Läufers Fall

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„Ihnen auch, Herr Schirm. Trotz der Vermissung.“

Ambrosius legt auf und schlägt mit der Faust krachend auf den Schreibtisch. Er hat einen Auftrag! Und auch noch einen leichten …

2

Tags zuvor …

„Kommt Ambi nicht?“, fragt Kai-Uwe Gaukel in die Runde.

„Nö, ich glaube, der hat mal wieder Schichtdienst“, antwortet Melanie Berg-Wacht pikiert.

„Wieso Schichtdienst, was macht der denn beruflich?“

„Keine Ahnung, der redet ja kaum beim Laufen, hat aber etwas von Schichtdienst erzählt, als er mal nicht konnte.“

„Nicht konnte, hahaha, wenn das mal nicht gelogen war – so etwas gibt doch keiner freiwillig zu“, flachst der schlaksige Paul Reimann von links außen.

„Was du immer denkst, schließlich ist nicht alles zweideutig, nur weil in dein Gehirn nichts anderes reinpasst“, schimpft Melanie aus der Mitte heraus.

Der Lauftreff des MSV Duisburg hat sich zu einer regelmäßigen sonntäglichen Sonderschicht am Sportpark Duisburg- Wedau getroffen, wo das Restaurant „Seehaus“ mit seinem Biergarten den Start der öffentlichen Regattabahnlaufstrecke verschönert. Jede Woche um 9.30 Uhr in der Früh finden sich sechs, sieben, acht Unentwegte ein, um gemeinsam mit dem Übungsleiter 16, 17 oder mehr Kilometer durch den Wald zu laufen. So auch heute.

„Und was ist mit dem Trainer?“, kontert Paul. „Günni wird doch nicht kneifen, oder?“

Kai-Uwe übernimmt das Wort: „Weiß nicht, abgemeldet hat der sich nicht, zumindest nicht bei mir.“ Die anderen nicken zustimmend und setzen ihre Dehnübungen vor dem Laufen fort.

Einen Fuß aus der Parallelstellung weit nach hinten auf die Zehenspitzen gestellt, die Hüfte gesenkt und damit Druck auf die Wade ausgeübt – ein leichter Schmerz in den Muskeln zeigt ihre Dehnung an. Dann Fuß wechseln. Weiter mit Anheben der Hacke eines Fußes an den Po mit einem Handgriff oberhalb des Knöchels, zwanzig Sekunden halten, dann Fuß wechseln (vorher natürlich den bisherigen sicher auf dem Boden abstellen). Armkreisen. Aus dem parallelen Fußstand eine Hacke nach vorne setzen und die Zehen zum Körper biegen – wieder Spannung in den Wadenmuskeln. Einen Ellenbogen vor den Mund heben und ihn mit der anderen Hand zum gegenüberliegenden Ohr ziehen. Wieder Schmerzen – dieses Mal in der beanspruchten Schulter. Kopfkreisen. Rumpfbeugen.

„Mir reicht’s“, lässt sich Paul Reimann schon vernehmen. „Diese ewige Dehnerei geht mir voll auf den Keks. Ich habe zuletzt irgendwo gelesen, dass das sowie nichts bringt, zumindest nicht vorher. Mit zuviel Dehnen vor dem Laufen, kannst du keinen Sieg erkaufen.“

„Besser vorher dehnen als mit verkürzten Muskeln leben“, wirft Edeltraud Gaukel ein, die zweite Frau in der Runde.

„Was machen wir denn ohne Trainer? Idee für eine Strecke?“, wendet sie sich an ihren Mann Kai-Uwe.

