Vico - Il Conte

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Kapitel 8


München-Laim, 18. Oktober 2019, abends

Ich atme immer noch tief ein und aus, als mir auffällt, dass die Verbindung längst tot ist. D’Vergy hat einfach aufgelegt. Ich lasse den Telefonhörer fallen, als hätte ich mich daran verbrannt.

Blödmann!

Was war das eigentlich gerade? Was hat dieser selbstgefällige Scheißkerl mit mir gemacht? Hypnose durchs Telefon? Arschloch!

Na gut, ich war vielleicht nicht superhöflich, aber was ruft der auch in so einem bescheuerten Moment an? Meine kleinen Schweinereien gegen die Famiglia kann ich leider nur dann einfädeln, wenn Liliane Feierabend gemacht hat und meine Leibwächter vor der Glotze hocken, weil ich die beiden da wirklich nicht mit hineinziehen will. Wenn ich dann endlich loslege, kann ich kein blödes Gelaber eines neunmalklugen Oberstaatsanwalts brauchen.

Arroganter Wichtigtuer! Atmen? Pah!

Okay, es hat gutgetan. Früher habe selbst gerne zu diesem Mittel gegriffen, um mich vor einem schwierigen Gespräch zu beruhigen. Aber seit Tosh tot ist, schmerzt jeder Atemzug. Alle Atemtechniken, die ich kenne, sind für die Katz.

»Darum kümmere ich mich«, hat D’Vergy gesagt, und einen wundervollen Moment lang gebe ich mich der Vorstellung hin, dass ich wirklich alles dem Oberstaatsanwalt überlassen könnte. Die ganze Last, die auf meinen Schultern liegt, einfach an ihn weiterreichen könnte. Soll er doch für Cortones Verurteilung sorgen und in den Kampf gegen die Famiglia ziehen. Ein selbstgerechter Snob mag D’Vergy ja sein, aber ein Waschlappen, der vor Carlo den Schwanz einzieht, ist er sicher nicht.

Doch dann fällt mir ein, dass der Herr Graf möglicherweise nichts davon hält, an der ein- oder anderen Stelle mit einem kleinen Hinweis auf die nicht ganz so weißen Westen der Entscheidungsträger die Aktionen gegen die Famiglia ein bisschen zu forcieren. Natürlich erpresse ich niemanden, nicht so richtig, ich nenne es lieber Motivation. Ich würde mich auch nie auf Carlos Niveau herablassen und wirklich jemanden anschwärzen, deswegen ist es ja auch nicht so schlimm. Oder? Ich ruiniere keine Leben, so wie er.

Der Oberstaatsanwalt sieht das wahrscheinlich anders. Der würde bestimmt von Erpressung sprechen. Überkorrekter Blödmann! Also sollte ich wohl besser dafür sorgen, dass er mich nicht erwischt. Passend zu diesem Gedanken kehren auch die Kopfschmerzen, die mich unerklärlicherweise ein paar Minuten in Ruhe gelassen haben, zurück. Ich tunke einen Finger in Lilianes Geheimwaffe, eine Dose mit weißem Tigerbalsam, und massiere mir die Schläfen damit. So richtig hilft es nicht, aber immerhin wird Liliane glücklich sein, und schlimmer wird es auch nicht.

Was dieses Hämmern im Kopf anheizt, ist eher der Gedanke, der Oberstaatsanwalt könnte herausfinden, dass Carlo nicht geschossen hat. Weil er meine Meinung nicht teilen wird, dass es egal ist, wer denn nun abgedrückt hat. Carlo ist an allem schuld. Punkt!

Nein, unmöglich kann ich den Fall allein D’Vergy überlassen. Wenn die schönen Indizien, von denen es doch wirklich mehr als genug gibt, nicht ausreichen, um für Carlos Verurteilung zu sorgen, dann soll der Boss der Famiglia wenigstens vor einem Scherbenhaufen stehen, wenn er rauskommt. Ich rufe erneut die Mail auf, die ich gerade begonnen habe, als der Anruf des Oberstaatsanwalts mich unterbrochen hat.

