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7

Im Gasthof herrschte lautes Durcheinander. Monvel drängte mit seiner Kompagnie zum Aufbruch, die Gäste der abendlichen Tanzveranstaltung strömten in den Speisesaal und verlangten nach dem Frühstück. Ribbing machte mit Carlotta seine Honneurs, stolzierte von Tisch zu Tisch. Lilljehorn wäre am liebsten Monvel ins Freie gefolgt, aber der war mit dem Beladen seiner Schlitten beschäftigt. Französische und schwedische Flüche drangen vom Tor des Gatters in die Stube. Ob Wagenknechte sich um die Vorfahrt drängten, oder ob die Pferde störrisch nicht ins Geschirr gingen – Lilljehorn wusste es nicht und wollte es nicht wissen. Erst als er sich mit dem siedend heißen Kaffee die Lippen verbrüht und seine Tasse zerbrochen hatte, sah er sich um und nahm an den Gästen eine merkwürdige Verwandlung wahr: Während er abends noch mit Carlotta allein unter Fremden getanzt hatte, kannte er nun beinahe jedes Paar, jedes Gesicht. Der grobe Bürgerrock hatte der seidenen Tracht des Adels Platz gemacht. Unter ihren Perücken erkannte er sie wieder, Name und Titel stellten sich ein. Hier die Grafen Horn, Vater und Sohn, dann Baron Bjelke, Graf Anckarström und Dutzend andere, denen man im Königsschloss, in der Oper oder in den feinen Salons der gehobenen Gesellschaft begegnete.

Natürlich hatte auch Carlotta ihr weißes Kleid mit den blassrosa Schleifen abgelegt und erschien jetzt in ihrem glänzenden Reisekostüm. Der Vorhang war gefallen, das Spiel von gestern zu Ende. Ihn hielt hier nichts mehr. Einem Knecht gab er den Auftrag, die wenigen Reiseutensilien in den Schlitten von Ribbing zu verstauen. Doch der war untröstlich, er habe mit Madame de Geer seine Aufwartung bei deren Eltern zu machen und könne dem Herrn Oberstleutnant den Umweg nicht zumuten. Aber es stehe ein bequemeres Fuhrwerk parat mit einer, so wiederholte der Bursche, um ja kein Wort zu verdrehen, höchst interessanten Gesellschaft. Lilljehorn fügte sich, dankbar, dass ihm die Peinlichkeit zu dritt erspart geblieben war, musste aber Carlotta zum Abschied die Hand küssen. Dann sah er sich noch einmal um, sah in den Tanzsaal, wo er diese Hände umfasst hatte, wo sie beide allein gewesen waren, alles in allem. Ein letzter Händedruck, dann riss er sich fort.

Draußen war nach der Abfahrt der Franzosen Ordnung eingekehrt. Schon auf dem Trittbrett des Schlittens wurde ihm bewusst, dass man ihn erwartet hatte. »Herr Oberstleutnant, es ist mir ein Vergnügen. Wir haben, meine ich, schon unsere Bekanntschaft gemacht. Maskenball März 91 bei Gräfin Fersen. Jedenfalls darf ich Ihnen meinen Vater und hier General Pechlin vorstellen.« Es war der junge Klaes Horn, der so munter drauflosplapperte, als ob sie die besten Duzfreunde wären.

Einen Maskenball bei den Fersens hatte er nie besucht. »Meine Herren«, erwiderte Lilljehorn, »ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir aus einer Verlegenheit geholfen haben.« Weiter wusste er nicht, er fühlte sich im engen Schlitten, dessen Bedeckung geschlossen war, wie lebendig begraben. Den General mit dem ständig sarkastischen Lächeln kannte er wohl vom Hörensagen als Rebell und Verfechter der Adelsmacht im Reichstag. Der alte Horn, ein bulliger Mitfünfziger, sah abwechselnd zu seinem Sohn Klaes und zu Pechlin. Lilljehorn tat so, als ob er an der vorbeiziehenden Landschaft interessiert wäre, aber bald schon vereiste das Glas des Schlittens. Den drei Gesichtern vor ihm, die sich wie Larven vor der dunklen Bespannung des Schlittens abhoben, war er bis Stockholm ausgeliefert.

