Der große Absturz

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Jean-Paul Paul Jean-Pierre nahm einen tiefen Schluck, dann einen zweiten, einen dritten.

Billiges Bier alterte nicht wie guter Wein, eindeutig. Jean-Paul Paul Jean-Pierre knallte die leere Flasche an die Wand. Er streckte den Arm noch einmal aus, griff sich eine zweite Flasche, säuberte den Flaschenhals, schlug den Kronkorken gegen die Platte und vernichtete den Inhalt. Nachdem er das Ritual mehrmals wiederholt hatte, fiel Jean-Paul Paul Jean-Pierre plötzlich ein, dass er schon seit Jahren nicht mehr trank, was auch gut so war. Schwankend setzte er sich und überlegte, was er hier eigentlich machte, allein und untätig im Dunkeln. Ohne weiter nachzudenken, schaltete er das Licht an, nahm eine Holzform zum Flechten, holte ein paar eingeweichte Riemen aus einem Fass, griff sich einige Kanthölzer aus Esche und legte los.

Seine neun Finger erwachten wie von selbst zum Leben, ihr Muskelgedächtnis übernahm den größten Teil der Arbeit. Die Stunden vergingen, und nachdem er die Bespannung für mehrere Paar Schneeschuhe geflochten hatte, stellte Jean-Paul Paul Jean-Pierre fest: Er war glücklich.

Es war Nacht geworden, als Julie-Frédérique in flammendem Zorn hereingerauscht kam:

»Was machst du hier, du Idiot? Die Wohnung ist von einer Meute schwarzer Löcher befallen, und du verplemperst deine Zeit mit Kinderkram?«

»Das mit den schwarzen Löchern weiß ich«, antwortete Jean-Paul Paul Jean-Pierre. »Regle du das, ist doch deine Spezialität. Ich kümmere mich nicht gern um solche Sachen.«

Julie-Frédérique knallte die Tür hinter sich zu.

In den frühen Morgenstunden, als Jean-Paul Paul Jean-Pierre erschöpft in seine Wohnung zurückkehrte, bemerkte er, dass die schwarzen Löcher verschwunden waren. Zudem bemerkte Jean-Paul Paul Jean-Pierre, dass auch Julie-Frédériques Computer, Julie-Frédériques Wäsche samt Unterwäsche sowie Julie-Frédériques Bücher verschwunden waren.

Jean-Paul Paul Jean-Pierre legte sich auf sein leeres Sofa, das er nun wieder ganz für sich hatte, blätterte in dem bunten Telefonbuch, schlief darüber ein. Und bunt waren auch seine Träume.

Kapitel 3

Der alte Roméo Cœur-Brisé hatte eine Schwäche für den Wald rings um Kitchike, vor allem im Frühling. Auf den Pfaden, die in allen Richtungen unter den Tannen und Fichten, Birken und Ahornen hindurchführten, wähnte er sich fast wie in seiner Jugend in den Wäldern seines Vaters, tief in der Wildnis, auf dem Land seiner Vorfahren. Jeder Schritt machte ein leises schmatzendes Geräusch. Der weiche Boden duftete scharf nach Tannennadeln. Hier und dort lag noch Raureif auf den Bäumen. Eine frische Brise fügte sich mit der Wärme der schräg stehenden Nachmittagssonne zu einem harmonischen Ganzen. Die Luft war lau. Das Knacken der Zweige, der erdige Geruch, der Wind auf seinem Gesicht, der Gesang der Blauhäher, Rotkardinäle und Meisen, all dies war das wahre Leben. Natürlich war es nur eine Illusion: Das Reservat und vor allem die Stadt waren nur wenige Kilometer entfernt. Doch seine alten Knochen erlaubten ihm keine nomadischen Streifzüge durch die Wildnis mehr, und so begnügte sich Roméo Cœur-Brisé mit diesem Waldstück. Er genoss jeden Laut, jeden Duft, jeden Baum, jeden Stein. All das war ein Geschenk, Balsam für seine wunde Seele. An diesem Tag hätte ihm nichts anderes Frieden bringen können.