»Du glaubst also, Steuern und Sozialabgaben für eure Bauarbeiter seien nichts als Kinkerlitzchen, mit denen sich die Famiglia nicht abgeben muss, Carlo?«, flüstere ich. »Dann wollen wir doch mal sehen, was die Zollfahndung dazu sagt!«

Kapitel 9


München-Altstadt, 18. Oktober 2019, abends

Nachdem ich mir die Cortone Akten noch mal angesehen habe, ist es definitiv zu spät, um sich auf die Suche nach einem Trainingspartner zu machen, der sich spontan auf einen kleinen Übungskampf einlassen würde. Wahnsinnig gerne würde ich mich wieder mal bis zur Erschöpfung verausgaben, vielleicht sogar ein kleines Stückchen darüber hinaus. Mit einem weiteren Blick auf die Uhr seufze ich – morgen! Und nachdem Dad aus unerfindlichen Gründen immer noch nicht geruht, Italien zu verlassen, um mir in dem riesigen, leeren Bungalow Gesellschaft zu leisten, beschließe ich, Sonjas Salon aufzusuchen, anstatt allein zu Hause herumzusitzen. Wenn ich es schaffe, irgendwo auf andere Gedanken zu kommen, dann wahrscheinlich dort.

Ich kenne Sonja seit vielen Jahren. Sie kam in unser Haus, kurz nachdem mein Vater beschlossen hatte, dass ich den Tod meiner Mutter vielleicht überwinden würde, wenn wir weit weg von Italien ganz neu anfangen würden. Sonja besuchte uns, da Dad ein Gemälde schätzen lassen wollte, und er war sofort mehr als angetan vom Kunstverstand der jungen Galeristin.

Seitdem haben wir uns häufig getroffen. Dass wir noch eine ganz andere Leidenschaft teilen, merkten wir erst Jahre später, als ich das erste Mal den Club The Prison betrat und mich unversehens der Kunstsachverständigen im Outfit einer Domina gegenübersah. Ich bin mir bis heute nicht sicher, wessen Schock größer war.

Neben ihrer Galerie führt Sonja seit ein paar Jahren einen verschwiegenen Salon und es wird wirklich höchste Zeit, dass ich mich da mal wieder blicken lasse. Auch wenn mir gerade nicht unbedingt der Sinn nach Intimitäten steht. Aber die handverlesenen Gäste, die lockere Atmosphäre und der niveauvolle Umgang mit ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben machen einen Besuch in Sonjas Salon zu einem einzigartigen Erlebnis. Ich könnte bei einer Session zusehen – oder mir einfach nur ein paar Drinks genehmigen und mich unter Gleichgesinnten entspannen.

Außerdem muss ich mich vor Sonja nicht verstellen. Sie kannte mich als verstörten Knaben, sie kannte mich als jungen, wilden Dom, der sich auf der Suche nach sich selbst fast verloren hätte, und sie kennt den Juristen ohne Privatleben, der all diese Phasen zum Glück hinter sich gelassen hat.

Zu Hause tausche ich den Anzug gegen eine schnörkellose Lederhose und ein schwarzes Seidenhemd und verberge den oberen Teil meines Gesichts hinter einer schlichten schwarzen Maske. Nicht, um unerkannt zu bleiben. Ich habe Schneider nicht angelogen, ich habe nichts zu verbergen. Den Versuch, mich mit meiner Vergangenheit als Master zu diffamieren, kann man sich getrost sparen, das stört mich wenig. Nein, die Maske trage ich, damit mir niemand meine Traurigkeit ansieht. Und weil sie mir ausgezeichnet steht, natürlich.

In Sonjas Salon nehme ich nach einer angeregten Unterhaltung mit der Hausherrin ein wenig abseits Platz, genieße einen hervorragenden schottischen Whiskey und beobachte das Geschehen. Eine junge Frau im Katzenkostüm bewegt sich ebenso geschmeidig an die Bar wie das Tier, das sie darstellt. Der Rückweg mit einem langstieligen Glas mit tonnenweise Obst als Dekoration ist schwieriger zu bewältigen, doch sie bringt das Kunststück fertig, schafft es sogar, neben ihrem Herrn auf die Knie zu gehen, der ihr das Glas ohne hinzusehen abnimmt. Kein Wort fällt, aber die Art, wie er genau wusste, wann sie wo sein würde, zeigt mir, dass er sein Kätzchen keinen Augenblick aus den Augen verloren hat. Und die stolze Neigung ihres Kopfes verrät, dass sie weiß, dass sie es gut gemacht hat.

Ich lächle und mein Blick wandert weiter zu einem jungen Mann, der zu Füßen seines Masters sitzt und hingebungsvoll dessen Daumen mit seiner Zunge liebkost. Die Leidenschaft, mit der er sich dieser Tätigkeit widmet, zaubert automatisch ein Bild in meinen Kopf, wie der junge Sub ganz andere Körperteile seines Masters verwöhnt.

