Licht über weißen Felsen

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An dem Tag, an dem Wakiya zum ersten Mal zur Schule gehen musste, weckte ihn die Mutter vor Sonnenaufgang. Sie zog ihm die weite Hose und ein neues Hemd an, rot und blau kariert. Schuhe trugen arme Kinder im Sommer nicht. Die Geschwister liefen noch ein Stück mit, dann blieben sie stehen und schauten Wakiya und der Mutter nach.

Die Mutter ging schnell, und Wakiya fiel immer wieder in Trab, um mit ihr Schritt zu halten. Der Wind wehte und trocknete die letzte Feuchtigkeit des Taus von vergilbtem Gras und von den harten Blättern der Yucca, deren Kapseln die dunklen Kerne schon verstreut hatten.

Mutter und Sohn liefen eine und eine halbe Stunde. Wakiya-knaskiya dachte in dieser Spanne Zeit an gar nichts. Es war alles hohl und dunkel in ihm. Er hob auch nicht die Augen, als er mit der Mutter auf dem großen, freien Platz vor dem neuen Schulgebäude anlangte. Undeutlich und ohne recht zu begreifen, sah er den großen, graugrünen Schulbus, dessen große Reifen über den Kies knirschten und dann stillstanden. Er sah nicht einmal recht die schwarzhaarigen, braunhäutigen, dunkeläugigen Mädchen und Jungen, die aus dem Bus ausstiegen und in das Schulgebäude liefen. Das waren die Kinder, deren Eltern in der Nähe der großen Straße wohnten. Sie gehörten durch die Straße und durch den Bus zusammen. Wakiya aber gehörte nicht zu ihnen.

Er fand sich erst wieder, als die Mutter längst gegangen war und er in einem großen Raum mit hellen Fenstern saß, auf einem Stuhl, den er allein für sich hatte, vor einem Tisch, den er auch allein für sich hatte. Es gab keine Banknachbarn, kein anderes Kind Ellenbogen an Ellenbogen. Es gab Tisch und Stuhl und Luft ringsum wie bei kleinen Blockhäusern, von denen ein jedes für sich lag. Wakiyas Stuhl und sein Tisch standen in der ersten Reihe, rechts außen. Wenn er seitwärts blickte, konnte er andere Kinder beobachten, nicht alle, aber einige.

Vorn vor allen Kindern stand die Lehrerin, hinter ihr befanden sich ein großer Tisch und ein Stuhl, darüber erhob sich ein schwarzes, großes Brett, und an dem schwarzen Brett lehnte ein langer Stock. Er war länger, gerader und dünner als ein Ast der Krüppelkiefern, die Wakiya kannte.

Die Lehrerin sprach, und Wakiya horchte auf ihre Stimme, die zart und freundlich klang. Mit Staunen sah er auf das schwarze krause Haar und auf das dunkle Gesicht, auf das rosa-weiße Kleid, das duftig war wie eine Blüte, und auf die dunklen Hände. Diese Frau konnte nicht im Stamm geboren sein, aber sie gehörte auch nicht zu den Geistern, die eine helle Haut hatten. Wakiya hatte nicht gewusst, dass es schwarze Menschen mit hellen Kleidern und munteren Augen gab.

Die Stimme der Lehrerin plätscherte wie ein kleiner Bach, der mit allem spielt und alles liebkost, was in seine Wellen gerät und seinen Weg doch findet. Wakiya-knaskiya hörte die Stimme gern, aber er verstand nicht ein einziges Wort. Er stand zu spät auf, nachdem andere Kinder schon aufgestanden waren, und er setzte sich zu spät, nachdem andere Kinder schon wieder auf ihren Stühlen saßen. Er sah der schwarzen Frau im duftigen Kleid an, dass sie sich über die Kinder freute, die alles richtig machten. Aber sie kam auch zu Wakiya-knaskiya und zu anderen kleinen Jungen und Mädchen, die noch keines ihrer Worte verstehen konnten, weil sie die Sprache der Geister sprach, und mit großer Geduld lehrte sie sie die ersten Worte, die sie kennen mussten. Wakiya fand, dass die Worte hässlich klangen, aber da die Stimme gut war, hörte er dennoch zu und verstand die Worte schneller als die anderen Mädchen und Jungen, die auch noch nichts von der Geistersprache wussten.