„Nö, im Moment noch nicht. Was meint ihr?“

Die Frage richtet sich an die beiden letzten Männer der Truppe, Edgar Kornfeld und Manfred Pechner, die mit dem Dehnen noch nicht abgeschlossen haben und eifrig auf einem Bein stehend die freie Hacke Richtung Po ziehen. Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein: Der kleine drahtige Edgar, seit zwanzig Jahren Polier in einem großen Bauunternehmen, wirkt wie ein Zwerg neben dem massiven Manfred, Sportlehrer an einer Hauptschule. Er ist als einer der letzten zum Lauftreff gestoßen und stolz auf gut 15 Kilogramm Gewicht, die er in den vergangenen zehn Monaten abgenommen hat. Am Anfang war er hinter dem Tross hergekeucht; mittlerweile aber kann er sehr gut mithalten und ist im Begriff, den schmalen Edgar in Grund und Boden zu laufen, obwohl er sich als einziger Teilnehmer des gesamten Lauftreffs immer noch stur als Raucher outet. Seit kurzem ärgert er seine Freunde mit seinem neuesten Hobby, wie er es nennt, dem mehr als zweifelhaften Versuch, alle möglichen Dinge in einem selbst erfundenen Italienisch auszudrücken.

„Wir brauchen eine Strecko, wo uns nicht so viele Hundos begegnen, wegen Edeltraud und ihrer Pychose.“

„Erstens heißt es Psychose, nicht Pychose, und zweitens könntest du bitte aufhören, so zu tun, als hättest du irgendeine Ahnung von Italienisch“, blafft die schmale Melanie Berg-Wacht ihn von links an. Sie ist Friseurin mit Abitur, stolz auf ihre strohblonde Kurzhaarfrisur („Ich hab die Haare schön“, singt sie oft minutenlang) mit Stirnlocke und läuferisch ein Naturtalent. Schon kurze Zeit, nachdem sie vor einem Jahr mit dem Rauchen aufgehört hatte, war sie an die Leistungsspitze der sechs Frauen des Lauftreffs gelangt und überholte auch die meisten Männer bei ihren gemeinsamen Wettkämpfen.

„Menschenskinder, das bisschen Spaß wirst du mir doch wohl gönnen, oder? Ich mäkel ja auch nicht über deinen Haarschnitt, wenn man den überhaupt als solchen bezeichnen kann.“

„Pah, besser mein Haarschnitt als fast Glatze, sag ich da nur“, kontert Melanie.

„Hört auf mit dem Gekabbel, wir müssen eine Strecke finden, wenn Günni nicht kommt“, unterbricht Kai-Uwe die beiden.

„Was für ein Gekabbel, ich kann doch nichts dafür, dass die Frauo kein Verständnis für Bildung und Kulturo hat“, beschwert sich Manfred und wechselt mit einer wütenden Bewegung das Dehnbein. Edgar folgt ihm sofort, als wolle er Manfreds Bemerkung unterstützen.

„9.35, dann kommt der Trainer nicht mehr“, bilanziert Kai-Uwe und geht einige Schritte Richtung Starttafel, als müsse er sich konzentrieren.

„Das wäre uns mit dem alten nicht passiert, der ist immer gekommen. Außer, er hat sich abgemeldet. Aber das hat der neue ja wohl nicht nötig.“ Edeltraud Gaukel redet sich in Rage. „Jetzt stehen wir hier und haben keine Strecke ohne Hunde vorbereitet, ich krieg die Krise.“

„Strecken ohne Hunde gibt es nicht, es gibt nur Strecken mit der Chance auf weniger Hunde“, wirft Paul ein. „Eine Strecke frei von Hunden, hat keiner je von uns gefunden. Du musst dich nicht immer so anstellen, so einfach ist das.“

„Einfach, einfach, wenn ich das schon höre, sei du mal an meiner Stelle mit der Angst im Nacken!“

„Hast du Angstschweiß nass im Nacken, kannst du abends besser …“

„Stopp, jetzt reicht’s, wir haben immer noch keine Strecke, und es ist bald zwanzig vor“, unterbricht Kai-Uwe die Streithähne. Er ist wieder in die Runde getreten und will Verantwortung übernehmen. Durch eine wortlose Übereinkunft gilt er als so etwas wie die Vertretung des Trainers, und ab und zu muss er das auch deutlich zeigen. „Ich schlage vor, wir laufen Richtung Mülheim den Rottweg hoch, dann die Neuner-Runde und wieder zurück.“

„Wie viele Kilometer sind das, und gibt es da Hunde?“, will seine Frau wissen.