Der alte Roméo ließ sich auf einem Baumstumpf nieder, um den Bach und sein Glitzern in der Frühlingssonne zu betrachten. Hier draußen herrschte Ruhe. Nach sechsundsiebzig Lebensjahren konnte Roméo bezeugen, dass es auch andere Zeiten gegeben hatte. In seiner wilden Jugend war Kitchike eine Ansammlung von Hütten gewesen – ein Lagerplatz, nicht viel mehr. Doch dann hatten sich die Häuser fast genauso schnell vermehrt wie die Menschen und die Hunde. Unbefestigte Wege wichen Asphaltstraßen. Die Trampelpfade zwischen den Häusern endeten immer häufiger an Holzzäunen. Roméo konnte nicht begreifen, warum seine Leute das ihnen zugewiesene Gebiet wie Katasterbeamte vermaßen, warum sich ihre Herzen mit wenigen Quadratmetern begnügten. Jahr um Jahr breitete sich das Dorf aus und verschlang den Wald, den früheren Lebensraum der Seinen. Seltsamerweise zeigten die Menschen, je weiter sich die Siedlung in die Natur hineinfraß, immer weniger Interesse für den Wald. Die Jugend, hypnotisiert von den Lichtern der Stadt, kehrte der Natur mehr und mehr den Rücken. Das betrübte den Alten, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er sich dadurch umso besser in ihrer freundlichen Ruhe erholen konnte. Heute hätte er auch keine neugierigen Blicke ertragen.

Ach, Diane …

Der alte Mann stieß einen Seufzer aus, der als kleine Wolke aufstieg. Das reichte, um ihn zu bezaubern. Er strahlte über das ganze faltige Gesicht.

Singen. Es ist Zeit zu singen.

Der alte Mann setzte seinen sandfarbenen Rucksack ab und entknotete die Riemen. Die kleine Handtrommel, die er herausnahm, war wie neu. Eine unverbrauchte Trommel für seine verbrauchten Hände. Er ließ sich Zeit, betrachtete, berührte, beschnupperte sie. Er rieb in kleinen konzentrischen Kreisen mit der Handfläche darüber, als wollte er sie zutraulich machen. Diese Trommel hatte Romeo Cœur-Brisé noch nie benutzt. Ein Großneffe hatte sie ihm vor einigen Jahren geschenkt, ein talentierter Musiker, der das Nomadentum der Familie Cœur-Brisé im Blut hatte. Sonst zog Roméo alte Dinge vor, sichere Werte, erprobt durch Erfahrung und Verschleiß. Doch als er heute Morgen aufgebrochen war, hatte ihn diese Trommel gerufen, und da sein Instinkt ihn selten trog, hatte der Alte beschlossen, ihr eine Chance zu geben. Er griff in den kleinen Beutel, den er um den Hals trug, und holte eine Prise Tabak heraus. Dann legte er die Opfergabe auf die Trommel und sprach leise das passende Gebet. Schließlich nahm er den Schlegel in seine schwielige Hand, schlug einen langsamen Rhythmus und brachte die gespannte Haut zum Singen.

Das war dein Lied, Diane, als du klein warst.

Du erinnerst dich doch, nicht wahr?

Roméo begann zu singen. Er sang, und jede Note, jede Silbe, jedes Wort stieg von seinen Lippen empor und verschmolz mit dem Gesang der Schöpfung, so wie der Tabakrauch, der die Gebete trägt, emporsteigt. Roméo hatte den Gesang angestimmt, mit dem er seine kleine Schwester in ihren Kindertagen oft getröstet hatte. Roméo sang, und im makellosen Blau des Himmels ertönte ein lautes Grollen, ein Donnergrollen, das nach einem heftigen Gewitter klang. Das Unterholz wurde lebendig. Hasen, Rebhühner und Eichhörnchen bekamen Angst. Obwohl kein Lüftchen ging, raschelte das Gebüsch.

Roméo schwieg. Er legte die Trommel beiseite und hob den Kopf.

Nichts.

Nicht eine einzige Wolke verdunkelte den Himmel. Nichts kündete von Regen, Wind oder Sturm. Ganz im Gegenteil. Selbst die murmelnde Brise war verstummt.

Ach, Diane! Weißt du noch?

Roméo schloss die Augen, um besser zu sehen.

Am Himmel tat sich ein klaffendes Loch auf, zerriss das Firmament. In der Ferne leuchtete plötzlich ein Feuerpunkt, wurde größer und verschwand wie eine Sternschnuppe am Horizont zwischen den Bäumen.

Diane, das ist wunderschön! Wie gern würde ich dich jetzt in den Armen halten.

Allmählich kehrte die Brise zurück und umspielte den Nacken des alten Roméo Cœur-Brisé. Neugierig verzog er das Gesicht und schlug die Augen auf.