Die Lehrerin zeigte den Kindern ein Tuch mit Streifen und Sternen. Wenn sie es sahen, sollten sie zum Gruß die Hand aufs Herz legen. Sie sollten beginnen, einen Spruch für dieses Tuch zu lernen. Zwei Kinder konnten den Spruch schon aufsagen. Wakiya aber verstand noch kein Wort davon. Die Namen der beiden Kinder, die den Spruch schon ganz kannten, waren David Adlergeheimnis und Susanne Wirbelwind. Sie saßen beide in der hintersten Reihe, waren groß gewachsen für ihr Alter, hatten schöne Kleider und Schuhe an und verstanden schon alle Wörter der Geistersprache, die die Lehrerin der Vorschulklasse vorsagte.

Um die Mittagszeit stellten sich die Kinder zu einer Reihe eines hinter dem anderen auf, und die Lehrerin führte sie in einen Saal mit langen Tischen und Bänken. Ehe die Kinder sich setzten, gingen sie an einem großen Guckfenster vorüber, durch das ihnen zwei Frauen je einen Teller mit Fleisch und Gemüse, einen kleinen Teller mit roter Speise und gelber Soße und ein Glas Milch auf ein Tablett stellten. Wie jedes Kind, so trug auch Wakiya sein Tablett mit Speisen vorsichtig zu einem langen Tisch, an dem die kleinen Jungen und Mädchen saßen. Alle Kinder hatten zu Hause Gehorsam gelernt und verhielten sich still und ordentlich. Wakiya schaute Susanne Wirbelwind auf die Hände; und als er sich gemerkt hatte, wie sie den Löffel und die Gabel nahm, machte er es ebenso, und die Lehrerin hatte keine Mühe mit ihm wie mit manchen anderen Kindern. Sie nickte ihm freundlich zu. Aber mit der Milch war es sehr schwer. Wakiya wurde es übel, als er die ersten Schlucke getrunken hatte. Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis tranken den Becher aus, als ob das nichts wäre. Aber Wakiya verschluckte sich und musste speien und aufwischen, was er ausgespien hatte. Vielen Kindern wurde es übel und die Becher konnten nicht alle leer getrunken werden. Das Gesicht der Lehrerin wurde traurig und ernst.

In der Pause stand Wakiya auf dem großen, freien Platz vor der Schule und sah zu, wie Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis miteinander schaukelten. Wakiya sah zum ersten Mal in seinem Leben eine Schaukel. Nachmittags war die Schule zu Ende, und Wakiya lief nach Hause. Er lief den weiten Weg zumeist im Laufschritt. Nur heim, nur heim!

Er wusste selbst nicht, warum er seine Angst vor der Schule im Herzen behielt, aber es war so, und sie wich nicht. Mit Grauen dachte er daran, dass er nun jeden Morgen den Weg zur Schule laufen und ihn jeden Nachmittag zurücklaufen musste. Es geschah in der Schule nichts Schlimmes; der lange, gerade, dünne Stock half der Lehrerin nur, den Kindern auf der schwarzen Tafel zu zeigen, was weiß darauf geschrieben stand. Die Lehrerin erklärte immer geduldig und langsam, und auch Wakiya wurde oft gelobt. Hin und wieder verstand er jetzt schon schneller als die anderen Kinder, was die Lehrerin meinte, hin und wieder sogar schneller als Susanne Wirbelwind und David Adlergeheimnis. Die Kinder achteten Byron Bighorn als einen guten Schüler in der Vorschulklasse. Die Kinder sollten dort mit der Geistersprache vertraut gemacht werden, ehe der Unterricht in der ersten Klasse begann.