Dieses Mal antwortet Manfred: „Mein Gott, die Strecko sind wir doch schon ein paar Malo gelaufo, etwa 19 Kilometri. Du mit deinem Streckenalzheimer! Und wenn Hundos kommen, nehmen wir dich in die Mitto – okay?“

Edeltraud nickt ergeben und murmelt etwas vor sich hin, das sich wie „Ihr und euer Streckenalzheimer“ anhört. Wie immer ist das neckische Treiben der Truppe damit schnell beendet, und man einigt sich darauf, Kai-Uwes Vorschlag zu folgen.

Der morgendliche Oktobernebel hat sich in der Zwischenzeit ein wenig gelichtet, eine zarte Sonnenscheibe wirft glimmernde Strahlen auf das dunkelgrüne Wasser des Berthasees, glitzernde Sternchen scheinen auf der Oberfläche zu schwimmen. Einige unentwegte Angler in kleinen undeutlichen Ruderbooten geben der Szenerie im grauen Dämmerlicht etwas Romantisch-Unwirkliches. „Fast zu schade zum Weglaufen“, findet Melanie seufzend, folgt aber doch den Kollegen. Die Männer haben ihre Stoppuhren und GPS-Empfänger gestartet und sind den beiden Frauen schon einige Meter enteilt.

„Wartet auf uns – hier sind sicher irgendwo Hunde“, ruft Edeltraud hektisch. „Außerdem habe ich wegen meiner Achillessehne ein paar Mal nicht richtig trainiert, das wisst ihr doch.“

„Keine Sorge, wir laufen höchstens 6:30 bis 6:40, das schaffst du schon“, beruhigt sie ihr Mann, der zusammen mit Paul Reimann vorne läuft. Dahinter fügen sich Melanie und Edeltraud ein, gefolgt von Edgar und Manfred, die wie Pat und Patachon die Schlussreihe bilden, nur ist hier der Lange der dickere und der Kurze ein Hänfling.

Die ersten zwei Kilometer an der Regattabahn entlang lassen sich mit der Streckenbeschilderung und den Uhren der Männer exakt vermessen: Kilometer eins wird in 6:35 Minuten gelaufen, Kilometer zwei folgt in 6:30 Minuten – ein gutes Tempo zum Warmwerden und angemessen für den langen Lauf, den das Sextett plant. Im Moment steht gegen Jahresende kein Wettkampf an, und die Vorbereitung auf die Winterlaufserie des ASV Duisburg hat noch viel Zeit; schließlich findet der erste Lauf erst Ende Januar statt, da kommt das heutige Grundlagentraining gerade recht.

„Weißt du, warum Ambi heute nicht da ist?“, fragt Kai-Uwe in vorderster Reihe seinen Nachbarn Paul.

„Nö, der kommt doch sonst sonntags oft, keine Ahnung. Weiß auch nicht, was das mit dem Schichtdienst sein soll, der redet ja so wenig.“

„Ist mir auch aufgefallen, scheint ein Laufredemuffel zu sein. Ich meine, im Vergleich zu den Frauen sprechen wir schon wenig, aber der sagt ja gar nichts.“

„Aber ich finde, der hat sich in den letzten zehn Monaten seit Weihnachten kolossal gemacht, den letzten Zehner ist der in 45 Minuten gelaufen – könnte ich nicht.“ Paul seufzt. Seine Bestzeit von vor vier Jahren liegt bei knapp über 53 Minuten; er schafft es einfach nicht, schneller zu werden. Zuletzt hatte ihn sogar Melanie überholt und war mit 47:36 Minuten ins Ziel gerauscht, ohne dass auch nur eine Haarsträhne einen Hauch von Schweiß abbekommen hätte. Friseurin müsste man dafür wohl sein – oder zumindest Friseur, denkt Paul neidisch.