Glaubst du, ich werde es finden?

Vor ihm, am Ufer des Bachs, stand ein Mann. Ein alter Freund, so alt wie er selbst. Erfahrung und Verschleiß hatten sie voneinander entfernt. Das Kreuz und der Kreis passten ohnehin nur selten gut zusammen, das konnten sie beide bezeugen, aber tatsächlich auseinandergebracht hatte sie das Herz einer Frau. Trotzdem stand der Mann jetzt da, an diesem Ort, so wie Roméo es im Traum gesehen hatte. Er stand da, an diesem Ort, und war immer noch derselbe. Er hatte Soutane und römischen Kragen gegen Holzfällerjacke und Baseballkappe getauscht. Unter dem Gewicht der Jahre war sein Rücken krumm geworden, und in sein vor Bitterkeit lang gewordenes Gesicht hatten sich tiefe Furchen gegraben. Doch es war unverkennbar Albin Pinault, der frühere Missionar von Kitchike.

Roméo schob die Trommel in den Rucksack und fragte, ungewollt taktlos: »Und, wie war die Gedenkmesse?«

Der Priester antwortete nicht gleich. Er ließ den Blick schweifen, entdeckte einen vorstehenden Felsen und setzte sich in aller Ruhe hin. Dann sah er zum Bach und murmelte mit schmerzerstickter Stimme: »Das weiß ich nicht. Ich hatte nicht die Kraft hinzugehen.«

Offensichtlich hielt er die Tränen ebenso zurück wie seine Worte.

Roméo hakte nicht nach. Schweigen ist Gold, das galt ebenso für den Mann des Kreises wie für den Mann des Kreuzes. Ein sicherer Wert, erprobt durch Erfahrung und Verschleiß. Und so begnügten die beiden sich damit, denselben Bach mit seiner brüchigen Eisschicht zu fixieren, sich einer neben dem anderen am Wiedererwachen der Natur zu erfreuen. Sie saßen lange da, an diesem Ort, bis der Moment Wurzeln schlug.

Wie viel Zeit war seit ihrem letzten Gespräch vergangen? Wie alt war Roméo gewesen, als er das letzte Mal mit Pinault gesprochen hatte? Sechzig, zweiundsechzig? Roméo konnte es nicht leiden, die Jahre auf diese Weise zu zählen. Das war ihm zu geradlinig, zu gregorianisch. Der Mensch entwickelte sich doch in seinem eigenen Rhythmus, aus eigenem Antrieb und durch die Erfahrungen, die er machte. Was sollte so ein starres Maß bringen? Er hatte diesen aus Europa eingeführten Brauch nie verstanden. Er fand ihn falsch, unwichtig und tückisch. Roméo war immer überzeugt gewesen, dass die Anzahl der Jahre, die ein Mensch noch zu leben hatte, viel bedeutsamer war, als wie viele schon hinter ihm lagen. In einer Sanduhr verrinnt die Zeit doch auch, und kein Mensch käme auf die Idee zu sagen, sie häufe sich an. Da aber niemand wusste, wie lang sein Weg auf Erden war, zog Roméo es vor, Geburtstage und Kerzen zu ignorieren. Er war ein Kind gewesen, dann ein Mann, und jetzt war er alt, einfach nur alt. Betagt und furchtbar einsam mit seinen Grübeleien, seinen Erinnerungen und seinem Bedauern.

 

Ohne den Blick vom fließenden Wasser abzuwenden, musterte er Albin aus den Augenwinkeln.

Die Gegenwart, alter Spinner. Jetzt zählt nur noch die Gegenwart.

Aber welche Worte würden sich auf eine Lichtung wagen, die nur das Schweigen kannte? Zärtliche, brüderliche Worte? Oder kriegerische, verletzende?

Da er nicht wusste, welches Gefühl aus seinem Mund dringen würde, beschloss Roméo, weiter zu schweigen. Er machte sich frei, indem er seine Ängste eine nach der anderen als kleine Dunstwölkchen ausstieß und die Lungen bei jedem Atemzug mit der frischen Frühlingsluft füllte.