Es schien alles gut bis auf den weiten Weg, den Wakiya täglich zu laufen hatte, aber wie würde das erst im Winter werden, wenn der Schnee hoch lag? Jetzt schon pfiff der Wind kalt um Wakiyas nackte Beine und durch sein Hemd. Und selbst das Gute an der Schule schien ihm fremd und fern und war nur wie ein Geisterschatten zu sehen. Denn Wakiya-knaskiya konnte nie richtig mit der Lehrerin sprechen, die seine Muttersprache nicht gelernt hatte, und er konnte mit keinem der Schulkinder sprechen, denn es war den Kindern streng verboten, ihre Muttersprache untereinander zu gebrauchen. Die wenigen Wörter der Geistersprache, die Wakiya nun schon kannte, nützten ihm noch nicht viel. Auch die Namen seiner Mitschüler musste er in dieser Sprache aussprechen – David Adlergeheimnis nannten sie David Crazy Eagle, und Wirbelwind hieß Whirlwind. Dass er selbst Byron Bighorn gerufen wurde, daran hatte sich Wakiya schon fast gewöhnt.

Es war ein Geisterhaus, in das er täglich rannte, um vor den Geistern zu bestehen. Er hatte sie noch kaum zu Gesicht bekommen – denn seine schwarzhäutige Lehrerin rechnete er nicht zu ihnen –, aber alles war durchdrungen von ihrer Sprache und ihrer Macht. Es wehte Geisterluft um Wakiya, und auch die milde Stimme der Lehrerin schien ihm mehr und mehr auf kühlen Wellen zu schwimmen.

Wakiya war in der Schule allein. Auch daheim vergaß er das Sprechen und das Erzählen. Er saß oft an seinem einsamen Platz und schaute nach Himmel und Gras, aber sie rückten von ihm ab, wenn ihm Worte der Geister einfielen, die für alles einen anderen Namen wussten, als Vater und Mutter ihn gelehrt hatten, und die die Wörter anders stellten, das vordere nach hinten, das hintere nach vorn. Sie wollten die Welt verdrehen, und einem kleinen Jungen konnte davon schwindlig werden. Vielen Jungen und Mädchen erging es nicht anders als Wakiya-knaskiya, den die Lehrerin Byron Bighorn rief. Still, artig, aber im Herzen weitab, saßen die Kinder da, ein jedes auf seinem Stuhl. Manche saßen schon das zweite Jahr in der Vorschulklasse. Die meisten waren älter als Wakiya, nicht erst fünf, sondern schon sechs oder sieben Jahre alt.

Im Winter musste Wakiya oft fehlen, weil er durch Schnee und Kälte nicht durchkam. Er wusste dann nicht, was die anderen Kinder gelernt hatten. David Adlergeheimnis ging darum in der Pause mit Byron Bighorn zusammen, um ihm dies und jenes zu erklären. Die Mutter, Margot Adlergeheimnis, hatte ihren David nach Wakiya ausgefragt und ihn dann gebeten, Wakiya zu helfen. Im Eifer des Erklärens sprach David oft seine Muttersprache, und Wakiya liebte ihn dafür. Aber eines Tages kam ein langer, magerer Mann, dessen Stimme klang wie Steine, die sich aneinander rieben. Er schalt die Lehrerin mit der schwarzen Haut, so dass ihre Augen nicht mehr munter blickten und ihre Wangen noch dunkler schienen.

»Ihre Kinder sprechen untereinander nicht englisch! Haben Sie das überhört?«

Diese Worte konnte Byron Bighorn schon verstehen, und David Adlergeheimnis verstand sie auch. Die Kinder erschraken beide. Durch ihren eigenen Schrecken hindurch wie durch einen Vorhang hörten sie die sanfte Stimme der Lehrerin antworten: »Entschuldigen Sie, Mr Teacock, ich werde künftig aufmerksamer sein.«

 

Aber Mr Teacock war mit dieser Antwort nicht zufrieden. Wer in sein Inneres hätte schauen können, hätte ihn dabei angetroffen, wie er einen Augenblick über die präziseste Formulierung seiner Unzufriedenheit nachdachte, nicht anders als über die beste Lösung einer mathematischen Aufgabe. »Es ist nicht genug, Miss Lawrence, dass Sie sich vornehmen, künftig aufmerksamer zu sein. Sie müssen die Kinder bestrafen. Das ist Vorschrift. Werden Sie das tun?«

»Ja, Mr Teacock. Es ist Vorschrift.« Miss Lawrence wagte es nicht, bei ihren Worten zu seufzen, aber Wakiya fühlte, dass ihre Worte ein einziger Seufzer waren.

