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Die Agenten am Hof haben in Erfahrung gebracht, dass einige Pagen unter ihrer Tracht Seidentücher in den Farben der französischen Sansculotten trugen. Herr von Essen hat sie zurechtgewiesen.



In Göteborg versuchte ein französisches Handelsschiff unter der Flagge der Trikolore die Ladung zu löschen. Entsprechend dem königlichen Erlass blockierte der Hafenkommandant die Einfahrt, woraufhin er von Leutnant Falckenberg vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt wurde.



Die Agentin Mamsell leistet hervorragende Dienste. Ich schlage untertänigst die Erhöhung ihres Honorars auf 200 Reichstaler vor.





Armfelt an Sivers





Der Rädelsführer der Bauern kommt am Sonntag nach dem Kirchgang auf den Spanischen Bock. Die örtlichen Beamten haben wegzuschauen, wenn die Bergarbeiter ihren Aquavit brennen. Papiergeld ist legales Zahlungsmittel. Ich will die Namen der Pagen haben, und zwar bis morgen. Herr von Essen ist zu nachsichtig! Der Leutnant wird nach Gotland versetzt, dort kann er mit Anckarström Füchse zählen. Die Erhöhung des Honorars für Mamsell ist genehmigt, auch die Auszahlung in barer Münze. Aber spannen Sie mich nicht auf die Folter, wer zum Kuckuck steckt hinter Ihrer Mamsell?





3



Der Wirt geleitete Lilljehorn mit seinen beiden Weggefährten am langen Tanzsaal vorbei ins Speisezimmer. Dort waren im dichten Tabaksqualm die Anwesenden mehr zu erahnen, als zu erkennen. Es musste sich aber um eine gemischte Gesellschaft handeln, was Lilljehorn verwunderte. Carlotta, die ihre Toilette in Ordnung bringen wollte, erhielt ein Gemach über einer rußschwarzen Holztreppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte. Den Menüvorschlag des Wirtes hatte sie entrüstet abgelehnt und sich einsilbig zurückgezogen. In der fahlen Mittagssonne tanzte der Staub und hob sich zur schweren Holzdecke. Ein zu hoch gehängtes Gemälde wurde nur von Lilljehorn beachtet. Waren das Trauben, der nackte Wanst eines Bacchus oder ein im klebrigen Fettdunst der Speisen unkenntlich gewordenes Interieur?



Der Hasenbraten schmeckte den beiden Männern gut, vom Wein sagte der Wirt, mit der Zunge schnalzend, er käme aus Frankreich. Zwischen gebratenen Keulen, Rosmarinkartoffeln und gedünstetem Kraut verebbte das Gespräch und kam nach der ersten Karaffe Wein vollends zum Erliegen. Wie sehr wünschte sich Lilljehorn nun, sein Exemplar des Werther bei sich zu haben, denn vielleicht hätte er in einem stillen Winkel trotz der bleiernen Müdigkeit nach den Aufregungen der Schlittenfahrt eine Seite übertragen. Er war jetzt beim Abschnitt über die Terzerolen Alberts in Werthers Erzählung über den »regnichten« Nachmittag angelangt. Aber welches Wort könnte das altertümliche »regnicht« im Schwedischen wohl am besten wiedergeben? Warum hatte der Text zudem »Terzerolen« und nicht Pistolen? Albert erzählte in dem Kapitel von einem Bedienten, der ungeschickt mit geladenen Pistolen hantierte und seinem Mädchen den Ladestock durch den Daumen schoss. Der kluge Albert – nun lädt er seine Pistolen nie mehr. Musste Werther ob dieser Vernünftelei nicht rasend werden, sich die Mündung über das Auge halten und Selbstmord spielen? Wie würde wohl Ribbing reagieren, wenn er dessen abgeschossene Pistolen an sich nähme, die Holztreppe hinaufschliche, um vor Carlotta den eigenen Tod zu markieren? Die selbstsichere, sarkastische Carlotta.