Endlich setzte Horn ein: »Gestern beim Ball«, er räusperte sich, doch sein Sohn blickte betreten zu Boden, »also gestern beim Ball gaben Sie und Carlotta ein schönes Paar ab, viel ­Esprit, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort, Esprit. Und dieses Ungestüm beim Deutschen Tanz, Courage, mein Lieber. Und dann Monvel mit seiner Ohrfeige, Sie verstehen, keine Gelegenheit, ein vernünftiges Wort zu wechseln. Wie es der Zufall fügte, hatten sich mehrere Patrioten zu dieser harmlosen Unterhaltung auf dem Lande zusammengefunden, doch die Lage in unserer Heimat – unsere Gedanken, waren mitten unter diesen Zerstreuungen abwesend, jedes unserer Gespräche drehte sich um das Unglück unserer Nation.«

Jetzt streckte Pechlin seinen Kopf aus dem Pelzmantel hervor und bedeutete Horn zu schweigen. »Was Graf Horn sagen will – wir hätten uns auch gerne mit Ihnen unterhalten und wollen jetzt nur das Missverständnis ausräumen, wir hätten Sie von unseren Räsonnements ausgeschlossen. Sie genießen einen hervorragenden Ruf, auf Leute wie Sie müssen wir hören. Was in Frankreich passiert, ist Ihnen bekannt. Wie denken Sie darüber? Ist auf Ihr Regiment und auf die Artillerieeinheiten Verlass, wenn es zu einem Umsturz kommt? Gehorchen die Leute ihren Kommandanten bedingungslos?«

Das war er wieder, Pechlin, der nach der Machtübernahme durch Gustav geflohen und als einer der wenigen Aristokraten verhaftet worden war. Dann hörte man wenig von ihm, seine ausgedehnten Besitzungen in Alhult und sein Palais auf Blasieholmen durfte er aber behalten. Lilljehorn war auf einmal hellwach. Denn einer der Obersten, die ihre Einheiten dem König bei seinem Staatsstreich gegen den Reichstag zur Verfügung gestellt hatten, war der alte Graf Horn gewesen, jetzt Reisegefährte Pechlins. In welche Natternbrut war er da geraten: »Meine Herren, ich habe keinen Grund, an der Treue und der Loyalität meiner Garde dem König gegenüber zu zweifeln. Über Politik spreche ich mit Subalternen grundsätzlich nie.«

Pechlin zeigte kein Anzeichen von Missmut: »Nichts anderes haben wir von Ihnen erwartet. Aber ich bin mir sicher, wir werden noch des Öfteren miteinander reden.«

Horn ergänzte: »Ja, Herr Oberstleutnant, reden wir doch ganz privat. Sie sind in meiner Wohnung in der Kungsholmsgatan stets willkommen.«

Ferne Hufe auf gefrorenem Boden, dann Wiehern, Schnauben, Knarren von Lederzeug, am Ende gedämpfte Kommandorufe. Der Schlitten hielt. Lilljehorns geschultes Ohr schätzte die Stärke der wie aus dem nichts aufgetauchten Reiter auf eine halbe Schwadron. Er öffnete die Bedeckung und wurde von Major Hartmannsdorf begrüßt. »Herr Oberstleutnant, ich habe den Auftrag, Sie und die Herren Pechlin und Horn sicher nach Stockholm zu geleiten.« Der Major war gar nicht abgesessen und stob schon durch den pulvrigen Schnee davon. Den Rest der Fahrt schwieg Lilljehorn beharrlich. Wer hatte den Befehl gegeben, wieso wusste man, mit wem er fuhr? An seinen Werther wollte er denken, auch an Carlotta, aber es wollte ihm nicht gelingen.