Kai-Uwe reißt ihn aus seinen Gedanken. „Wo nur der neue Trainer geblieben ist? Ungewöhnlich, nicht?“

 

„Finde ich auch, die letzten Monate war Günni doch sonntags immer da, selbst in den Ferien.“

„Ja, er sagte, er fahre nicht weg, da sei das Laufen eine prima Ablenkung vom Alltag.“

„Was macht der eigentlich beruflich? Hat er mir nie erzählt. Dir?“

„Ich glaube, der ist Ingenieur oder so, für Schiffsbau oder so.“

„Was? Ein Österreicher als Schiffsbauer? Das ist ja wie Franz Klammer in der Sahara! Wüstenstaub am Abfahrtsski verdreht dir höchstens nur das Knie!“

„Mann, du immer mit deinen Gedichten! Er hat wohl lange in Hamburg gelebt, um den Beruf ausüben zu können, mehr weiß ich auch nicht.“

In der zweiten Reihe haben die beiden Frauen es sich in der Zwischenzeit bei ihrem Lieblingsthema gemütlich gemacht. Edeltraud fragt Melanie gerade nach ihrem besten Rezept für eingelegte Heringe, als sie sieht, dass ihnen ein Mann im seidenen Jogginganzug mit einem Rottweiler an der Leine entgegen kommt. „Ich muss mal in die Mitte da vorne“, ruft Edeltraud ihrer Nachbarin hektisch zu und sprintet einige Meter, um sich zwischen die beiden Führenden zu drängeln. „Keine Angst, der tut nichts“, will Kai-Uwe seine Frau beruhigen.

„Das sagen sie alle, und: Der will doch nur spielen“, gibt sie verängstigt zurück.

Der Mann hat Edeltrauds panisches Verstecken in der Mitte der ersten Reihe bemerkt und lässt bei der Begegnung ein lachendes: „Keine Angst, junge Frau, der tut nix“ hören, um dann interessiert stehen zu bleiben. Der Rottweiler knurrt böse, wahrscheinlich, weil es nicht weitergeht. „Das wissen Sie, aber weiß das auch der Hund?“, fragt Edeltraud besorgt nach hinten. Der Mann zieht kopfschüttelnd von dannen und zerrt das Tier hinter sich her. Edeltraud reiht sich wieder neben Melanie ein.

Hinten geht es schweigsam zu. Manfred weiß, dass Edgar noch weniger als Melanie mit seinem italienischen Hobby anfangen kann, beide verweigern Interesse an den Erfolgen ihres heimischen aufstrebenden Zweitligisten, und Edgar kann und will mit einem Sportlehrer nicht über Mauern, Betonstürze und Estrich-Verlegung reden – so finden sie kein gemeinsames Thema, laufen einfach stumm nebeneinander her und hören dem Geplapper der Frauen zu, die sich mittlerweile den Themen Garten und Blumenpflege zugewandt haben. Edeltraud schwärmt von der bunten Pracht in ihrem kleinen grünen Paradies, und Melanie kontert, ihr Balkon sei auch ganz schön bepflanzt.

Bald ist kurz vor dem dritten Kilometerschild der Regattarunde der Abzweig Richtung Mülheim erreicht, und der Trupp trottet gemächlich über die Wedauer Brücke, danach links und sofort wieder rechts in den Wald hinein. Nach kurzer Zeit überqueren sie die Autobahn A3 und halten sich dann halb rechts, um erst den Worringer Reitweg zu kreuzen und dann ganz leicht Richtung Rottweg aufzusteigen.

Plötzlich meldet sich Kai-Uwe zu Wort und unterbricht die Frauen, die gerade intensiv diskutieren, ob Dahlien im Sommer schöner seien oder Fuchsien.