Ribbing war aus dem Speisezimmer verschwunden, er hatte ihn nicht weggehen gehört. Anstelle des Tabletts mit dem Braten lag ein mit silbernen Buckeln verziertes Halfter auf dem Tisch, darin steckte eine Pistole. Lilljehorn barg sie unter seiner Weste. Aufrecht im Zimmer stehend, hatte er nun an der gegenüberliegenden Wand das Gemälde vor sich. Dort war jetzt deutlich ein Jüngling zu erkennen, neben ihm ein umgestürzter Sessel, die Einrichtung nach altdeutscher Art. Er öffnete die Tür zum Tanzsaal. Der Tabakrauch hatte sich verzogen, Gäste in schwarzer Tracht saßen starr auf ihren Bänken, ohne von ihm die geringste Notiz zu nehmen. Unbemerkt verließ er den Saal und gelangte endlich zur Treppe. Als er seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, fühlte sie sich kalt wie Marmor an und knarrte nicht. Nun lichtete sich das Obergeschoss zu einem frühlingsblauen Himmel. Er atmete freiere Luft. Ein Lindenbaum reckte seine Äste Carlottas Gemach entgegen, vor dem kühles Wasser in einen steinernen Brunnen strömte. Er stieß die Tür auf, vor ihm stand Lottchen, weinend, mit einem Brief in der Hand. Er hielt sich lächelnd die Mündung der Pistole über das rechte Auge und drückte ab. Zu abertausend Farben explodierte in seinem Kopf das Feuer aus dem Lauf der Waffe.



Lilljehorn fühlte eine schwere Hand an seiner Schulter. Er starrte in die Weinkaraffe, deren Glas das schräg einfallende Abendlicht in den Farben des Regenbogens auf die blank polierte Tischfläche warf. Dann hörte er Ribbing: »Nun sind Sie ja endlich erwacht. Wollen sich Herr Oberstleutnant nach den Strapazen des Mittagsmahles vielleicht für die Battaglia am Tanzparkett bereitmachen? Der Wirt hat Ihnen ein Zimmer überlassen. Der Contredance soll um sieben beginnen.«





4



Das Blatt Papier schräg haltend, um zu sehen, wann die noch feuchte Tinte nicht mehr schillern und endgültig trocken sein würde, rief Lilljehorn einen Bedienten, der ihm die Garderobe für den Tanz bereitlegen sollte. Nach dem unruhigen Mittagsschlaf hatte er sich auf seinem Zimmer erfrischt und danach noch eine Seite aus dem Werther übersetzt. Jetzt fühlte er sich erholt und merkwürdig ruhig.



Ribbing erwartete ihn im Foyer vor dem Saal. Von drinnen waren die Musiker beim Stimmen ihrer Instrumente zu hören. Die zusammenhanglosen Tonleitern der Bläser vermischten sich mit den gedehnten Klängen der Streicher, allesamt übertönt von den Anweisungen eines mächtigen Basses. Der zarte Schritt einer Dame, Lilljehorn drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau, die nach Bürgerinnenart ihr blondes Haar nach hinten zusammengebunden hatte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid mit blassrosa Schleifen an Armen und Brust. Ein ironisches Funkeln in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie mit einem leichten Knicks, »wenn ich Ihren Vorstellungen von Lottchen nicht genau entspreche.«



Lilljehorn stammelte ein unbeholfenes Kompliment über die schöne Maskerade Carlottas und betrat an ihrer linken Seite den Saal. Einen halben Schritt dahinter folgte Ribbing.



