfach wiederholt und verstärkt zu einem einzigen tödlichen Vorwurf zu werden: Russen. Jemand hinter ihm spie in Richtung der Gefangenen, der Geifer streifte seine Wange. Russen, immer wieder Russen. Aus den Augenwinkeln heraus sah Lilljehorn, wie sich Burschen am Rand der eingepferchten Menge bemühten, das Pflaster der Straße aufzureißen. Einen Augenblick später prasselten Steine sirrend auf den Weg, den die Gefangenen zu nehmen hatten. Die Begleitmannschaft trieb die Russen zu einer schnelleren Gangart. Wenn die Menge in einstimmigem Jubel aufheulte, blieb einer von ihnen liegen. Kein Soldat wagte es, den Gestrauchelten die Ketten abzunehmen oder ihnen auf die Beine zu helfen.



Schon war der Zug außer Reichweite der Geschosse, als sich eine schmale Gasse auftat. Eine Gruppe schwedischer Offiziere umringte einen einzelnen Gefangenen, der sie um Haupteslänge überragte. Er trug Vollbart wie einer, der wochenlang seinen Kerker nicht verlassen hatte. Anders als die Fremden suchte er den Blick der Menge und fand ihn. Die Schreie verstummten, mancher Stein glitt ungeworfen zu Boden. Der Gefangene hob die geketteten Hände zum Gruß empor. Seine Lippen formten ein Wort, zuerst nur ein Krächzen nach den Tagen des Schweigens, dann schon lauter und immer wieder: Freiheit. Das Jagdfieber der Menge war erloschen. Eine dicke Fischhändlerin schluchzte als Erste. Fäuste ballten sich, Hüte flogen, in verzücktem Crescendo stimmten sie alle ein in den Ruf nach Freiheit. Der Bärtige rührte sich nicht von der Stelle, in der Haltung des Siegers nahm er die Ovationen der Empörung entgegen. Als die jüngeren unter den Offizieren ihre Gewehre schon senken und die ersten Schritte der Verbrüderung tun wollten, befahl der Kommandant eine Salve über die Köpfe der Menge. Unversehens löste sich das große Tier auf, zerfiel in Beamte, Mägde, Kanzleidiener, Kontoristen. Der Spuk war vorbei. Der Bärtige hatte sein Publikum verloren. Lilljehorn kannte ihn wohl. Es war Oberst Hästesko, der im russischen Krieg mit 112 anderen Offizieren Friedensverhandlungen mit der Zarin aufgenommen hatte. Für den Hof war das Hochverrat. Auf ihn wartete der Galgen im Hammarbysbacken. Alle anderen hatte Gustav begnadigt, nachdem sich der Hauptschuldige Jägerhorn rechtzeitig über den Kymmen nach Russland abgesetzt hatte. Hästesko blieben noch zwei Stunden.



In seinem Quartier wartete Fritz schon auf die Orders für das Mittagessen. Nein, allein speisen wollte er heute nicht. War er nicht bei Horn immer willkommen? Den Waffenrock und die Zeichnung legte er nicht ab, Fritz bekam nur die Stiefel zum Putzen. Wie gut kannte er seinen Burschen? Sicher, er liebte den Dienst in der Armee, aber hätte er nicht mit der gleichen Ergebenheit bei Russen, Preußen, Österreichern gedient? War er das Volk? Konnte er lieben? Empfand er überhaupt? »Fritz, du bist doch Deutscher. Warum sehe ich dich nie in eurer Kirche? Ich habe heute euren Pastor gehört.«



Fritz erhob sich schwerfällig: »Herr Oberst, gehorsamst, ein Mädchen, die Britta aus der Badstubenstraße, Sie wissen. Die Britta steht in Diensten des alten Horn, der mit seinem Gesinde vor ein paar Tagen auf seinen Landsitz abgereist ist.« Er schwieg. »Herr Oberst, das ist es doch nicht. Sie waren immer gut zu mir, aber ich gehe nun schon auf die fünfzig zu. Die Britta ist jünger und ein prächtiges Weib. Unsereiner kann sie nicht zur Frau nehmen, solange man dient. Da wird mir oft ganz eigen im Kopf, wie es in unserer Welt eingerichtet ist. Mit der Britta könnte ich zu Hause in Pommern einen Hof bewirtschaften. Die Erde ist dort schwarz und üppig. Und der gelbe Raps im Sommer, so was haben Sie noch nie gesehen, Herr Oberst.«

 



Noch nie hatte Fritz so lange zu ihm gesprochen. »Nun ja, der Pastor«, fuhr er fort, »sagt, an Wunder braucht man nicht zu glauben, der Herr Jesus bringt uns das Sittengesetz bei, das nur einmal in den Schädel müsste, das genügt dann schon. Mir und Britta hat’s nicht genügt, seitdem geh ich nicht mehr zu den Lutheranern.« Dann: »Was nutzt das Sittengesetz uns Habenichtsen? Was ist das für eine Kirch ohne Wunder?«