Langsam verschwand die Sonne hinter den Baumwipfeln und warf dunkle Schattennetze über die Männer. Die beiden Freunde trugen bereits genug Finsternis in sich und wollten sich nicht ein weiteres Mal darin verlieren. Im sanften Licht der untergehenden Sonne löste sich die Zunge des Priesters:

»Wenn nur … Wenn nur die Untersuchung nicht verhindert worden wäre. Wenn wir Gerechtigkeit bekommen hätten, glaubst du, dann würden wir heute, fünf Jahre später, auch hier sitzen?«

»Ach komm, Albin! Du hast die letzten fünfzig Jahre bei uns gelebt. Du bist praktisch einer von uns. Du müsstest wissen, dass Gerechtigkeit in Kitchike ein ferner Traum ist, eine zu schwere Last. Gerechtigkeit, nein, das wäre zu viel verlangt.«

»Und was ist mit der Wahrheit?«, murmelte Pinault mit tränenerstickter Stimme. »Wenigstens die Wahrheit. Für Diane. Haben wir nicht lang genug unter dieser Farce gelitten?«

»Die Wahrheit, ja, das wäre schön«, pflichtete ihm Cœur-Brisé bei. »Aber ebenso wie die Gerechtigkeit ist auch sie in Kitchike nur schwer zu finden.«

»Dann bleibt uns nur das Gebet? Das Gebet und der Glaube?«

Roméo musste sich zügeln.

Er hätte am liebsten gesagt, dass der Glaube etwas für die Christen sei, dass er ihn nicht brauche, weil er das Leben hatte, den Traum, den Kreis. Doch für Pinault war die Trauer schwer genug. Außerdem wurde es allmählich dunkel. Zeit zu gehen. Er stand auf.

»Komm mit. Ich will dir was zeigen.«

Roméo verschwand zwischen den Bäumen. Verwundert, aber neugierig stand der Priester auf und folgte ihm. Die beiden Männer verschmolzen mit der einbrechenden Nacht. Cœur-Brisé lief voraus, so schnell ihn seine alten Beine trugen, Albin dicht hinter ihm, auch wenn er kaum Schritt halten konnte. Ab und zu blieb Roméo stehen, sog die Luft ein und lauschte den Geräuschen der Nacht, dann konnte der Priester einen Moment verschnaufen. Albin hatte keine Ahnung, wohin sie liefen und warum sein alter Freund ihn tief in den Wald führte, tief in die Finsternis. Doch trotz ihres jahrelangen Schweigens, trotz der Kluft, die zwischen ihnen entstanden war, vertraute er Roméo. Die Jahre hatten sich angehäuft und lasteten jedes Mal, wenn sich der Unfall jährte, schwerer auf ihm. Wenn er nun die Trauer mit dem alten Cœur-Brisé teilte – würde das seinen Schmerz lindern? Oder die Wunde wieder aufreißen? Konnte diese beschädigte Freundschaft gekittet werden? Hätte Diane das gewollt? Ganz gleich, wie die Antworten auf diese Fragen lauteten, er hatte seinen Glauben, und nur der hielt ihn am Leben. Also lief er weiter. Er hastete hinter seinem Freund durch den Wald, obwohl er ihn nicht einholen konnte.

Roméo schien nichts von seiner Kraft eingebüßt zu haben. Er lief und lief und wurde nicht müde. Kurz glaubte Albin ihn in der Finsternis des Waldes verloren zu haben. Doch gleich darauf blieb der Medizinmann auf der Kuppe eines Hügels stehen, ein ganzes Stück voraus, an einer Stelle, wo der Mond funkelte wie tausend Lichter.

Nein, nicht der Mond. Etwas anderes. Ein anderer Himmelskörper. Ein warmes Licht strahlte vom Hügel herab, fiel zwischen die Bäume, warf Schatten in alle Richtungen. Albin ging keuchend in die Hocke und starrte, er konnte nicht anders, direkt in das Licht: voller Leben und so sanft. Der Stern durchdrang den Priester mit seinem Leuchten und erfüllte ihn bis ins Innerste mit tiefem Frieden. Albin richtete sich auf und schritt feierlich, fast schon schwebend voran, ganz so, als hätte dieses göttliche Licht ihn von seinen schmerzenden Knochen erlöst. Als er nach einer Weile endlich beim Medizinmann ankam, sank er auf die Knie, faltete die Hände vor der Brust und begann zu beten.

»Ist das nicht wundervoll!«, sagte Roméo mit einem seligen Lächeln.

»Aber … Was ist das? Ein Engel?«

»Es kommt aus der Himmelswelt. Vorhin ist es zwischen die Bäume gefallen.«

Der alte Priester starrte auf das Licht, als hoffte er, es käme von ihr.