„Hört mal, Jungs und Mädels, ich hab’ mir gerade was überlegt. Edeltraud ist ja im Moment wegen ihrer Achillessehne nicht so gut drauf. Was haltet ihr davon, wenn wir vor der Steigung Rottweg nach links in die Tannenstraße abbiegen und dann über den Ganghofer Weg wieder zurückkommen? Da geht es zwar auch bergauf, ist aber flacher und sicher gut für Edeltraud.“

Manfred verzieht das Gesicht: „Auf der Strecko habe ich mir einmal fürchterlich den Knöchelo verstaucht, als ich an einer Grasnarbo hängen geblieben bin. Ich bin ehrlich gesagt überhaupt nicht dafüro.“

Da das aber der einzige Vorbehalt bleibt und der Rest der Truppe die Änderung gut findet, biegt der Tross unter Manfreds Protesten nach links ab, die Tannenstraße hoch mit ihrer schwachen Steigung. Kai-Uwe wartet lange auf eine Bemerkung von Edeltraud und hat schon fast die Hoffnung aufgegeben, als sie sich doch meldet: „Prima Strecke, ganz ohne Hunde. Total einsam und absolut ruhig. Aber hier sind wir doch noch nie gelaufen, oder?“

Die Männer können sie beruhigen; hier sei man schon mehrfach gelaufen, aber immer anders herum.

„Sagte ich doch, so rum noch nie“, erwidert Edeltraud und nimmt die Dahlien-Fuchsien-Diskussion mit Melanie genau an der Stelle wieder auf, an der sie unterbrochen worden war.

Kurz nach dem Vogelherdweg ergibt sich das nächste vorhersehbare Ereignis: Edeltraud muss in die Büsche – dringend. Manfred Pechner findet die angepeilte Stelle wenig geeignet und fordert sie auf, noch ein wenig weiter zu laufen. Sie werde es sicherlich bald bereuen, kaum Sichtschutz zu haben. Edeltraud verweigert das aber aus verständlichen Gründen. „Lauft ihr ruhig langsam weiter – ich komme gleich nach.“

Für durchschlagende Explosionsfälle hat sie immer einen kleinen Vorrat sorgsam gefaltetes Toilettenpapier in der Jacke, so dass sie sich generalstabsmäßig versorgt nach rechts in den Wald kämpfen kann, um im Unterholz oder im Reich der Farne garantierten Sichtschutz zu finden.

Die restlichen fünf Läufer drosseln das Tempo und traben nach zweihundert Metern im Kreis weiter, um auf die Waldgängerin zu warten. Plötzlich hören sie hinter sich einen gellenden Schrei und bleiben erschrocken stehen. „Da wird sich doch wohl kein Hundo im Gebüscho versteckt und dann Edi angesprungen haben?“, frotzelt Manfred.

„Komm, lass, sie wird einen Grund haben, so zu brüllen“, verteidigt Kai-Uwe seine Frau und will ihr entgegenlaufen, um nach dem Rechten zu sehen.

Doch da kommt sie schon auf den Tannenweg gestürmt, an ihrer roten Laufjacke gut zu erkennen, und schreit weiter, wild mit den Armen rudernd.

„Kann einer was verstehen?“, fragt Melanie besorgt.

„Irgendwas mit roter, wahrscheinlich bloß ein rötlicher Dackelo oder bei dem Kracho ein Reho“, vermutet Manfred mit gelangweiltem Augenaufschlag und hochgezogenen Brauen.

Als Edeltraud schreiend und weinend mit hochrotem Kopf im Sprinttempo näher kommt, ist sie deutlich zu verstehen: „ Ein Toter, ein Toter, da vorne im Wald liegt ein Toter!“

3

„Was ist los? Ein Toter? Wo?“ Die Panik seiner Frau hat sich auf Kai-Uwe übertragen. Im Halbkreis umringt die Gruppe ihre Laufkollegin, die sich zitternd mit den Händen auf den Knien abstützt.

„Mir ist schlecht, mein Kreislauf ...“, schluchzt Edeltraud, immer noch keuchend und weinend.