»Herr?«

Überrascht hebe ich den Kopf und erhasche einen Blick auf eine Frau, deren langer, schlanker Körper in einem raffinierten Neckholder-Kleid aus schwarzer Spitze steckt, ehe sie vor mir auf die Knie sinkt. Sie neigt den Kopf und ihr langes, blondes Haar fällt wie ein Wasserfall nach vorne.

Ich warte, doch der Mut scheint sie verlassen zu haben. Seltsam genug, dass sie mich angesprochen hat. Ob Sonja dahintersteckt?

»Wie heißt du?«, frage ich sanft.

»Nina, Herr.«

Die richtige Antwort wäre natürlich gewesen, dass sie auf jeden Namen hört, den ich ihr zu geben wünsche. Die richtige Antwort für jeden Herrn hier, außer mir. Sonja hat sie hergeschickt.

»Nina«, sage ich leise. »Was für ein schöner Name für eine schöne Frau.« Ich verteile keine sinnlosen Komplimente. Sie ist schön. Und genau mein Typ. Groß, schmal und biegsam wie ein junger Baum. »Warum bist du heute hier, Nina?«, frage ich und stelle mein Glas beiseite.

Meine tiefe, leise Stimme scheint sie zu beruhigen. Ein wenig stockend erzählt sie, dass sie München für einige Wochen verlassen musste, um ihre kranke Mutter zu versorgen. Irgendwo tief im Bayerischen Wald, wo sie niemanden hat, der ihre Neigungen teilt.

Die Versuchung ist groß. Sie ist schön, willig und ausgehungert nach allem, was ich bereit bin zu tun. Rein und makellos würde sie aussehen, alle Spuren verblasst, ganz so, als hätte noch nie jemand mit ihr gespielt.

»Ich kann dir nicht geben, was du suchst, Nina.«

»Ich bin nicht anspruchsvoll, Herr.«

»Das solltest du aber sein.« Ich seufze. »Das ist ein wunderschönes Geschenk, das du mir da anbietest. Ich bin es nicht wert, es anzunehmen.«

Sie zuckt zusammen, ob wegen der unpassenden Wortwahl für einen Herrn oder wegen der Zurückweisung, vermag ich nicht zu sagen.

 

Ich will ihr nicht wehtun, jedenfalls nicht auf die Art, auf die ich es gerade tue. Aber dieser Hauch von Verzweiflung in ihrer Stimme, dieser sehnsüchtige Unterton, der in ihren Worten mitschwingt, warnt mich, dass Nina mehr sucht als ein aufregendes Spiel. Und so sicher, wie ich ihre Wünsche in dieser Nacht erfüllen könnte, so wenig könnte ich ihr doch geben, was sie eigentlich braucht.

Sie sucht Zuneigung. Aufmerksamkeit könnte ich ihr schenken. Ein paar Stunden lang. Für eine Nacht voller Lust und Schmerz, die alle ihre Bedürfnisse befriedigt – alle, außer der Sehnsucht nach Liebe.

Ich würde sie am nächsten Morgen fortschicken und die Demütigung für sie nur schlimmer machen. Aber ich hätte keine Wahl. Denn die Frau, die alles war, was ich brauche, gab es nur ein einziges Mal auf dieser Welt.

Ich beuge mich zu Nina herunter, lege behutsam zwei Finger an ihr Kinn und zwinge sie so, mich anzusehen. Ihre Augen sind groß und blau wie zwei Gebirgsseen in der Mittagssonne.

»Es gibt irgendwo einen Herrn, dessen Herz schneller schlagen wird, wenn er dich sieht, dessen Brust weit wird vor Stolz, wenn er deine Unterwerfung empfängt. Gib dich nicht für weniger her. Ich wünschte, ich könnte dieser Herr sein, aber ich bin es nicht, Nina.«

Ihre Lippen zittern, und ich neige mich noch weiter vor und küsse sie. Einen Augenblick ist sie wie erstarrt, dann erwidert sie den Kuss. Sie küsst, als hätte sie jahrelang keine anderen Lippen auf den ihren gespürt. Sie schmeckt süß, und einen Moment verfluche ich mich für meine verdammte Anständigkeit, dann löse ich mich von ihr und schicke sie fort.

Ich atme tief durch, dann greife ich wieder nach meinem Glas und kippe den teuren Whiskey in einem Zug hinter. Das brauche ich jetzt, bevor ich mir meinen Rüffel bei Sonja abhole.