Dort schenkten Bedienstete Wein, Bier und Kaffee aus. Es schien ihm, als ob er viele Gäste bereits aus Stockholm kannte, einige brachte er sogar mit dem Hof in Verbindung. Nun aber trugen alle Bürgergewand, die kühnsten traten sogar in schlichten Bauernkleidern mit bunt bestickten Tüchern auf. Perücken fehlten gänzlich, nur schwer waren die Menschen zu erkennen. Die unbarmherzige Wahrheit ihres wirklichen Alters, bis jetzt durch den weißen Puder in Haar und Gesicht gnädig verborgen, machte ihn verlegen. Da, der missmutige Mitvierziger, konnte das Graf Anckarström sein, den man üblicherweise nie mehr in Hoftracht sah? Daneben der kecke Bauer, der den weiblichen Schönheiten in den Po kniff, der biedere Kanzleirat Engeström? Und das junge Geschöpf an seiner Seite, war das wirklich Carlotta de Geer aus einer der reichsten Familien Schwedens? Sie freute sich jetzt wie ein kleines Mädchen auf den Tanz und zappelte und zog ihn ungeduldig nach vorne in den Saal. Dieser bildete ein langes Rechteck, an dessen oberer Schmalseite man über drei Weinfässer ein Brett gelegt hatte, auf dem wie auf einer Bühne der Tanzmeister thronte. In seinem Kostüm, das unzweifelhaft aus dem Fundus der Königlichen Oper stammte, bot er eine wahrhaft herrliche Erscheinung. Sein leidenschaftlicher Blick, das markante Profil und das wohlklingende Französisch waren in ganz Stockholm berühmt – die Anwesenden hatten die Ehre, von niemand anderem als von Jacques Marie Bouchet, genannt Monvel, dem Lieblingsschauspieler des Königs, zum Tanz geführt zu werden. In anmutiger Bühnenhaltung, das linke Bein leicht abgewinkelt vor das rechte gesetzt, dirigierte er nun die Gäste zur Aufstellung für den ersten Contredance.



Lilljehorn und Carlotta kamen gegenüber zu stehen, sie bildeten ein Paar. Mit seiner Fiedel gab Monvel den Takt vor, die Musik setzte triumphierend ein. Sorglos und unbefangen schmiegte sich Carlotta an den Oberstleutnant, ihr ganzer Körper antwortete den Schwingungen der Musik. Als sie die Armtour begannen, ihr rechtes und sein rechtes Armgelenk einander berührten, war ihm, als streifte ihn der unsagbar leichte Flügelschlag eines Vogels.



Zur linken Rondé durfte er ihre beiden Hände fassen, nach der Drehung sah er ihr unvermittelt in die Augen. Für die Große Acht löste er sich etwas zu spät von ihr. Jetzt übernahm Carlotta die Führung und schob ihn auf den richtigen Platz. Ihr Lachen tat ihm weh und erfüllte ihn zugleich mit Seligkeit. Der erste Tanz war noch nicht zu Ende, als Ribbing schon um den zweiten bat, den ihm Carlotta sogleich gewährte. Lilljehorn zog sich linkisch zurück und hasste sich dafür, nicht gleich um den nächsten gebeten zu haben, der wieder an Ribbing ging.



Lilljehorn versuchte sich ganz auf die Kommandos des Tanzmeisters zu konzentrieren, auch wenn er bei jedem Taktwechsel, bei jeder neuen Figur nach der schlanken Gestalt Carlottas spähte. Die einen Tänzer balancierten auf der rechten Fußspitze und umfassten die Taillen ihrer Frauen, während sie die Linke graziös über ihren Kopf hoben. Die anderen machten die Rondé. Füße und Beine bewegten sich wie von selbst, sie folgten Monvel gleichmäßig und fehlerlos. Ihn durchdrangen die Gesetze seiner Musik, ließen seine Beine ohne sein Zutun auf dem kleinen Raum der Bretterbühne herumwirbeln, die Arme, die Füße wirbelten im Takt, der Kopf drehte sich, wie von einem mechanischen Uhrwerk gelenkt, in regelmäßigen Intervallen nach links und rechts. Wenn er geradeaus blickte, klappte sein Unterkiefer nach unten, so als ob dem entblößten Weiß seiner Zähne die Aufgabe zukäme, ein Lächeln darzustellen.