„Was ist passiert?“, will Manfred Pechner wissen. „Ein Totero?“

„Als ich mich im Wald hingehockt hatte, habe ich ihn gesehen.“

„Weno?“

„Den Schuh, genau neben mir unter dem Farn. Und dann das Bein und dann...“ Edeltrauds Stimme versagt, und Tränen laufen über ihr Gesicht.

„Und danno?“

„Dann habe ich gesehen, dass neben mir ein Mann auf dem Boden lag, halb von Farn verdeckt. Er lag auf dem Bauch und hat sich nicht bewegt.“

„Bist du sicher, dass der tot ist? Vielleicht ist dem auch nur schlecht“, drängelt Paul unwirsch. „Nicht jeder, der am Boden liegt, wurde von dem Tod besiegt.“

„Ich bin vor Schreck aufgesprungen und habe dabei den Schuh berührt. Der Mann ist tot, sag ich dir, mausetot, sonst hätte der doch reagiert, als ich geschrien habe.“

„Klingt überzeugend“, unterstützt Kai-Uwe seine Frau. „Kommt, wir gehen mal gucken, was da los ist.“

„Ich gehe nicht mit, da kriegen mich keine zehn Pferde wieder hin“, wehrt Edeltraud ab und setzt sich protestierend auf einen großen Findling am Weg. „Geht ihr nur, ich bleibe hier.“

„Darf ich mit oder soll ich bei dir bleiben?“, fragt Melanie schüchtern.

„Geh nur, ich komme schon zurecht.“

Die Gruppe trabt gemeinsam zweihundert Meter zurück, bis sie die Stelle erreicht, an der Edeltraud sich nach links in den Wald geschlagen hatte. Vorsichtig streifen die Läufer mit ihren nackten Beinen das dichte Unterholz zur Seite.

„Zum Glück sind hier keine Brennnesseln“, flüstert Melanie.

„Klar, sonst hätte Edi sich ja auch nicht getraut“, weist Paul sie zurecht. „Hast du Brennnesseln am Po, wirst du nicht des Lebens froh.“

„Mann, Paul, hör doch mal auf mit deinen ewigen Gedichten, das hält ja keiner aus!“ Kai-Uwe an der Spitze verzieht übertrieben gequält das Gesicht.

„Das Dichterglück am Waldesrand Kai-Uwe niemals lustig fand“, entgegnet Paul grinsend.

„Könnt ihr nicht mal ruhig sein, hier soll ein Toter liegen.“ Melanie sieht sich unsicher um. „Die Frage ist nur, wo?“

Sie sind zwanzig Meter in den Wald hinein gegangen, als Paul ausruft: „Da ist er. Ich sehe einen Schuh da hinten.“ Als sie näher kommen, gehört zu dem Schuh auch noch ein halbes Männerbein bis zu einer kurzen Hose, den Rest verdeckt ein riesiges Farnbüschel.

„Hey, Mann, geht’s Ihnen gut, können wir helfen?“, ruft Melanie neugierig.

„Halt den Mund, du siehst doch, dass der tot ist“, faucht Kai-Uwe.

Als sie fast neben dem reglosen Bein stehen, ruft Paul überrascht: „Mann, das ist ja ein Jogger!“

Kai-Uwe ergänzt: „Ja, glaube ich auch. Und die Schuhe sind von Mizuno, ganz teures Zeug. Die gleichen hat Günni auch, weit über 200 Euro, hat er mir mal erzählt.“

Er und Paul nähern sich dem Schuh und biegen das hohe Farnkraut auseinander. Die Gruppe beugt sich gemeinsam über die Lücke.

„Oh nein, oh nein!“, schreit Melanie auf und rennt wie von Taranteln gestochen tiefer in den Wald.

„Oh Scheiße, das ist ja Günni!“, ruft Kai-Uwe aus.