»Die Kinder müssen gehorchen lernen, das ist das Erste. Wie heißen diese beiden? Nein, Miss Lawrence, lassen Sie die beiden selber antworten! Wie heißt ihr?«

»David Crazy Eagle.« Das war eine feste Antwort.

»Und du?«

Wakiya-knaskiya schaute den langen, mageren Mann verwundert an, als ob ihm ein fremdes, gefährliches Tier begegne, das er scharf beobachten müsse. Er legte den Kopf etwas zur Seite. Vor ihm stand Mr Teacock. Mr Teacock war ein Geist. Mr Teacock war kein guter Geist, aber Mr Teacock war ein mächtiger Geist. Ein böser Geist. Wakiya-knaskiya wusste auf einmal, wie jene Geister ausgesehen haben mussten, deren Mazzawaken blitzten und krachten, und dann waren die Kinder gestorben. Geister hatten Kinder getötet. Sie hatten auch Wakiyas Urgroßvater, zwei seiner Brüder und seine junge Schwester getötet. In der Nacht waren die Toten in den hirschledernen Gewändern gekommen, aber sie hatten nicht mehr sprechen können, und der Stab ihrer Herrschaft war wieder verschwunden.

»Nun – willst du nicht antworten? Wie heißt du?«

»Bighorn!«

Mr Teacocks Gesicht verzog sich, als er das Wort hörte, denn jetzt war es an ihm, Gedankenverbindungen herzustellen.

»Miss Lawrence, ist das tatsächlich sein Name? Oder will dieser Junge mich provozieren … Die Kinder zeichnen im Zeichenunterricht Dragoner ohne Köpfe – strömendes Blut! Es hat schon in der Zeitung gestanden. Was soll das also, Bighorn? Meint er das Massaker, dem General Cluster zum Opfer fiel?«

Wakiya-knaskiya konnte diese Worte nicht alle verstehen, obgleich Mr Teacock sehr deutlich akzentuierte. Wakiya wusste nicht, was ein Massaker ist, aber der Vater hatte ihm in den Abendstunden oft von dem großen Sieg der Häuptlinge über General Cluster erzählt, bei dem auch Wakiyas Urgroßvater mitgekämpft hatte. Wakiya verstand, dass es um seinen Namen und um diese Schlacht ging. Die Lehrerin hatte glühende Wangen wie die Kinder, aber sie antwortete wiederum sehr sacht und milde.

»Entschuldigen Sie, Mr Teacock, aber Bighorn ist tatsächlich der Name der Familie. Byron Bighorns Vater trug ihn schon.«

»So, so. Trug ihn schon. Ich muss mich darum kümmern, wer die Namen auswählt. Um alles müsste ich mich kümmern, einfach um alles! – David Crazy Eagle und Byron Bighorn! Habt ihr das Treuegelöbnis zu unserem Banner gelernt?«

David Crazy Eagle und Byron Bighorn waren noch sehr kleine Jungen. Sie waren beide noch nicht ganz sechs Jahre alt, die Jüngsten in ihrer Klasse. Aber wie das Büffelkalb, das noch stelzbeinig hinter der Mutter über die Prärie läuft, schon Freund und Feind wittert, so witterten David und Wakiya, dass es für Theodore Teacock, dessen schmales Gesicht jetzt rot angelaufen war, bei dem Treuegelöbnis zum Sternenbanner nicht nur um eine allgemeine Schulregel, sondern um irgendetwas ganz Persönliches ging, dass dies die Stelle war, an der ihn einmal eine Mücke bösartig gestochen haben mochte. Sie witterten auch beide, dass es nun um die Ehre ihrer Lehrerin ging, der sie zugetan waren und die sie gegen Mr Teacock beschützen wollten. Sie waren noch sehr klein, die beiden braunhäutigen Jungen mit den gestutzten schwarzen Haaren, aber sie wollten ihrer Miss Lawrence gegen den mächtigen Geist Theodore Teacock beistehen.