Kapitel 10


München-Giesing, 18. Oktober 2019, nachts

Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, und ich zittere. Nicht die Kälte und die Nässe lassen mich erschaudern. Ich habe das dünne Kleid gegen ein paar Leggings und einen Pulli getauscht, darüber trage ich den dicken Mantel. Den mit der Kapuze, den mein Meister für mich ausgesucht hat.

Doch heute wärmt mich das kuschelige Stück nicht. Die Kälte kommt von innen, von der Angst vor der Strafe, die mein Meister verhängen wird. Ich habe versagt. Der fremde Herr wollte mich nicht.

Es wundert mich nicht, dass er mich abgewiesen hat. Mein Meister wird nie müde, meine Unzulänglichkeiten aufzuzählen: zu groß, zu dünn, zu blass, zu empfindlich. Aber nicht nur das. Viel zu selten kann ich es ihm recht machen. Bin nicht das perfekte Spielzeug, das er verdient. Jeden Tag versuche ich, meinem Meister eine Freude zu bereiten. Ständig scheitere ich.

Doch dann brachte mein Meister mich zu IHM. ER sagte, dass ich meinem Meister einen großen Dienst erweisen würde, wenn ER mich ausleihen dürfte. ER wollte mich nicht für sich. Sondern für den Fremden mit der Maske. Dem würde ich gefallen.

Ich stimmte sofort zu. Endlich bekam ich die Chance, meinem Meister seine Güte zu vergelten.

ER befahl mir, mich von allen Männern fernzuhalten, während ich darauf wartete, dass der Fremde in den Salon käme. Unberührt und unschuldig solle ich aussehen. Dafür gab ER meinem Meister Geld, viel mehr, als ich je gesehen habe, und mein Meister schien zufrieden zu sein.

ER sagte mir auch, was ich dem Fremden über mich erzählen sollte, und ich machte es genau so. Dennoch wollte der mich nicht.

Aber der Unbekannte hat mich für die Anmaßung, mich ihm überhaupt anzubieten, nicht verspottet. Stattdessen hat er so getan, als sei er es, der unzulänglich sei. Dabei ist er so ein vornehmer Herr, viel zu gut für mich.

Nina, hat der Fremde mich genannt. Fast fiel mir mein Name nicht ein, als Lady Sonja mir empfahl, meinen Namen zu nennen, falls der Herr mich danach fragte. Bitch, sagt mein Meister zu mir, weil ich gar keinen eigenen Namen verdient habe. Doch als der Fremde Nina sagte, schien das nicht mehr zu stimmen. Weil es sich aus seinem Mund anhörte, als seien diese beiden langweiligen Silben eine bezaubernde Melodie.

Überhaupt hat er so wunderschöne Sachen gesagt. Dann der Kuss. Vanillakram. Mein Meister würde mich bestrafen, wenn ich mir einen Kuss wünschen würde – zu Recht. Ich habe mich nicht für derlei Dinge zu interessieren. Die Wünsche meines Meisters sind, was mich kümmern sollte. Ich bin dazu da, ihm zu gefallen, ihm zu dienen und von ihm benutzt zu werden. Aber jede Strafe, die mich für einen derartigen Wunsch ereilt hätte, wäre nichts im Vergleich zu der, die mich jetzt erwartet.

Denn ich habe keine Fotos. Fotos davon, wie der Fremde mich fesselt oder auspeitscht oder benutzt. ER wusste gar nicht, welche Wünsche der Unbekannte haben würde. Ich sollte gehorchen, egal was er von mir verlangen würde, die kleine Kamera in meiner Halskette aktivieren und Bilder machen. Aber einen Kuss kann ER nicht gemeint haben.

Doch das bringt mich auf eine Idee. Ich würde die Erinnerung an diese Begegnung gerne für mich behalten wie einen kleinen Schatz, an dem ich mich erfreuen kann, wenn mein Meister mich stundenlang in die winzige Strafkiste sperrt. Aber vielleicht wird ER mir ja gestatten, den fremden Herrn noch einmal anzusprechen, wenn ich ihm von dem Kuss erzähle. Denn der Unbekannte kann mich nicht völlig abstoßend finden, wenn er mich so küsst.

Wahrscheinlich weist er mich erneut ab. Doch möglicherweise küsst er mich zuvor ja noch mal. Sagt noch einmal so schöne Sachen. Danach könnte ich jede Strafe ertragen, die mein Meister sich ausdenkt, ganz bestimmt.

Ja, so mache ich es.