 



Der Tanzmeister war, je länger der Tanz dauerte, durch unsichtbare Fäden mit jedem einzelnen der Männer und Frauen im Saal verbunden. Einer geheimen Kraft untertan, hatten sie die Macht über sich verloren, wiegten sich, verbeugten sich und stürmten durch die Reihen, wie Monvel es ihnen vorspielte. Aus den vielen war ein einziger Organismus geworden. Erst als der Schlussakkord in aufbrausendem Crescendo verklungen war, endete die Magie. Kraftlos in sich zusammengesunken, stand Monvel auf seinen Brettern, ein überflüssiges Requisit der zu Bewusstsein gekommenen Menge.



Carlotta trat mit einem Champagnerglas zu Lilljehorn: »Ach, wissen Sie, lieber Freund, Paare, die zusammengehören, sollten doch einen Deutschen Tanz wagen. Dabei können sie eng beieinanderbleiben. Ich fürchte nur, Ribbing versteht sich nicht darauf. Wenn Sie mein sein wollen für die nächste Runde, bitten Sie doch Monvel, er solle deutsch tanzen lassen!«



Lilljehorn trat an Monvel, doch gerade jetzt begannen die Musiker wieder ihre Instrumente zu stimmen, sodass er seine Bitte fast schreiend vorbringen musste. Ob das Gezischel der Umstehenden ihm galt? Doch der Franzose neigte verständnisvoll sein Haupt. Kaum hatte er Carlotta im Arm, ging die Musik los. Eng ineinander verschlungen, tobten sie durch den Saal. Die anderen Paare drückten sich an die Wand. Carlotta und Lilljehorn drehten sich in kreisendem Wirbel. Die Gesichter der Umstehenden zerbarsten zu randlosen Flecken aus roten Lippen und erhitzten Wangen. Schon flogen sie, getragen vom Takt der Musik, durch ihre Welt, den hell erleuchteten Streifen in der Saalmitte, schwebten in Sphären aus Licht und Harmonie, als Lilljehorn seine Tänzerin mit beiden Händen in die Höhe hob. Zwei Seelen, die der Welt verloren waren. Die Musik erstarb, schwer atmend standen die beiden in der Mitte. Offene Augen und Münder wogten auf und nieder. Lilljehorn suchte Halt und fand ihn an der Schulter Carlottas. Endlich zog die starke Hand Ribbings die beiden zu einer Chaiselongue im Hintergrund des Saals. Die Gespräche der anderen setzten wieder ein, zuerst verlegen und vereinzelt, dann sich zu beruhigtem Gemurmel steigernd. »Meine Verehrteste«, sagte Ribbing, »Sie spielen die Bauerntänzerin ganz vortrefflich, mein Kompliment.«



Die Klänge des nächsten Tanzes übertönten die Worte, die Lilljehorn vielleicht schon auf den Lippen lagen. Da erblickte er auf dem Speisetischchen eine Schale mit Orangen, von denen er eine Carlotta gab: »Ich habe gelesen, dass diese Früchte nach dem Tanz hervorragende Wirkung tun.«



»Lieber Oberstleutnant, ich weiß, worauf Sie anspielen, doch der Tanz ist nun vorbei. Graf Ribbings Champagnerwein behagt mir besser.«



Die nächsten Tänze nahm er kaum wahr. Monvel hatte als unumschränkter König des Festes seine Herrschaft wieder angetreten. Als sich Lilljehorn gefasst hatte, dirigierte Monvel sein Volk zu einem wohldurchdachten Menuett in abgezirkelten Schrittfolgen. In der Saalmitte Ribbing und Carlotta, ihre Verbeugungen, ihre Knickse, ihre Schrittwechsel glichen den konvulsivischen Zuckungen dressierter Marionetten. Er zwang sich zu einem Gang rund um den Saal, wo sich die vorzeitig Erschöpften Wein oder Kaffee einschenken ließen und sich lächelnd abwandten, wenn er vorbeikam. Nichts hielt ihn mehr hier. Der Tanzmeister kündigte den letzten Tanz an und forderte zur Aufstellung en Anglaise auf. Waren das Gesichter hinter den Eisblumen der Fensterscheiben? ­Lilljehorn suchte die Tür, als diese aufflog und der Hauch der Nachtluft einige Kerzen an den Kandelabern auslöschte. Zuerst setzten die Bläser aus, dann die Kontrabässe, die Fiedel Monvels behauptete sich bis zuletzt gegen die Stille, gab nur zögerlich auf.