Am liebsten hätte Lilljehorn Fritz umarmt, aber er brachte nur heraus: »Fritz, guter Mann, kann jetzt abtreten. Ausgang bis morgen!«





11



Als Lilljehorn den Klara sjö über die Brücke nach Kungsholmen überquert hatte, ärgerte er sich über seinen Plan, Horn zu besuchen. Zugesagt hatte er ihm ja nie, und außerdem hatte Horn vergessen, ihm das Haus anzugeben. Also noch anderthalb Meilen die Kungshomsgatan auf und ab schlendern, um guten Willen zu zeigen und dann wieder zurück ins Quartier. Dienstmägde klapperten mit ihren Holzschuhen eilfertig über die Brücke und unterdrückten manchen Fluch, wenn sie sich an Lilljehorn stießen und schwarzes Bier aus ihren Krügen verschütteten. Er musste sich entscheiden: entweder das Mahl bei Horn oder sich mit den Happen zufriedengeben, die Fritz in der Offiziersmesse finden würde. Er blickte zurück zur Altstadt, der Insel zwischen den beiden Schleusen. Eine niedere Sonne warf ihr müdes Licht auf die Turmspitze der Riddarholmskirche. Schlaff hingen die Wimpel von der Burg auf Strömsborg. Während er missmutig nach einem Hinweis Ausschau hielt, bemerkte er, wenige Schritte von ihm entfernt, dort wo die Straße in einer sanften Kurve nach links bog, einen glänzend schwarz lackierten Schlitten. Vom Türschlag hob sich ein gelbes Wappen unter einer Grafenkrone ab. Im Wappenschild ein schwarzes Horn. Er war also angekommen.



Im Bürgerhaus führte eine saubere, helle Stiege in zwei Obergeschosse. Im ersten Stock stand die Tür zu einer Wohnung offen. Zwei Maler strichen die Wände und achteten nicht auf ihn. Es roch scharf nach Lack und poliertem Holz. Horns Appartement musste eine Etage darüberliegen. Dort saß ein Diener ohne Livree auf dem Korridor und öffnete ihm grußlos. Die Räume waren hier höher, die Fenster schlanker. Der Lakai schloss hinter ihm ab. Aus dem Speisezimmer, wo Besteck und Gläser klirrten, stürzte der junge Graf auf ihn zu: »Eine freudige Überraschung, lieber Lilljehorn, Sie erweisen mir tatsächlich die Ehre!« Horn sprach sehr schnell, die Wörter überschlugen sich. »Gerade heute sehen Sie mich fast ohne Dienerschaft. Mein Vater braucht Leute auf seinem Landsitz, dem alten Kasten. Hier wohnt es sich doch bequemer. Ich muss leben wie ein Bürger, einerlei, wen stört das heutzutage noch.«



Horn schob seinen Gast direkt ins Speisezimmer. Auf eng zusammengerückten Stühlen saßen die Gäste vor einem Tisch, der unter halbgeleerten Karaffen und regellos übereinandergeschobenen Tabletts verschwand. Möbel fehlten noch gänzlich. Vom verlorenen Sohn war da die Rede, der zurückgefunden habe. Reichlich übertrieben, fand Lilljehorn. Einige der Anwesenden kannte er vom Tanz im Solnaer Wirtshaus, aber niemand spielte darauf an. Carlotta war nicht hier. Die Diener servierten die Speisen sehr rasch, beiläufig verzehrte man sie, ohne Dankbarkeit oder Genuss. Lilljehorns Leute hätten sich um die marinierten Hähnchen oder den Malvasierwein geprügelt. Er war froh, dass die Gespräche an ihm vorbeiflossen. Wer sollte beim nächsten königlichen Karussell den Drachen spielen, den seine Majestät alias König Artus zu besiegen gedenke? Man erhitzte sich darüber, ob das Edelfräulein vor ihrer Rettung volle zwei Stunden untätig in den Kulissen ausharren müsse, denn so lange dauerte in der Inszenierung des Königs der Angriff des Artus. Dann ging es um Hästeskö, wie lange er hätte leiden müssen. »Schweigen Sie zu diesem Verbrechen!«, rief Horn. »Eine Schande, dieses Urteil in einer aufgeklärten Zeit.«



Für einen Augenblick verstummte das Klirren und Klappern der Gläser. Ein Beamter mit gekräuseltem Haar versuchte zu widersprechen, doch kaute er noch an seinem Hähnchen: »Aber lieber Freund, verzeihen Sie, also ich kann nicht beistimmen. Denken Sie, wie viele von uns …« Er nahm einen Schluck Malvasier, um den letzten Bissen hinunterzuspülen. »Nun, wie viele von uns zur sagenumwobenen Mamsell Ulrica Arfvidsson gehen, um sich die Zukunft aus dem Kaffeesatz lesen zu lassen, jawohl, aus dem Pulver von Kaffee.«



»Reichlich naiv, Herr Engeström«, meldete sich Lilljehorns Nachbarin zu Wort. »Sie vergessen die anderen Reize dieser – sagen wir – Dame.«



Die Gesellschaft spaltete sich in hitzige Verteidiger und Ankläger der schwedischen Pythia. Es hielt niemand mehr auf den Stühlen. Sie sei die schönste Frau Stockholms, hieß es. – Nein, das könne man so nicht sagen, sie zeige sich bei ihren Sitzungen nur hinter einem Vorhang aus Gaze, wohl um ihre Pockennarbe zu verbergen. – Wie töricht so eine Verleumdung sei, würde denn ein Baron von Essen, der doch nur an den süßesten Früchten nasche, eine entstellte Vettel als Geliebte halten? – Da wäre doch jemand mit dem Leben am Hofe nicht vertraut: Essen habe Carlotta de Geer im Auge, nicht so eine. – Dann eben Liebchen Graf Armfelts oder gar des Herzogs Carl.