Der Regen wird stärker, und ich stehe vor der Adresse, die ER mir genannt hat. Hierhin soll ich kommen, wenn es mir gelungen ist, Kontakt zu dem Unbekannten aufzunehmen. Aber was ist das hier? Schmutzige große Scheiben, hinter denen die Dunkelheit lauert. Ein zerfetzter roter Teppich vor einer Eingangstür, die von zwei verdorrten Pflanzen in fleckigen Kübeln flankiert wird. Hier soll ER sein? Ich habe mich in der Adresse geirrt. Was jetzt? Mein Meister wird wissen, wo ER ist. Doch ich habe erneut bewiesen, wie unfähig ich bin. Nie und nimmer bekomme ich eine zweite Chance.

Ich lege meine zitternden Hände an die Tür und versuche, hineinzusehen, da ertönt ein Zischen. Ich zucke heftig zusammen, als über mir eine blaue Neonröhre in Form eines Papageis zum Leben erwacht. Stehe ich vor einer Zoohandlung?

Fast gleichzeitig gibt die Eingangstür nach und schwingt vor mir auf. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Drinnen ist es stockdunkel. Nein, ganz weit hinten scheint ein Licht zu sein. Bin ich doch richtig?

Ängstlich verharre ich auf der Schwelle, als sich aus der Schwärze des Raumes eine scheußliche Gestalt herausschält. Groß und breit wie ein Schrank, massiger noch als mein Meister. Doch nicht deswegen entkommt mir ein entsetztes Keuchen. Sondern weil trotz der Dunkelheit unverkennbar ist, dass das Gesicht des Mannes furchtbar entstellt ist. Seine rechte Wange ist ein einziges runzeliges Narbengewebe, das rechte Ohr und die Haare auf dieser Seite fehlen komplett. Der Mann muss einen schrecklichen Unfall gehabt haben. Dennoch schaffe ich es nicht, Mitleid zu empfinden, zu abstoßend sieht er aus. Ich taumle einen Schritt zurück.

Der Mann schnaubt nur unwillig und winkt mich wortlos herein. Ich wage es nicht, mich zu widersetzen. Das ist genau so ein Mann, den ER in seinem Gefolge haben würde. Mit weichen Knien mache ich ein paar Schritte in den Raum hinein. Bleibe stehen und versuche, irgendwas zu erkennen.

Die Luft ist abgestanden und schal. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit. Ich stehe in einem riesigen leeren Raum, einer Halle nicht unähnlich. An einer Wand stapeln sich Möbelstücke, bedeckt von einer Plastikfolie. Das Licht scheint kilometerweit entfernt zu sein. Ich mache zwei zögernde Schritte in diese Richtung, als hinter mir die Eingangstür mit einem Knall zufällt. Ich fahre zusammen, mein Herz setzt einen Moment aus, bevor es wie verrückt in meiner Brust hämmert. Nur mühsam kann ich ein Zittern unterdrücken. Das ist alles so unheimlich hier.

Der furchterregende Mann ist jetzt hinter mir, ich höre seinen schweren Atem, rieche kalten Zigarettenrauch und Schweiß. Angetrieben von meinem schweigenden Verfolger, stolpere ich vorwärts.

Unsere Schritte hallen unheimlich durch den Raum, während wir immer weiter nach hinten gehen. Außer dem Schnaufen in meinem Rücken höre ich jetzt auch die zarten Klänge eines Klaviers, untermalt von dem Plätschern eines Wasserfalls. Je näher ich dem Licht komme, desto deutlicher riecht es nach Bratfett und Knoblauch. Mehrere ausladende Kübelpflanzen versperren mir den Weg, ich schlüpfe vorbei, und dann kann ich endlich sehen, worauf ich zugelaufen bin.

Vor mir steht ein großer, runder Tisch, stilvoll eingedeckt mit einer schweren, bodenlangen weißen Tischdecke, einem Kerzenleuchter und langstieligen Weingläsern. Ein Mann sitzt dort, vor sich einen Teller mit vor Öl triefenden Riesengarnelen. Ohne das reichlich vorhandene Silberbesteck zu beachten, grabscht der Mann sich eine mit den Fingern und schiebt sie sich in den Mund.

ER.

Ich schlucke.

»Nicht so schüchtern, troietta«, spottet ER mit vollem Mund. »Ist der Hurensohn endlich aufgetaucht, ja? Was hast du denn Schönes für mich?«

Doch meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich habe IHN zuvor schon gefürchtet, doch in dieser seltsamen Umgebung ist es noch schlimmer.