Mamsell an Polizeiminister Sivers

Herr Minister, die Orakel verheißen nichts Gutes. Gestern waren zwar nur unbedeutende Gäste zu meiner Séance geladen, aber im Kaffeesud erkannte ich den Schrei aus einem offenen Mund. Man beginnt schon über unheilvolle Vorzeichen zu sprechen. Sie glauben, ich fantasiere, aber ich hätte Ihnen nicht geschrieben, wenn ich nicht auch Nachrichten erhalten hätte, wie sie beunruhigender nicht sein könnten.

Ohne Annoncen in den Stockholmer Zeitungen fand in der Schenke des Frederik Fagerberg im Solnaer Forst eine Art Ball statt, für den man sogar Monvel als Tanzmeister engagiert hatte. Mein Informant erklärt nun, alle Gäste seien am besagten Abend incognito erschienen, harmlose Bürger auf den ersten Blick, tatsächlich aber einflussreiche Mitglieder des Reichstags. Irgendwann geriet das Fest außer Kontrolle. Oberstleutnant Lilljehorn kam offensichtlich Madame de Geer zu nahe, vielleicht von ihrem Auftreten als deutsches Liebchen entflammt. Sie jedoch zeigte ihm die kalte Schulter und verbrachte die Nacht mit Graf Ribbing. Danach grölte ein betrunkener Schauspieler aus Monvels Truppe jakobinische Parolen, er wurde von Monvel geohrfeigt, der Tanz ging vorzeitig zu Ende.

Über die Gespräche selbst hat mein Informant nichts in Erfahrung gebracht. Nur so viel: General Pechlin, die beiden Grafen Horn, Ribbing und Baron Bjelke steckten andauernd ihre Köpfe zusammen. Mein Informant fürchtet, enttarnt zu werden, ich soll ihn abziehen. Mittlerweile hat er vom Schicksal des Wagenknechts erfahren, er ist in Sorge. Es wird immer schwieriger, verlässliche Leute einzuschleusen. Ich selbst fühle mich beobachtet, aber ich kenne Wege, die niemand geht. Meine inständige Bitte: Sorgen Sie dafür, dass der Unteroffizier bei meiner nächsten Séance tatsächlich erscheint. Durch gezielte Indiskretionen sollte es gelingen, die Neugier der feinen Gesellschaft zu wecken. Dort laufen die Fäden zusammen.

Polizeiminister Sivers an Graf Armfelt

Exzellenz, ich bitte Sie, darauf Bedacht zu nehmen, dass trotz der patriotischen Stimmung, die unser edler Landesherr im Theater zu entfachen vermochte, mir meine Fliegen etwas anderes ins Ohr summen. Der Tote im Friedhof von St. Jakobi war Opfer eines gezielten Mordes, der Schlag wurde direkt gegen die Polizei geführt. So viel kann ich Ihnen brieflich mitteilen. Es ist von höchster Bedeutung, auf Ew. Majestät einzuwirken, nur unter dem Schutz meiner Leute in Gesellschaft zu erscheinen. Meine Informanten berichteten von einem Ball im Solnaer Forst, in dem sich führende Mitglieder des Reichstags und jakobinisch gesinnte Schauspieler incognito getroffen haben. Ich kenne die Namen.

Am Hof können wir niemandem mehr wirklich trauen. Möge Exzellenz erwägen, dieses Billett unverzüglich zu vernichten.

Champagner bekommen Sie beim Moskowiten Semjonow. Die Qualität soll sein wie früher.

Mamsell an Seine königliche Hoheit Herzog Carl

Königliche Hoheit, da ich das Vergnügen habe, Sie als Mann von vorurteilsfreier Gesinnung zu kennen, ist es mir eine Ehre, Sie zu meiner nächsten Séance am 3. Januar in meine Wohnung in der Johannesgatan 23 einzuladen. Ihre Anwesenheit als Prinz unseres edlen Hauses wird meine Gäste inspirieren, sich ohne Argwohn den Mächten der Geisterwelt hinzugeben.