Vor ihnen stand eine krummbeinige Figur, schwarze Haarsträhnen hingen dem Mann wirr ins Gesicht. Die rotgeränderten Augen des Betrunkenen suchten nach einem fixen Punkt und blickten höhnisch in die Runde. In sich überschlagenden Falsett-Tönen kreischte er: »Citoyens – das Gehopse hat ein Ende! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn meine Freunde nun wirklich tanzen. Meine Freunde, tretet ein! Musiker, spielt auf!«



Hinter ihm torkelten zerlumpte Gestalten in den Saal, Bauern in zusammengeflickten Mänteln und schweren Schuhen, Pelzmützen auf dem Kopf, Dienstmägde mit von Aquavit und Kälte geröteten Wangen. Die Hitze des Ballsaales nahm ihnen den Atem. Der Krummbeinige schrie: »Courage, mes amies!« und fasste die am nächsten stehende Frau, eine füllige Mitvierzigerin, um die Hüfte und vollführte einige Bocksprünge quer durch den Raum bis hin zum Podium des Monvel. »Deutsche Walzer!«, grölte er. Ein Geruch von Stall, Kälte und Feindseligkeit mischte sich mit den Parfüms der Gesellschaft, hier und dort gellte der spitze Schrei von Frauen, die man zum Tanzen zwang. Zwischen den in starrem Entsetzen auf ihren Plätzen verharrenden Paaren wirbelten die Mutigsten der Eindringlinge, stampften mit ihren Füßen den Boden. Lilljehorn suchte Carlotta, doch ein baumlanger Kerl baute sich vor ihm auf und versperrte ihm die Sicht auf die Geschehnisse. Seinen Degen hatte er im Zimmer gelassen, von Bedienten keine Spur.



Mit einer Behändigkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, sprang Monvel von seiner Bühne, stürmte durch das ­Chaos der sich irr drehenden Bauern zum Krummbeinigen. Die Tänzer blieben stehen, sofern sie es konnten, manche klammerten sich in ihrem Schwindel an ihre Tanzpartnerin. Der mächtige Lüster, dessen Kerzen allein noch brannten, warf einen harten Lichtkegel auf die nun einsetzende Szene. In majestätischer Gelassenheit schritt Monvel auf den Aufrührer zu, legte seine Fiedel, die er bis jetzt in der Linken gehalten hatte, sachte auf den Boden, um sich dann nach allen Seiten lächelnd der allgemeinen Aufmerksamkeit zu versichern. Dann, erst dann, als auch der letzte Tänzer zum Stehen gekommen war, als nur mehr der rasselnde Atem des Krummbeinigen zu hören war, verabreichte er der Kreatur vor ihm eine einzige, niederschmetternde Ohrfeige. Der Mensch ging zu Boden, stieß winselnd auf Französisch Bitten und Flüche aus. Monvel: »Jean, es reicht! Verschwinde auf dein Zimmer!«



Jean, das war das Faktotum der Schauspielerkompagnie. Er spielte Krüppel, Verräter und Dorfidioten. In Stücken, die nur edle Menschen und Götter zeigten, durfte er seinen berühmteren Kollegen, die tatsächlich allesamt schön und edel aussahen, unsichtbar soufflieren. Manchmal, wenn sogar die schönen Schauspieler zu müde waren für ihre Feste und Liebschaften und sich erschöpft in ihre Quartiere zurückgezogen hatten, hörten sie aus dem Verschlag Jeans den gleichmäßigen Takt seiner Schritte. Er musste wohl deklamieren. Aber welches Stück, welche Rolle bot genug Text für so einen wie ihn? Der aber deklamierte das Stück seines Lebens, das er hinter dem Horizont der Zeiten ahnte.