»Komm schon, steh da nicht so ungemütlich herum. Timo, nimm ihr den Mantel ab.«

Der grausige Mann reißt mir den Mantel förmlich von den Schultern, kaum dass ich die Knöpfe geöffnet habe. Ohne das dicke Kleidungsstück fühle ich mich noch schutzloser. Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»Nun?«, fragt ER.

Ich öffne den Mund, doch es kommt einfach kein Ton heraus. Grobe Hände packen meine Schultern, schütteln mich kräftig.

»Aber, aber, Timo! Du erschreckst sie ja«, sagt ER sanft, um mich dann anzufahren: »Rede endlich, stronza

Stammelnd versuche ich zu erklären, was geschehen ist. ER verengt seine Augen zu kleinen Schlitzen. Sieht immer wütender aus.

»Bestimmt wird er das nächste Mal …«, quäke ich mit versagender Stimme.

»E basta!«, unterbricht ER mich harsch. »Vergiss es. Du hattest deine Chance. Ich warte nicht noch mal tagelang, bis D’Vergy geruht, den Salon erneut aufzusuchen. Dieser Schwächling wird so oder so bald nach meiner Pfeife tanzen.«

D’Vergy? Ist das der Name des Fremden? »Aber … er hat mich geküsst …«

»Oh, wie romantisch!«, höhnt ER. »Hast du dein kleines, dummes Herz an D’Vergy verloren, ja? Jetzt pass mal gut auf: Dieser codardo hat dich nicht etwa geküsst, weil er dich so süß findet. Sondern weil er ein Weichei ist, ein Schlappschwanz, der nicht mal genug Eier in der Hose hat, um dir zu sagen, dass du dich verpissen sollst.«

Schlimmer als jede Ohrfeige fühlen sich die Worte an. Doch dann sehe ich den Fremden wieder vor mir, wie er sich zu mir herunterbeugt, wie er mich mit seinen dunklen Augen intensiv ansieht. Da begreife ich etwas: ER irrt sich! D’Vergy ist nicht schwach, sondern so stark und souverän, dass er sich nichts vergibt, wenn er jemanden wie mich küsst. Aber das muss ER nicht wissen. Dass ich nichts sage, ist mein Dankeschön an den Fremden.

Ich spüre so etwas wie einen kleinen Triumph, doch den treiben mir die nächsten Worte, die ER sagt, gleich wieder aus.

»Tja, was mache ich denn jetzt mit dir, troietta? Da habe ich dich deinem Meister abgekauft, und du nützt mir gar nichts …«

Was? Mein Meister nimmt mich nicht zurück?

ER lacht verächtlich.

»Wusstest du gar nicht, eh? Timo, kannst du was mit ihr anfangen? Ich schenke sie dir.«

Der Mann hinter mir grunzt nur. Steht plötzlich so nah bei mir, dass ich seinen warmen, übel riechenden Atem spüren kann. Ich bin wie erstarrt, wehre mich auch dann nicht, als er mich mit einem dicht behaarten Arm an seinen massigen Körper presst, während er eine Hand in meine Leggings zwängt, unsanft meinen Hintern knetet. Dicke, schwitzige Finger auf meiner Haut. Igitt. Mein ganzer Körper verkrampft sich, ich bin unfähig, auch nur ein Wort gegen diese grobe Aktion zu sagen. Bin vollkommen erstarrt vor Schock und Angst.

 

»Langsam, langsam, Timo«, lacht ER. »Gib mir die Halskette mit der Kamera, die war teuer.«

Heftig schnaufend und schmatzend fummelt Timo an dem Verschluss herum, während ich immer noch wie versteinert ausharre und alles mit mir machen lasse. Mein Kopf weigert sich, zu realisieren, was hier geschieht. Gleich geschehen wird. Ich müsste hier weg. Ganz schnell hier weg. Doch ich stehe da wie eine Salzsäule. Schaffe es nicht mal, den kleinen Zeh zu bewegen.

Erneut lacht ER dreckig, als Timo es endlich geschafft hat, mir die Kette abzunehmen. Kurz erhasche ich einen Blick auf die klobige Gestalt Timos und das schrecklich entstellte Gesicht, als der IHM respektvoll die Kette reicht, dann ist der bullige Mann schon wieder hinter mir. Drängt mich an den Tisch.

»Nein … bitte …«, schaffe ich es, zu flüstern, doch da drückt Timo mich schon mit dem Oberkörper brutal auf den Tisch.

»… bitte …«, flehe ich.

Als ob es irgendwen interessieren würde, was ich möchte.