 

Ergebenst Ulrica Arfvidsson

8

Plötzlich liebte Oberstleutnant Lilljehorn Carlotta nicht mehr. In der Nacht nach dem Tanz hatte ein warmer Südwind das Eis unter den hölzernen Bogen der Skeppsholmbron gesprengt. Dieser Wind, sanfter Bruder eines fernen Sommers, ließ die Kinder reihum tanzen auf den Gassen und Plätzen der königlichen Stadt. Die Großen verließen ihre Kontore, hoben ihre Blicke von den Rechnungsbüchern, stellten sich breit vor ihre Geschäfte. Ihre Münder standen offen, ihre Gesichter wurden weich und unverstellt wie damals, als sie selbst reihum tanzten.

Am nächsten Morgen tobten Krähenschwärme über den hohen Himmel, da wurde es Lilljehorn ganz leicht ums Herz. Ja, er gehörte einer neuen Zeit. Monvel musste recht haben. Auf dem Himmelsrund zeichneten die schwarzen Vögel ihre Bilder, fuhren dann nach allen Seiten auseinander und trafen sich wieder zu immer neuen Figuren.

Es war Dienstag. Überraschenderweise hatte man das Kommando über die Leibgarde für die große Hofgesellschaft mit öffentlicher Tafel ihm übertragen. Tagsüber studierte er also das Reglement für den wöchentlichen Höhepunkt des königlichen Hoflebens. Er versuchte immer wieder sich einzuprägen, wann er wie viele Schritte von der königlichen Familie entfernt zu stehen hatte. Aber sein Kopf war schwer und leicht zugleich und wollte sich die Ordres nicht merken.

Noch immer johlten die Buben auf den Straßen. Ihn hielt es nicht mehr auf der Kommandantur. Die Kastanienröster aus den Weiten des Ostens, aus Polen, manche aus Odessa, legten ihre mit Wolfspelz besetzten Mäntel ab und drückten aus zahnlosen Mündern lächelnd Kindern heiße Maronen in die Hand. Ein Gruß aus dem Land der Pomeranzen. In der Mannschaftsunterkunft im Parterre fügte sich alles in beste Ordnung, die Epauletten glänzten wie die Gürtelschnallen, und selbst die Befehle der Unteroffiziere hatten einen milderen Klang.

Endlich neigte sich der Nachmittag dem Abend zu. Im Geviert des Schlosshofes lag die letzte Sonne auf den dorischen Kapitellen des Säulenganges. Lilljehorn marschierte mit seinem Detachement zur Prunkstiege, die zum Weißen Saal führte. Kammerherr Hans von Essen empfing ihn auf der obersten Stufe und führte ihn, so wie es auch im Reglement festgehalten war, an die Stirnseite des Saales, wo er direkt hinter der königlichen Tafel Aufstellung bezog. Seine Männer sicherten die Ausgänge. Schon drängten hohe Staatsbeamte, Kavaliere, Hofdamen, Offiziere des Generalstabs und ausländische Diplomaten in den Saal. Der Kammerherr blieb gelassen, wohl auch, weil Armfelts dröhnendes Lachen aus dem dumpfen Brausen des Saales aufstieg.