Unter ihnen, flach auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, liegt Trainer Günter Stock auf dem Boden und sieht in seinem gelben Laufshirt und der schwarzen Hose aus, als würde er schlafen. Einzig ein langer schwarzer Pfeil mitten in seinem Rücken lässt erkennen, dass es ihm nicht ganz so gut geht, wie es die friedliche Körperhaltung vortäuscht.

„Liegt ein Toter tot im Wald, lässt das keinen Läufer kalt“, flüstert Paul und handelt sich einen heftigen Fußtritt von Manfred ein, der blass und zitternd neben ihm steht.

„Du pietätloses Schweino, kannst du nicht mal mit deinen Gedichtos aufhören? Da liegt ein Totero, und wir kennen ihn!“

Kai-Uwe bückt sich und versucht, den Puls des Mannes am Hals zu erfühlen. „Scheint wirklich tot zu sein, ich fühle nichts! Und er ist eiskalt.“

„Natürlich ist der tot, Mann, was glaubst du denn – dass der uns was vorspielt, mit einem Pfeil im Rücken?“ Paul ist außer sich. „Verdammte Scheiße, unser Trainer ist tot, das sieht doch ein Blinder!“

Bevor das Gerangel der Männer weiter gehen kann, kommt Melanie schwankend aus dem dichteren Wald gerannt und ruft: „Da ist noch einer, eine Frau.“

„Was ist wo?“, will Kai-Uwe wissen.

„Da hinten, keine dreißig Meter weiter, liegt eine Frau, die ist auch tot. Ich musste brechen, da habe ich sie voll getroffen!“

„Wie, getroffen?“

„Mir war so schlecht von dem Günni sein Anblick, dass ich brechen musste – mein Magen ist empfindlich, wisst ihr doch. Und als ich mich vorbeugte, habe ich sie voll vollgekotzt, die lag genau unter mir in einem Loch unter dem Farn – mein Gott, die Arme, die hat einen Pfeil in der Brust …“

Mit zitternden Händen umarmt Melanie Paul und hält sich an ihm fest. „Mir wird wieder schlecht.“

Paul stößt sie zur Seite in Richtung Manfred: „Halt dich an dem fest, der ist ein starker Italiener oder so.“

Kai-Uwe übernimmt das Kommando. „Kommt, hört auf, wir sehen nach der Frau. Manni, du bleibst hier!“

„Nee, nee, ich mit dem Toten allein im Waldo, daraus wird nichts. Ich komme mit! Edgar kann bleiben, der ist Handwerkero, der hält das aus.“

Edgar Kornfeld nickt ergeben und setzt sich auf einen dicken Baumstamm: „Aber bleibt nicht zu lange weg.“

Die restlichen drei Männer folgen Melanie tiefer in den Wald. Dreißig Meter weiter sehen sie die Katastrophe: In einem kleinen Erdloch liegt eine Frau in einem blauen Trainingsanzug auf dem Rücken, zur Hälfte von Unterholz und Farn verborgen, das dunkle Haar verdreckt und verkrustet. Die Beine sind übersät von Melanies Mageninhalt, aus der linken Brust ragt ein grüner Pfeil wie eine Blume in den Himmel. Etwas weiter weg liegen zwei Walking-Stöcke über Kreuz auf dem Boden.

„Mannomann, da hast du aber gut getroffen,“ lässt sich Paul in Richtung seiner Laufkollegin vernehmen.

„Das ist doch nicht meine Schuld, ich trinke vor dem Laufen morgens immer einen halben Liter Milch, das weckt mich auf, du alter Nörgler“, erwidert Melanie.

„Könnt ihr nicht mal aufhören, euch zu zanken?“ Kai-Uwe muss wieder den Chef spielen. „Zwei Tote im Wald, so nah zusammen und beide mit einem Pfeil ermordet, das kann doch kein Zufall sein, was meint ihr?“

 

Paul fasst sich als erster: „Natürlich ist das kein Zufall, das ist ein eiskalter Doppelmord. Wir müssen die Polizei anrufen.“

„Werden die uns verdächtigen oder so?“, fragt Melanie ängstlich.