»Diane …«

»Ich glaube nicht, dass sie es ist, aber es ist sicher eine Botschaft«, sagte Roméo mit einem Lächeln.

Schritt für Schritt näherte sich der Medizinmann der Lichtquelle, die vor ihm in der Luft schwebte. Albin beobachtete ihn, zögerte kurz und beschloss dann, aufzustehen und ihm zu folgen, nah, ganz nah heran. Das Licht war stark, blendete ihn aber nicht. Albin spürte, wie eine sanfte Wärme ihn umhüllte, ihn wiegte wie eine Mutter ihren Säugling.

Das war … eine richtige kleine Sonne.

»Woher wusstest du davon?«, fragte Albin.

»Ich habe es geträumt. Du nicht?«

Kurz flackerte Spott in den Augen des alten Schamanen auf, aber sein Lächeln blieb schelmisch.

»Du weißt doch, dass mir diese Welt fremd ist, Méo. Was ist das?«

»Die Hoffnung. Gerechtigkeit oder Wahrheit mögen uns verwehrt bleiben, aber wir haben immer noch die Hoffnung.«

»Schickt sie uns eine Botschaft?«

Cœur-Brisé nickte.

»Ein Geschenk. Einen gemeinsamen Moment, nur für uns.«

»Was sie zu Lebzeiten nicht geschafft hat«, murmelte Albin.

Roméo streckte die Hand aus und schloss sie vorsichtig, einen Finger nach dem anderen, um die kleine Lichtquelle, die auf der Stelle erlosch. In seiner Handfläche blieb ein schwaches Glimmen zurück, eine schimmernde Perle, die an einer Kette aus geflochtenem Süßgras hing. Ein Amulett. Der alte Roméo drehte sich um, stapfte auf den Priester zu, breitete die Hände aus und umarmte ihn innig. Die beiden Alten standen da, an diesem Ort, allein im Wald, und weinten gemeinsam im leisen Mondlicht. Für den Priester mochte es sich um einen Engel oder ein Zeichen Gottes handeln. Für Roméo Cœur-Brisé war es ein Licht. So wie seine kleine Schwester Diane, ein Licht in der Tiefe der Nacht.

Das reichte ihm.

Kapitel 4

Jakob Paul betrachtete schon seit einer Viertelstunde die Porträts in der Eingangshalle des Reservatsrats, die ausnahmslos Chef Saint-Ours zeigten, als die Muse all dieser künstlerischen Ambitionen den vorigen Besucher endlich aus dem Büro entließ. Kaum erblickte der Chef Jakob, fraß sich ein Grinsen auf seinen Zügen fest. Mit einer brüsken Bewegung der linken Pranke lud er ihn in seine Höhle ein.

»Also, mein Swimmingpool, Erstbefüllung und Wartung – Interesse, das wieder zu machen?«, fragte der Chef.

»Klar«, antwortete Jakob. »Selber Tarif wie letztes Jahr?«

Der Chef zögerte, verzog kurz das Gesicht, nickte dann.

»Ich sag dir aber gleich: Dieses Jahr wartest du nicht bis zum Nationalfeiertag, um das Ding zu befüllen. Am 21. Juni kommen wichtige Gäste. Also mach mir nicht den Tooktoo, haben wir uns verstanden?«

Jakob wusste zwar, dass der derzeitige Chef die Familie Tooktoo abgrundtief hasste, aber den Spruch hörte er zum ersten Mal. Er fand ihn genauso unsinnig wie die internen Grabenkämpfe, die seit grauer Vorzeit in Kitchike ausgefochten wurden. Jakob mochte die politische Schlagseite nicht, die das Gespräch bekam, deshalb wollte er aufstehen und gehen, bevor der Chef seine übliche Litanei anstimmte. Doch leider hatte sich seine Zunge bereits ungefragt in Gang gesetzt:

»Ach komm! Nur nicht alle in einen Topf werfen, Chef. Die kleine Sophie von der Tanke ist gar nicht so übel …«

Der Chef legte Jakob eine große Pranke auf die Schulter und drückte ihn tiefer auf seinen Stuhl. Dann wurden die Augen von Saint-Ours zu Abgründen, und sein Maul klaffte weit auf:

»Lang, lang ist’s her …«


Lang, lang ist’s her, da fanden im Indianerreservat von Kitchike in der Provinz Québec große volkstümliche Feste statt. Damals nannte man das Powwow, aber eigentlich handelte es sich eher um sportliche Wettbewerbe im Kostüm. Jedes Jahr kamen die Krieger aus den umliegenden Reservaten zusammen, all die tapferen Männer aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga, um am Großen Lénest-Powwow von Kitchike teilzunehmen. Die Schnellsten, Stärksten und Geschicktesten traten bei den ehrenvollsten Indianer-Wettkämpfen der Provinz an: Fuchsschießen, Schneeschuhflechten, Kanurennen und natürlich Balztanz für die jungen Schönheiten mit Federschmuck. Unsere Mädels waren aber auch absolute Prachtexemplare, das muss man schon sagen. Ich weiß nicht, ob es da eine Verbindung gab, aber auf dem Höhepunkt der Hippie-Jahre standen Fransenkleidchen hoch im Kurs, Federn wie auf den alten Yum-Yum-Chipstüten und falsche schwarze Pocahontas-Zöpfe. Miniröcke, Lederfransen, das war damals in. Um Touristen anzuziehen, mussten wir halt den Klischees entsprechen, die uns die Weißen gern überstülpen, wir wollten ja unser täglich Brot verdienen, und Butter drauf vielleicht auch noch. Aber ehrlich gesagt, was den Aufzug der Fräuleins betraf, hat sich kein Krieger je über ihren Anblick beklagt. Es war Kitsch, aber sexy. Und die Mädels aus dem Reservat, die Prachtmädels aus dem Reservat taten auch nichts lieber, als vor den versammelten Kriegern herumzustolzieren, ihre Fransen zu schütteln und zu johlen.

In Kitchike gab es aber einen Mann, bei dem die jungen Frauen nicht außer sich gerieten. Einen Mann, den sie nie anschauten, nie bemerkten: Noé, die Bohnenstange mit der Problemblase.

Der Legende nach konnte er keine halbe Stunde durchhalten, ohne eine Stange Wasser wegzubringen. Trank nie mehr als ein großes Glas Wasser pro Tag – im Sommer –, gerade genug, um unter der staubigen Sonne des Reservats nicht auszutrocknen. Viel gegessen hat er auch nicht. Genauso wenig Appetit wie Sex-Appeal. Nicht dass er besonders hässlich gewesen wäre, der große Noé. Es war eher so, dass die schwindelerregende Senkrechte dieses Körpers sich aus seinen Socken bis in ungeahnte Höhen zu erheben schien, ohne das geringste bisschen Muskelmasse. Die Art Mann, den kleine Kinder mit Steinchen bewerfen, wenn er grad nicht guckt. Das ideale Opfer für den rüden Humor von Big Chef Tooktoo.

Wie dem auch sei, in jenem Sommer hatte Noé beschlossen, sich zu rächen. Ein einziges Mal wollte er Big Chef Tooktoo das Maul stopfen. Die Mädels aus dem Reservat – die prachtvollen Mädels aus dem Reservat mit ihren falschen Zöpfen, ihren echten Federn und ihren lederverschnürten kleinen Brüsten – sollten ihn sehen, ihn bewundern, ihn begehren. Noé wollte bei dem ehrenvollsten und beeindruckendsten aller Wettkämpfe für starke Männer antreten: beim Wettlauf der Träger. Und damit ist nicht das Umtragen beim Kanurennen gemeint. Auch nicht der Wettbewerb, bei dem man mit einem Riemen um die Stirn einen Sandsack hochheben musste. Nein, ich meine die strapaziöseste Extremsportart aus dem hintersten Winkel der Reservate, eine Kombination der zuvor erwähnten Disziplinen: der Wettlauf der Träger. Riemen um die Stirn, Sandsack auf dem Rücken, sechzig Meter von der Start- bis zur Ziellinie, ein einziger Sieger. Denn der zweite Platz ist ein Trostpreis, mit dem du dich alleine trösten kannst. Es kann nur einen Geronimo geben.