Jetzt kam Jean auf die Beine, Speichel glänzte auf seinem Kinn. Die Rechte bittend erhoben – wo hatte Lilljehorn diese Szene schon gesehen? –, überschlug er sich in Dankesworten. Einer der schwedischen Bauern, die den Ballsaal gestürmt hatten, spie Jean ins Gesicht. Dann schloss sich der Kreis der Zuschauer um Monvel. Lilljehorn war es, als würde Jean in das Dienstbotenzimmer neben der Küche getragen.



Die Eindringlinge hatten das Weite gesucht. Dabei waren einige Fensterscheiben zerbrochen. Die Gäste verzichteten darauf, ihre Garderobe in Ordnung zu bringen, stießen die an den Büfetts aufgereihten Weingläser und Kaffeekännchen um, drängten in ihre Zimmer und rasch zur Treppe. Deutlich konnte Lilljehorn den Grafen Ribbing sehen, der sich gerade einen sicheren Platz auf halber Höhe der Treppe erkämpfte. In der Linken stützte er eine Frau, deren Gesicht durch die nach oben stolpernden Besucher den Blicken entzogen war. Sie trug ein weißes Kleid – mit blassrosa Schleifen.





Tagebucheintrag des Ersten Kammerherrn Hans von Essen





Carlotta de Geer – sie ist derzeitig das Einzige, worauf sich trotz des Vorfalls in der Oper alle meine Gedanken richten. Sollte sich der König auch mit mir einen Spaß erlaubt haben? Was meinte er, wenn er von der Eroberung einer Festung sprach? Doch die Hoffnung, selbst die vergebliche Hoffnung auf diese wundervolle Frau erfüllt mich mit neuer Kraft.



Aber der Reihe nach: Mit den Pastillen des Physicus Salomon war ich nach dem Soupé im Königsschloss rasch genesen. Gestern habe ich einen Wink erhalten, die Insubordination der Pagen in den Jakobinerfarben kategorisch zu ahnden. Die Empfehlung wurde mir von meinem Sekretär, einem Cousin eines Vertrauten von Sivers, übermittelt. Nun: Alle zeigten sich reumütig, der dritte hat sich krankgemeldet. Sivers kennt die Namen. Danach die Post erledigt. Nach dem Mittagstisch versuchte ich einen Schlitten zu mieten und zu Erik nach Lurbacka hinauszufahren, um meine mögliche Verbindung mit Carlotta zu besprechen. Der Wagnermeister hinter dem Stortorget hatte nur mehr zwei lahme Gäule frei, was mich sehr verdross. Außerdem jammerte er etwas über seinen zuverlässigsten Kutscher, der verschwunden sei. Er schien ehrlich besorgt, weil die Straßen immer unsicherer würden. Wie soll ich ohne Eriks Hilfe und seinen Überblick über unser gemeinsames Erbe die Heirat finanzieren? Der Nachmittag verlief also ergebnislos.