Zum Kaffee konnte man sich endlich erheben. Horn zog den Oberstleutnant in den Musiksalon, wo sich noch niemand eingefunden hatte. »Wie schätze ich mich glücklich, Sie als Gast zu haben. Mit Ihrem Werther fühle ich mich verwandt, wissen Sie, ich dilettiere und versuche mich an Schiller. All die verlogenen Schwätzer ringsum, die elende Bühnensucht, dort dürfen sie sich noch produzieren wie die Affen.« Horn sprach abgehackt, schielte zur Türe, die Zeit bemessend, die noch für ein offenes Wort blieb. »Meine ganze Liebe gilt der Freiheit, aber politische Ansichten habe ich dabei gar nicht. In der Dichtung allein atmen wir frei. Sehen Sie in mir den Freund, auf den Sie immer zählen dürfen.«



Die Lakaien öffneten die Flügeltüren des Salons, und Horn verstummte. Man stellte die Stühle in vier Reihen um das Pianoforte. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Maestro Mozart war dessen letzte Klaviersonate ausgewählt worden. Kanzleirat Engeström schob sich zwischen den Grafen und Lilljehorn: »Meine Herren, nun ganz unter uns, noch ein Nachtrag: die Beine der Mamsell, superb, famos, unübertrefflich, zwei schlanke Säulen aus Marmor. Ich denke, sie macht sie gerne breit für …«



Horn wandte sich brüsk ab und kündigte als Solisten den Hofkompositeur Kraus persönlich an. Applaus, erwartungsvolle Blicke, und es trat ein – Ribbing. Gelächter. Ribbing tat überrascht, verbarg in gespielter Scham sein Gesicht und tänzelte im Ballettschritt die erste Reihe entlang. Abermals Gelächter. Als man sich beruhigt hatte, erklangen schon die ersten Akkorde der Sonate in D-Dur, ein Jagdmotiv. Aber der Kompositeur war um seinen Auftritt gebracht worden. Noch während des ersten Satzes, jedenfalls deutlich vor dem elegischen Parlando des zweiten, tauschten die Gäste bedeutungsvolle Blicke, versuchten, Ribbing nahe zu sein. Horn, in sich gekrümmt, bemühte sich, von der Musik ergriffen zu sein. Immer mehr starrten nun unverhohlen Lilljehorn an. Hatte Ribbing den Leuten was gesagt? Man steckte die Köpfe zusammen, tuschelte. Schließlich hatte Kraus ausgelitten. Ohne Verbeugung verließ er die Gesellschaft. Der Salon leerte sich. Horn war mit der Verabschiedung seiner Gäste beschäftigt, Lilljehorn blieb im Gedränge um die Garderobe zurück. Vor ihm in erheblichem Durcheinander die nach neuester Mode bespannten Stühle, manche umgestürzt – Zeugen einer plötzlichen Verstimmung.



Auf ihnen lagen Zettel, kleiner als die Notenblätter, die man kaum beachtet hatte. Auf einem fand Lilljehorn einige rasch hingekritzelte Zeilen: »Wer dient der Heimat eher mit der Feder als mit dem Schwert? In wessen Wappen müsste man wohl ein Tintenfass aufnehmen? Wer tafelt zusammen mit einem Puppenspieler und einem Mohren?« Er drehte das Blatt um und fand die Antwort, sein eigenes Porträt. Als Marionette hielt er mit zittriger Hand ein aufgeschlagenes Buch. Schmerzlich dünne Fäden gingen durch Fingerspitzen, Ellbogen und Nasenspitze und liefen zusammen in der Hand des großen Puppenspielers, des Königs, der als grotesk vergrößerter Popanz über der Bühnenwand des Marionettentheaters die Fäden in der Hand hielt. Lilljehorn kannte Stil und Strich der rasch hingeworfenen Skizze. Der Urheber des Pamphlets aus der Tyksa Kirkan war vor wenigen Minuten noch mit ihm im selben Salon gewesen.





Sivers an den Polizeiinspektor Lastbom





Schicken Sie den Idioten, der bei Horn zugesehen hat, wie unter seiner Nase eine hochverräterische Karikatur anonym verbreitet werden konnte, in den Arrest oder meinetwegen an die russische Grenze. Noch so ein Versagen, und Sie dürfen ihm Gesellschaft leisten. Wie bring

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