Grunzend macht Timo sich hinter mir an irgendwas zu schaffen. Er hält mich nicht einmal fest, doch immer noch bin ich wie gelähmt, kann unmöglich fliehen. ER grinst auf mich herunter.

Bestimmt ist es sowieso besser, wenn ich einfach stillhalte, versuche ich mir einzureden. Mir würde es ja doch nicht gelingen, ihnen zu entkommen. Und wenn Timo mir hinterherlaufen muss, wird alles nur noch viel schlimmer. Ich lasse es geschehen, dann wird es schnell vorbei sein. Am liebsten würde ich die Augen schließen und die Realität ausblenden, aber es geht nicht, solange ER mich mit diesem bohrenden Blick ansieht.

Du schaffst das, versuche ich mir einzureden, während mir die ersten Tränen unaufhaltsam über die Wangen rinnen. Nur ein bisschen durchhalten, dann kann ich abhauen, aus dieser Stadt verschwinden. Ja, genau, ich verschwinde einfach und vergesse, was hier und heute passiert. Ich finde einen neuen Meister, so einen wie D’Vergy, einen guten Mann. Bestimmt wird es nicht sehr lange dauern.

Die Musik schwillt an, wird lauter, zu dem Klavier gesellen sich Blasinstrumente.

ER nimmt sich derweil eine weitere Garnele. Beißt genüsslich hinein. Etwas Öl läuft ihm über das Kinn, hinterlässt eine glänzende Spur auf seiner schlecht rasierten Haut, während er schmatzend und mit leicht geöffnetem Mund zu kauen beginnt. Timos Hände scheinen überall zu sein, befingern mich, betatschen mich, widerlich und klebrig. Ich will das nicht. Aber was kann ich schon tun?

»Na los, fang an!«, feuert ER Timo schmatzend an, nimmt mit seinen fettigen Fingern ein Weinglas zur Hand und trinkt einen großen Schluck. Jetzt packt Timo mein Haar, reißt mir den Kopf nach hinten. Seltsame gurgelnde Laute kommen aus meinem Mund, ich bin gezwungen, IHM direkt ins Gesicht zu sehen. ER stellt lässig sein Glas beiseite und verzieht höhnisch den Mund, während Timo meinen Kopf urplötzlich wieder freigibt.

Meine Stirn knallt auf das blütenweiße, gestärkte Tischtuch. Lavendel, denke ich. Es riecht nach Lavendel. Wie kann es an einem Ort voller Qual und Demütigung so sauber riechen? Das ist unnatürlich, abstoßend, der Geruch ebenso wie die Tatsache, dass ich ihn überhaupt wahrnehme.

Ich ringe nach Luft, spüre, wie mir schwindelig wird, mein Blickfeld schrumpft und gnädige Schwärze umfängt mich.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich bäuchlings auf dem Tisch. Die Musik spielt immer noch, fröhliche Klänge, die überhaupt nicht zu den Schmerzen passen, die meinen Körper nun unkontrolliert zittern lassen.

Ich bin nicht in der Lage, mich zu bewegen, wünsche mir nichts mehr, als dass die Erde mich verschlingt, während ER mich mit dem gleichen, hämischen Blick mustert wie zuvor.

»Geil, eh?“, fragt er mich spöttisch, dann wendet er sich an den Mann, der immer noch hinter mir sein muss. Was zum Teufel ist in den letzten Minuten passiert? Was hat Timo mit mir gemacht? Ich will es eigentlich gar nicht wissen, doch SEINE nächsten Worte lassen leider keine Fragen offen:

»Timo, Timo, wann wirst du endlich daran denken, ein Kondom zu benutzen«, tadelt ER seinen Mitarbeiter. »Was für eine Sauerei! Hier, mach dich sauber.« ER wirft eine der schicken, weißen Stoffservietten in Timos Richtung.

Ich bin auch schmutzig. So schmutzig. Innen und außen. Ich will weg. Nach Hause. Wo ist zu Hause? Ich werde es nie erreichen. Ich bin zu schwach, um auch nur den Kopf zu heben.

Eine blutige, dreckige Serviette landet direkt vor meinen Augen auf dem Tisch.

»Timo«, nörgelt ER. »Also wirklich. Dein Benehmen lässt zu wünschen übrig. Schau nur, sie weint, weil du es ihr nicht ordentlich besorgt hast!«

Timo faucht verärgert, dann packt er mich am Nacken, reißt meinen Kopf hoch und schmettert mein Gesicht auf den Tisch. Ein unschönes Knacken, als die Nase bricht. Mir wird erneut schwarz vor Augen, ehe der Schmerz in meinem Gesicht mich wieder in die scheußliche Realität zurückholt. Ich schmecke Blut.