„Keine Ahnung, aber wenn die DNA-Spuren aus der Milch ausgewertet sind, finden sie dich sicherlich über ihre Dateien. Dass mir keiner Spuren verwischt, es reicht schon, dass hier überall unsere Fußstapfen auf dem Boden zu sehen sind.“ Kai-Uwe gilt in der Laufgruppe als enger Freund von CSI Las Vegas, CSI New York und CSI Miami und soll sich mit Ermittlungsverfahren auskennen.

„Ich bin in keiner Datei, ich habe nichts getan, ich bin unschuldig.“ Melanie wimmert vor sich hin und reibt ihre verquollenen Augen.

„Wir müssen zu Edeltraud, die meint sicherlich, wir wären verschollen, so lange, wie wir schon weg sind.“

Kai-Uwe stampft als erster zurück zu Edgar, der immer noch auf seinem Baumstamm den ersten Toten bewacht. Sie schildern ihm schnell die schaurigen Einzelheiten des zweiten Fundes und machen sich auf den Weg zu Edeltraud.

Die wartet in der Tat ungeduldig, wirkt aber schon wieder gefasst und vor allem sehr wütend: „Wo bleibt ihr denn? Den Toten könnt ihr doch sowieso nicht mehr lebendig machen, da braucht ihr euch doch nicht so lange im Wald aufzuhalten, oder? Wir sollten die Polizei anrufen, die muss schnellstens die Spuren sichern.“ Auch Edeltraud kennt sich aus. „Wer hat ein Handy dabei?“

Ihr Ärger verwandelt sich schnell in einen neuen Weinkrampf, als sie von der Identität ihres Toten hört und dann auch noch die zweite Leiche hinzukommt. „Mein Gott, Günni, das hat er nicht verdient! Wer ist denn die Frau?“

„Woher sollen wir das wissen?“, ärgert sich Paul Reimann. „Als wir der Toten näher kamen, fragte keiner nach dem Namen. Obwohl, warte mal, auf der Trainingsjacke war ,Eva’ aufgestickt, dann wüssten wir ja schon einmal den Vornamen.“

„Bist du sicher?“, fragt Kai-Uwe. „Ich habe nichts gesehen vor lauter Dreck.“ Er fühlt sich in seiner Ehre als CSI-Experte gekränkt und umarmt schützend seine Frau, um von der Niederlage abzulenken.

„Wir können die Polizei nicht anrufen, dann wissen die, wer wir sind, und verhaften Melanie wegen Mord oder Leichenschändung. Milchsaft an dem Leichenknie verzeiht die Polizei dir nie“, gibt Paul zu bedenken.

Edeltraud stimmt ihm eilig zu: „Ja, und da sind ja auch noch meine Spuren an oder neben seinem Bein. Oder auf seinem Schuh, ich weiß es nicht.“

Edgar Kornfeld mischt sich zum ersten Mal ein: „Ich habe mein Privatfunkofon bei, da wird die Rufnummer unterdrückt. Die Rückrufe auf meinem Dienstfunkofon reichen mir.“

Edeltraud lacht auf. Sie erinnert sich an eine hitzige Diskussion unter den Laufmännern, als man versuchte, ein anderes Wort für das übermächtige ,Handy’ zu finden. Edgar Kornfelds ,Funkofon’ war einer der abwegigsten Vorschläge gewesen, aber er ließ sich nicht beirren und beharrte auf seiner Idee, ohne sich durchsetzen zu können.

„Es kann sein, dass neueste Datentechnik die Nummer herausfiltert, auch wenn sie unterdrückt wird. Und wenn das geht, kann das sicher auch die Polizei“, wirft Kai-Uwe ein, um ein wenig von seiner Anerkennung als CSI-Fachmann zurückzugewinnen. „Ich schlage vor, wir halten auf dem Rückweg an einer ganz gewöhnlichen Telefonzelle und rufen von dort aus an. Anonym. Hat jemand 20 Cent dabei?“