Um sieben Uhr begannen die Vorbereitungen für die Fahrt des Hofes vom Schloss zur Oper. Auf Lilljehorns Leibgarde ist Verlass auch dann, wenn der Oberstleutnant selbst nicht das Kommando führt. Die Straßen waren mit Fackeln bestens ausgeleuchtet, in der Oper sicherten Leibtrabanten diesmal auch die Zugänge zur Bühne, was in letzter Zeit sträflich unterlassen wurde. Während der kurzen Fahrt entspann sich kein Gespräch. Die Königin war unpässlich, der Kronprinz nestelte unentwegt an seinen blauseidenen Beinkleidern, die Rundgren wohl etwas zu eng angemessen hatte. Aber der Prinz schießt förmlich in die Höhe. Der König fühlte sich offenkundig nicht wohl, seine Augen glänzten fiebrig. Sein üblicher Zustand vor jeder Aufführung. Im Foyer nahm Gustav die Honeurs der Stockholmer Bürger entgegen, dann drängte er heftig in die große Loge. Mit dem ersten Takt würde sich seine Spannung lösen, und er würde wirklich zu leben beginnen. So war es auch diesmal. Der Vorhang hob sich, und ein begeistertes Raunen vom Parkett bis zur Galerie erfüllte die Ränge. Das Haus zeigte sich von den Kulissen und den Kostümen tief beeindruckt. Gustav war selig – seine Gewänder, die er selbst in nächtelanger Arbeit entworfen hatte, versetzten uns in die Heldenzeit Schwedens. Das Bühnenbild des ersten Aktes war in den düstersten Farben gehalten. In den Verließen unterhalb des Königlichen Schlosses schmachteten die edelsten Frauen Schwedens mit ihren Kindern, gefangen vom blutrünstigen Dänenkönig Christian. Eine einzige Lampe erhellte die Szenerie aus schaurigen, gotischen Gewölben. Ich lasse hier eine Seite frei, um eine Skizze der Bühne einzufügen. Kellgren hat einen guten Strich. Vielleicht steigt er vom hohen Podest des Genies herab und gibt mir eine Zeichnung.



In der Pause nach dem zweiten Akt trat Gustav für alle sichtbar nach vor, um die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen. Die Vivats klangen echt und ehrlich, von den Dunkelmännern, vor denen Sivers immer warnt, keine Spur. Im Salon des Königs hatte ich einige Erfrischungen vorbereiten lassen. Zugegen waren Gustav, der Kronprinz, Graf Armfelt und der Österreichische Gesandte. Mit ihm unterhielt sich der König über die Lage in Frankreich, der Gesandte bat um eine Privataudienz in allernächster Zeit. Sein Herr, der Kaiser – so viel konnte ich verstehen –, teile die Einschätzung seiner Majestät. Daraufhin richtete Gustav das Wort an mich: »Mein lieber Essen, Sie werden es noch erleben, große Dinge kündigen sich hier an.« Er war offensichtlich heiter gestimmt: »Außerdem, wie befindet sich Madame de Geer?« Ich konnte nichts anderes antworten, als dass ich über ihren Verbleib nicht unterrichtet war. Äußerst unangenehm – besonders vor dem Gesandten. Gleich danach begab sich die Gesellschaft über die Geheimstiege wieder in die Königsloge hinunter. Vielleicht weil mich die Erwähnung Carlottas verwirrt hatte, vielleicht, weil ich noch Anweisungen an die Diener gab für den Fall, dass der König in seinen Gemächern in der Oper übernachten wollte – als wir in der Loge angekommen waren, fehlte der König.



Armfelt redete, wild gestikulierend, auf einen Hauptmann der Leibgarde ein, doch vergeblich. Der Vorhang gab die Bühne frei, der dritte Akt begann, und nirgendwo der König. Um keinen Aufruhr zu erregen, nahm ich den ersten Platz in der Loge ein – so könnte im Dunkel des Zuschauerraums das Fehlen Gustavs vielleicht unbemerkt bleiben. Die Kulissen von Desprez überboten alles, was man hierzulande je gesehen hatte. Links das Königsschloss Tre Kronor mit dem mächtigen Rundturm in der Mitte, davor die stark bewehrte Schlossmauer, durchbrochen nur von dem mächtigen Tor. Am Vorplatz entbrannte die Schlacht zwischen Dänen und Schweden, überall Fahnen und Wimpel und Pulverdampf. Im Donner der Theatermaschinen wurden einige Damen des Publikums ohnmächtig. Nach der letzten Arie Stenborgs als Gustav Wasa setzen jetzt die Schweden zum Angriff an. Das Publikum tobt und schüttelt die Fäuste gegen die dänischen Söldner, jetzt verstand ich, w