Dann war da auch Carlotta. Sie wollte sich gerade mit Ribbing an einen Platz an der Längsseite des Saales begeben, als Hans von Essen ihr seinen Arm bot und sie näher an die königliche Tafel führte. Sie saß jetzt zur Rechten des österreichischen Gesandten. Er grüßte sie, sie grüßte ihn und begann dann mit dem Gesandten ihre Konversation. Endlich öffneten sich die Flügeltüren, und es wurde still. Es erschien der König, kleiner als die Königin mit ihren hohen Absätzen. Er hinkte leicht. Wie bei jedem Empfang trug er den mit Brillanten besetzten Seraphimorden, goldene Knöpfe und Spangen und auch den Federhut, den er gewählt hatte, als er auf seiner Barke Amphion in die Schlacht gegen Russland gezogen war. Seine Gefährten würden versichert haben, dass nichts den Glanz seiner Augen übertraf. Nur wenige Schritte trennten Lilljehorn vom Monarchen, als dieser zu den Diplomaten schritt. Hätte Gustav jetzt einige Worte an ihn gerichtet, er wäre zu keiner Antwort fähig gewesen. Aber der König ging vorbei. Nun hielt er Hof und richtete das Wort an jeden Gesandten in dessen Muttersprache. Nur ein Gecke, es musste wohl ein deutscher Junker gewesen sein, den seine Cavalierstour nach Rom geführt hatte, erdreistete sich, dem König auf Italienisch zu antworten. Der setzte sich wie jeden Dienstag an den Spieltisch. Alles drängte sich dicht um ihn. Die Gesichter verschwammen vor Lilljehorn. Er hätte nicht sagen könne, ob auch die Agenten Sivers zur Bedeckung darunter waren.

Die Minuten krochen dahin. Immer wieder ging er das Reglement durch, bei welchen Vorkommnissen er seinen Platz verlassen durfte und musste. Wer war befugt, die Treppe abzuriegeln und Verdächtige zu arretieren? Endlich meldete der Hofmarschall, dass serviert sei. Um die nächsten Plätze beim König entbrannte ein verschwiegener Streit. Reichsrätinnen, Oberhofmeister, jüngere Hofdamen vergaßen ihre Toilette, schon saßen die ersten Perücken schief. Zwischen Spanischer Suppe und Pfau mit Trüffeln winkte der König den einen oder anderen Würdenträger zu einem Gespräch heran. Dabei öffnete sich dem Erwählten eine Gasse durch die Reihen der Gäste. Lilljehorn verstand bloß Wortfetzen. Einer der Erwählten war Hans von Essen. Als der König zwischen dem Gesandten Englands und dem Rektor der Universität Uppsala einige Worte an ihn richtete, fiel er vor Gustav auf die Knie und küsste dessen Hand. Dann blickten beide, der Erste Kammerherr und sein König, auf Carlotta.

Am Ende des Males servierte der Mohr des Königs kandierte Orangen und Kaffee aus silbernen Karaffen, sie waren ein Geschenk der Zarin aus den fernen Tagen ihrer Freundschaft. Man munkelte, der Mohr habe noch eine Schwester in Stockholm, die einer geheimnisvollen Dame diene. Die zwei Neger, so hieß es, seien ein Geschenk des Sultans, um dem König von Schweden zu danken, doch für welche Gefälligkeit? Der Schwarze hörte auf den Namen Mojo. Es hieß, er habe das Vertrauen des Königs, stehe im näher, als die Herren aus den guten Familien.

Nach der ersten Tasse erhellten sich beinahe gleichzeitig die Gesichter der beiden Prinzen: Die Herzöge Carl und Frederik durften sich jetzt erheben, ihnen folgten die Gattin Carls und die Königin selbst. Man empfahl sich: Die Königin, linkisch und verhärmt, wurde von ihrer Kammerfrau in ihre Gemächer geführt. Dort würde sie die Bibel lesen, wachend und klagend. Die beiden Herzöge konnte man sich in den Armen ihrer Geliebten vorstellen, besonders Carl war in diesen Tagen wie außer sich. Pagen wollten ihn vor dem Zimmer der Madame Rudenschöld gesehen haben, wie er vor ihrer Tür kniete und weinte.