Also machte es Noé wie alle versammelten Krieger. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen. Bevor er sich mit an die Startlinie stellte, verschwand er auf die Toilette. Keiner war überrascht: Problemblase. Die anderen Krieger wurden eine Spur ungeduldig, das Publikum ließ ihn bei seiner Rückkehr spüren, dass man genervt war, aber Noé stand brav mit den anderen an der Linie, als der Startschuss fiel. Mit neunzig Kilo auf dem Rücken und dem Riemen um die Stirn liefen und liefen die Krieger die regulären sechzig Meter Strecke. Wider Erwarten raste Noé los, so pfeilschnell, als spürten seine Beine das Gewicht des Sandsacks nicht. Noé lief und lief. Und siegte! Noé, die Bohnenstange mit der Problemblase, gewann die erste Ausscheidung! Das Publikum war baff. Erst leise, dann immer beherzter erhob sich Applaus unter den völlig faszinierten Zuschauerinnen und Zuschauern.

 

Dann kam das Halbfinale. Noé machte es wie alle versammelten Krieger aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen. Und bevor er sich mit an die Startlinie stellte, verschwand er wieder auf die Toilette. Problemblase. Bei seiner Rückkehr erwartete ihn eine ganz andere Reaktion. Die Mädels aus dem Reservat – die Prachtmädels aus dem Reservat mit ihren falschen Zöpfen, ihren echten Federn und ihren lederverschnürten kleinen Brüsten – bejubelten ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde der Bohnenstange das Geheul der Menge zuteil, die Schlachtrufe der jungen Schönheiten im sexy Indianerdress:

»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«, schrien sie und trommelten mit der Hand auf ihre geschürzten Lippen.

Big Chef Tooktoo gab den Startschuss, und die Männer nahmen die Beine in die Hand, Sandsack am Riemen, Schweißbach in der Poritze. Einhundertachtzig Kilo Sand an einem Klappergestell, das auf Mokassins eine Sechzig-Meter-Strecke aus gestampftem Erdboden laufen musste – ganz schön heftig für eine Bohnenstange aus dem hintersten Winkel des Reservats. Die Konkurrenten rackerten sich noch weiter hinten ab, während Noé längst die Ziellinie als Sieger überquerte. Die Menge sprang tobend auf. Ein paar der jungen Schönheiten rissen sich gar ihre Lederverschnürungen runter, dabei waren Heavy-Metal-Konzerte noch gar nicht erfunden. Zum ersten Mal, seit es diese Disziplin gab, kam einer von hier ins Finale! Selbst dem Big Chef blieb nichts anderes übrig, als diesen Sieg zu einem Wendepunkt in der Geschichte des Großen Lénest-Powwows von Kitchike zu erklären. Noé gehörte weder zu seiner Familie noch zu seinen Fans, er stand nicht mal auf seiner Seite, aber er stammte aus seinem Reservat, da griff der Big Chef schnell mal ein bisschen was vom Ruhm ab. Mit Bescheidenheit kommt man nicht weit. Den Spruch hatte zwar nicht Tooktoo erfunden, aber so dreist, wie er war, hätte er das auch noch behauptet, ohne eine Miene zu verziehen.

Zum Finale war die Menge auf den Rängen zu beiden Seiten der Strecke nicht mehr zu halten. Die Sensation hatte sich im Nu herumgesprochen, das kriegen wirklich nur wir Kitchikeraner so hin. Innerhalb von Minuten waren alle Plätze besetzt. Das ganze Reservat war gekommen, um seinen neuen Helden zu feiern. Tooktoo hielt flammende Reden, unterstrich die Kraft, Beweglichkeit, Tapferkeit und Beharrlichkeit des neuen Lieblings von ganz Kitchike. Wie er der Menge anvertraute, hatte er den jungen Noé schon immer bewundert und stets diskret unterstützt, weit entfernt davon, ihn zu verachten wie alle anderen. Noé war mehr als ein Mitbürger, mehr als ein Vorbild, Noé war sein Bruder, seine Inspiration!

»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«

Noé bereitete sich auf das Finale vor wie alle versammelten Krieger aus Bersimis, Pointe-Bleue, Village-Huron und Caughnawaga. Aufwärmen, Dehnen, Sandsack wiegen lassen, dreihundert Kilo diesmal, dann verschwand er wieder auf die Toilette.

»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«

Noé stellte sich an die Startlinie, neben die anderen versammelten Krieger, und konzentrierte sich auf die sechzig Meter, die er zu bewältigen hatte. Der Big Chef gebot Schweigen, dann knallte der Startschuss. Wild entschlossen versuchten die Krieger, immer größere Schritte zu machen, aber Noé war ihnen schon weit voraus.

»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«

Noé lief und lief und beschleunigte sogar noch, als würde die Last auf seinem Rücken immer leichter. Noé lief und lief und lachte.

»Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou! Noé! Noé! Noé! Wouwouwouwou!«

Das Kriegsgeheul der jungen Schönheiten im sexy Indianerdress erschlaffte und erlosch schließlich in absoluter Fassungslosigkeit. Noé lief und lief und lief. Und aus seinem zerrissenen Sack segelten Gras, Blätter und Stroh … alles Mögliche, nur kein Sand!

Die Bohnenstange mit der Problemblase hatte es gewagt. Noé hatte gemogelt. Er hatte dem großen Mummenschanz öffentlich eine lange Nase gedreht, den jungen Schönheiten im sexy Indianerdress, die ihn nie eines Blickes gewürdigt hatten, und vor allem Big Chef Tooktoo, der längst gedemütigt abgezogen war. Die Mädels aus dem Reservat aber, die versammelten Krieger, die Menge aus Kitchike und aus den umliegenden Reservaten, ja, selbst die exotiksüchtigen weißen Touristen liefen und liefen hinter Noé her, der lachend die Flucht ergriff.

Erst am nächsten Morgen fand man den Sandsack, den echten, auf einem der Klos.

Und in diesem Jahr verlor der Powwow von Kitchike seinen Sponsor, den Nahrungsmittelkonzern Lénest.


»Ich versteh nicht, worauf Sie mit Ihrer Anekdote hinauswollen, Chef Saint-Ours. Was ist die Moral von der Geschicht?«

»Die große Bohnenstange Noé ist mein Onkel. Er war der Erste, der Big Chef Tooktoo bis auf die Knochen blamiert hat. Der Erste, der ihn öffentlich herausgefordert hat. Das haben ihm einige übel genommen, denn hinterher war es nicht leicht für uns. Keine Arbeit, kein Bauland, kein gar nichts. Wir waren Geächtete. Aber ich hab nach vorn geschaut. Es war eine erste Bresche in der Tyrannei der Tooktoo. In dem Moment hab ich begriffen, dass der Big Chef stürzen konnte, dass es möglich war. Vielleicht würde es dauern, wenn nötig Jahrzehnte, aber er würde stürzen. Ich würde uns vom Joch der Tooktoos befreien, wie mein Vater vor mir.«

Jakob sagte nichts.

Keiner verdarb dem Chef gern die Laune. Womöglich war das schon zu Tooktoos Zeiten so gewesen. Oder zu Zeiten von Chef James Saint-Ours, dem Vater des heutigen Chefs. Wahrscheinlich war diese Zurückhaltung aber noch viel älter und stammte aus der Zeit der Indianeragenten, diesen vom Staat eingesetzten Vizekönigen, die die Wilden zähmen sollten. Jakob hatte was gegen alles Gewese und Getue, gegen große Ansprache und feuchte Aussprache. Aber die Aushilfsjobs, wie Jack Saint-Ours sie ihm anbot, kamen ihm finanziell zupass. Keine krummen Sachen: Landschaftspflege, Schneeschaufeln, Kleinkram. Statt einer schlecht dosierten Antwort, die ihm Ärger einbrachte, hielt er also lieber den Mund. Was gar nicht so leicht war, denn der Chef verfügte über die magische Fähigkeit, die schamanische Begabung, seine Worte in einen unsichtbaren Zeigefinger zu verwandeln, der einem so lange in den Bauch piekste, bis man ausspuckte, was in einem vorging.

»Kein Wort? Sag nicht, du bist einer von den Naivlingen, die immer noch glauben, das Terrorregime von Big Chef Tooktoo hätte unserer großartigen Ersten Nation auch nur das Geringste gebracht?«

»Meine Meinung? Jetzt sind Sie der Chef, Jack. Und haben die Chance, es besser zu machen als er. So wie Sie reden, dürfte das nicht schwer sein. Und jetzt, wo wir das mit Ihrem Swimmingpool geklärt haben, würd ich gern meinen anderen Job zu Ende bringen, sonst komm ich in Verzug.«

Jakob trank den letzten Schluck Kaffee, pflanzte seine Tasse auf den Schreibtisch des Chefs und nickte ihm, bevor er hinausging, noch mal zu. Keine Schnörkel, keine Verrenkungen. Nur Respekt, von Mann zu Mann.

Der Chef, allein in seinem Büro, seufzte tief.

Ich behalt dich im Auge, kleiner Nichtsnutz. Ich behalt dich im Auge …

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