»Timo! Was bist du nur für ein ungezogener Junge. Blutflecken gehen so schlecht raus. Was mache ich nur mit dir? Aber du wirst es später wiedergutmachen, eh?«

»Si signore«, sagt Timo mit dünner Stimme, die ersten Worte, die ich von ihm höre.

»Ach, Timo, schau nicht so missmutig drein. Du weißt doch, dass ich niemand sonst bemühen kann«, sagt ER heuchlerisch. »Und du tust es doch gern, eh? Aber genug davon! Ich will, dass sie unser neues Schmuckstück kennenlernt. Avanati!«

Timo zerrt mich hoch, schleift mich noch weiter nach hinten. Ich hänge willenlos in seinen Armen, lasse mich einfach mitziehen. Jeder Schritt ist eine Qual, facht die Pein in meinem Inneren immer neu an. Dann stehen wir mit einem Mal vor einer protzigen Wasserwand. Das Plätschern gehört gar nicht zur Musik. Es kommt von diesem Wasserfall, sicher zwei oder drei Meter lang, der am Boden von einem breiten, dunklen Becken aufgefangen wird. Er ist schön. Aber was soll ich hier?

Das wird mir klar, als Timo meinen Nacken packt und mein Gesicht in Richtung Wasserbecken drückt. Panik erfasst mich, mein Körper scheint die letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Ich schlage um mich, doch Timos starken Armen habe ich nichts entgegenzusetzen. Ich schreie, dann tunkt er meinen Kopf auch schon in das eiskalte Nass. Wasser dringt in meine Lunge. Ich ersticke! Mein Herz wummert nur noch hilflos in der Brust. Fieberhaft rudere ich mit den Armen, doch ich merke, wie mich die Kraft verlässt.

Dann packt mich jemand an den Haaren, reißt mich zurück und lässt mich achtlos neben das Becken fallen. Ich japse, huste, würge, versuche krampfhaft Luft in meine schmerzende Lunge zu bekommen. Meine Brust droht zu zerreißen, bis es mir endlich gelingt, einen Atemzug zu tun.

Ich werfe den Kopf zur Seite, als ich sehe, dass Timo erneut nach mir greift. Ich will irgendetwas tun, aber ich bin zu schwach. Nicht einmal meine Arme kann ich zur Verteidigung heben. Erbarmungslos packt er mich schon wieder. Die schwache Gegenwehr scheint er nicht mal zu bemerken. Drückt mein Gesicht aufs Neue unter Wasser. Nein!

Noch unbarmherziger ist er, als er mich abermals herausholt. Timo schüttelt mich nur kurz, ich kotze einen Schwall Wasser auf die Fliesen vor dem Becken, dann wird mein Kopf schon wieder unter die Wasseroberfläche gepresst.

Ich wehre mich nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Es ist aus. Ich will sterben. Ich kann nicht mehr kämpfen.

Doch ein weiteres Mal werde ich aus dem Wasser gezogen, lande rücklings auf dem nassen Boden. ER ist nun auch da, zusammen mit Timo starrt er auf mich herunter, als sei ich ein seltenes Insekt unter einem Mikroskop.

Lasst mich doch! Was wollen sie denn noch? Tot oder lebendig. Macht das überhaupt einen Unterschied? Ich will nicht sterben. Und doch wünschte ich, es wäre endlich so weit. Ich halte diese Folter nicht mehr aus. Warum tun sie es nicht einfach?

Jäh fällt es mir ein. Gnade. Ich muss um Gnade betteln! Wie bei meinem Meister. Dann werden sie von mir ab-lassen. Nur, wie ging das? Ich muss etwas machen … Füße. Nein. Schuhe! Ich muss IHM die Schuhe sauber lecken. Der Meister liebt das. ER wird es auch wollen.

Verzweifelt versuche ich, mich aufzurichten, doch Arme und Beine wollen mir einfach nicht gehorchen. Quälend langsam rolle ich mich auf die Seite, höre, wie ER gehässig über meine Mühe lacht. Aber ER ist nicht weit weg, ich kann es schaffen. Schon geraten seine glänzenden Lederslipper in mein Blickfeld, aber dann bewegt er sich ein Stück von mir weg. Will es mir nicht zu leicht machen. Ich schiebe mich weiter über den nassen Boden.

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