Lilljehorn musste für einen Augenblick unachtsam gewesen sein. Etwas zupfte ihn am Ärmel. Ohne ein Wort wies der Mohr mit der Selbstsicherheit eines Kindes, das von seinem begriffsstutzigen Vater nicht verstanden wird, auf den König. Es bestand kein Zweifel, der Diener sollte Lilljehorn zum König führen. Hinter der hohen Rückenlehne mit den in Gold ziselierten drei Kronen bewegte sich der Arm des Königs, müde und doch gebieterisch. Lilljehorn folgte der Gebärde und nahm vis-à-vis von Gustav Platz. Sonst war niemand mehr an der Tafel, nur der König mit seinem Mohren. Lilljehorn schien es, als ob der Blick des Königs ihn durchdringe, erst hinter ihm in der Saalmitte sein Ziel finde. Weit waren die Augen und erloschen. Dann kam unversehens Leben in seine Züge, er beugte sich vor und schlug Lilljehorn kameradschaftlich auf die Schulter. »Lieber Oberstleutnant, Sie sind doch Poet, ein Mann der Vernunft. Ich stelle Ihnen ein Rätsel:

Wer ist es, der da verspricht, was er nicht gibt,

und gibt, was er nicht versprochen,

der im Anfang groß erscheint und am Ende klein,

der am meisten die Jugend begünstigt

und eine Plage für das Alter ist,

der voller Torheit ist, und dennoch manchen zwingt, weise zu werden,

dem alle schmeicheln und der allen schmeichelt?

Das ist …

Nun, Herr Oberstleutnant?«

Lilljehorns Zunge fühlte sich pelzig an. Wie hätte er das Rätsel nicht kennen sollen? An Hauswänden, auf Kneipentüren, ja sogar am Portal der Riddarholmskyrkan hatte man es angeklebt und wie zum Hohn die Lösung darunter geschmiert: Gustav, immer wieder Gustav stand da in verschieden großen Lettern. Der König selbst war die Lösung, die Lösung des Rätsels und aller Schwierigkeiten.

Die Hand Gustavs lag immer noch auf dem Arm seines Offiziers, zart und knochig. »Keine Bange, Lilljehorn, das Volk hat im Grunde ja recht. Ich kümmere mich um die Jungen. Sie sind jung, Sie übersetzen den Werther ins Schwedische. Mein Kompliment, jetzt, wo Frankreichs Stern erlischt, sollten wir uns neuen Grenzen zuwenden. Plus Ultra. Ich werde die Schwedische Akademie bitten, Ihr Unternehmen zu fördern, betrachten Sie die Drucklegung als gesichert. Ihr Werk wird bleiben.« Die dunklen Ringe unter den Augen Gustavs erschreckten Lilljehorn. »Mein tapferes Volk, es hat große Unternehmungen und Leute wie Sie verdient. Der ganze verlogene Plunder hier – oft habe ich mich gefragt, ob ich in die Schweiz ins Exil gehen sollte oder nach Amerika, die Geburt eines Staates zu beobachten. Aber ich bleibe, ich werde die Mächte des Chaos stürzen. Man hat mich seit Beginn meiner Regentschaft mit Verachtung gestraft, ich werde mir Achtung verschaffen.

Blicken Sie sich um, was das für Menschen hier sind. Ihr ganzes Denken geht dahin, ihren Stuhl möglichst nahe an meine Tafel zu rücken. So mühen sie sich ab, ihr ganzes kleines Leben lang, sie verstehen nicht, dass es auf den Platz gar nicht ankommt. Denn der Erste spielt oft nicht die erste Rolle. Meinen Vater hat der Reichstag zu einer Marionette gemacht. Ich hingegen habe mir die Hauptrolle erkämpft und werde sie spielen, solange ich die Kräfte und Leidenschaften meines Volkes für meine Pläne entfessle. Mein Name und der Name Schwedens sollen in Asien und Afrika bekannt sein.«

Der König sank in seinen Stuhl zurück. Nach einer Pause richtete er sich wieder auf. Lilljehorn hätte seine Stimme beinahe nicht wiedererkannt, als er gefragt wurde, ob man sich unter allen Umständen auf seine, Lilljehorns Truppen, verlassen könne. Der Ton war geschäftsmäßig. Lilljehorn bejahte und verstand in dem Augenblick, dass in dieser Szene nur das eine Wörtchen »ja« für ihn vorgesehen war. Eine lässige Handbewegung, und Lilljehorn konnte abtreten.

Tagebuch des Ersten Kammerherrn Hans von Essen

Ich bemühe mich, die Ereignisse dieses denkwürdigen Dienstags noch vor Mitternacht zu Papier zu bringen. Denn dieser Tag wird mir für alle Zeiten heilig sein. Diese Zeilen, geschrieben am Tag meines Glücks, sind Unterpfand meiner gegenwärtigen und künftigen Seligkeit. Wie immer hielt heute die königliche Familie Hof mit offener Tafel. Das Tauwetter stimmte uns alle heiter, ja nachsichtig. Im Weißen Saal herrschte eine gelöste Freude, zumindest beim Dessert lachte man wieder, was seit dem Russlandkrieg kaum mehr geschehen war. Ich hätte eine Vorahnung haben können, als Seine Majestät zu scherzen beliebte und Lilljehorn mit dem Kommando der Saalwache betraute – ausgerechnet Lilljehorn. XXX hat mir geflüstert, der Oberstleutnant sei mit Pechlin in einer abenteuerlichen Schenke gesehen worden. Dort sei er Carlotta de Geer zu nahegekommen und in Liebe entbrannt wie ein Studiosus in Uppsala. Meine Einwände schob Gustav beiseite: »Die ganze Welt ist Bühne«, sagte er, »wir werden sehen, ob unsere kleine Szene in einer Komödie endet.«

Ich war beauftragt, Lilljehorn zu empfangen und einzuweisen. Beinahe tat er mir leid, der arme Kerl. So stocksteif stand er da, das galante Abenteuer mit Carlotta muss ihm doch sehr zugesetzt haben. Dann kam mein Part, den man mir verschwiegen hatte. Gleich nach dem senilen Rektor der Universität von Uppsala, der verstohlen einige Törtchen in seinen fleckigen Talar gesteckt hatte und nicht wusste, wie er sich ohne großes Malheur verbeugen sollte, winkte mich der König zu sich. Ich dachte an einen Auftrag für die Tafelmusik, aber nun sprach er den Satz, der aus dem Stück und der Zeit herausfiel und mich in die Sphäre des himmlischen Elysium hob: »Lieber Essen, der ganze Hof wartet darauf, dass Sie Ihre Ehe mit Frau Carlotta de Geer bekanntgeben.«

Von Dankbarkeit übermannt, sank ich auf die Knie und küsste unserem Wohltäter die Hände. Ich versuchte mich zu sammeln, erhob mich, um mich herum tanzte der Widerschein der Kerzen und Diamanten. Ohne zu denken, durchschritt ich den Saal, ich weiß nicht, wie oft. Endlich stand ich vor Carlotta. Sie, die meinen zahlreichen Briefen nie die Hoffnung genommen, aber auch nie Hoffnungen gemacht hatte, streckte mir die Hand entgegen. Ich wusste, dass sie wusste: »Teure Freundin«, begann ich, aber sie unterbrach.

»Schweigen Sie, wir haben noch viel zu reden, ein ganzes gemeinsames Leben lang.«

 

Später hat man mir berichtet, Graf Ribbing habe wutentbrannt die Tafel verlassen – ohne sich vom König zu verabschieden. Die Regie Seiner Majestät stimmte wie immer, ein zorniger Liebhaber gehört einfach dazu, besonders einer aus dem alten Adel. Den weiteren Dienst tat ich, so gut ich konnte. Von Lilljehorn geht keine Gefahr aus. Der König bat ihn sogar an seinen Tisch. Dort saß er wie ein Rekrut, vermutlich glücklich über die Taler für sein bescheidenes Büchlein. Am Ende des Abends lobte ihn der König: »An der alten Treue des Lilljehorn uns gegenüber besteht kein Zweifel, ein Schwede und echter Patriot. Sorgen Sie dafür, dass er nichts Unbedachtes tut, es wäre sehr schade!« Doch meine Gedanken waren schon bei ihr. Mit ihrem Namen soll der Tag und dieser Bericht sein Ende finden – Carlotta.