David hatte das Treuegelöbnis zum Sternenbanner schon daheim bei der Mutter wie ein Kindergedicht gelernt; Margot Adlergeheimnis wusste, wie wichtig es für ein Indianerkind in der Schule war, das Gelöbnis aufsagen zu können, und sie wollte David alle Schwierigkeiten ersparen. Wakiya-knaskiya hatte in der Schule zum ersten Mal von diesem langen Spruch gehört und konnte überhaupt nur wenige Worte Englisch. Aber als David begann, ohne Zögern und samt den Erklärungen für Kinder vorzutragen, sprach Wakiya mit. Er lernte leicht auswendig, und David hatte in der Klasse schon öfter vorsprechen dürfen. Was die Worte alle bedeuteten, ahnte Wakiya kaum; er hätte ebenso wohl lulalei sagen können, aber da es sich nun um dies und nichts anderes und um Miss Lawrence gegen Mr Teacock handelte, sprach er mit David zusammen im gleichen Rhythmus, fließend, sicher, ohne Scheu das Gelöbnis samt den Erklärungen für die Schüler:

»I pledge allegiance

I promise to be true

to the flag of the United States of America,

to the flag of the United States of America,

and to the republic for which it stands,

and to the government for which it stands,

one nation under God, one country with God’s help,

indivisible,

which cannot be divided,

with liberty and justice for all,

where all people are free and

have the same rights.«

Miss Lawrence machte ihre kugelrunden schwarzweißen Augen auf, denn einen solchen Erfolg hatte sie nicht erwartet. Auf den hageren Wangen von Theodore Teacock blieb das Rot stehen, als ob es über den Wandel seiner eigenen Bedeutung überrascht sei.

»Gut, sehr gut! Sehr gut! Ihr seid gute Jungs und könnt der Stolz unserer Schule werden, David Crazy Eagle und Byron Bighorn!«

Selbst das »Bighorn« schlüpfte jetzt ohne Hemmungen über Theodore Teacocks Zunge und durch seine schmalen Lippen. Es war in diesem Augenblick eine glänzende Sache und Stoff für eine neue Schullegende. Zwei fünfjährige Indianerkinder hatten das Treuegelöbnis ohne Stocken aufgesagt!

Bei diesem Glanz blieb es auch nach außen hin, und der Direktor der Schule erfuhr davon. Da er bald abgehen und einer indianischen Rektorin Platz machen sollte, freute er sich ganz besonders über das unerwartete Zeugnis der Erziehungserfolge bei den ihm anvertrauten Schülern. David und Byron galten für einige Zeit als die Sterne der Schule, ohne das selbst zu wissen. Außerhalb der Schule erfuhr nur Margot Adlergeheimnis davon, war glücklich und schwieg.

Aber unter dem prächtigen Deckmantel solchen Glanzes rührten sich Keime des Dunklen, die Theodore Teacock ganz unwissentlich erzeugt und gepflanzt hatte. Nach der Weise unzulänglicher Sieger genügte es ihm nicht, sich einmal an einem Sieg einfach zu freuen oder sich damit zu bescheiden, dass er ein Steckenpferd mit Leichtigkeit durchs Ziel geritten hatte. Es drängte ihn, auch noch das zweite aus dem Stall zu holen, das der ganzen Lehrerschaft, so auch Miss Lawrence, und vielen Schülern in den oberen Klassen, aber noch nicht den Schulanfängern David und Byron bekannt war.

»David und Byron, ihr seid gute Schüler, und wenn ihr auch verbotenerweise die primitive Sprache gesprochen habt, die euch in Schule und Leben niemals weiterhelfen kann, so sollt ihr doch diesmal nicht bestraft werden. Miss Lawrence?«

»Ja, Mr Teacock?« Miss Lawrence hielt die Lider gesenkt, um das Lächeln ihrer Augen zu verbergen. »Sie sind auch der Meinung, dass die beiden Kinder diesmal nur verwarnt werden?«

»Ich bin auch der Meinung, Mr Teacock.«

»Gut. Ihr werdet künftig in der Schule stets englisch sprechen, David und Byron, und euch dadurch selbst nützen. Ihr werdet den richtigen Weg gehen, um gute Bürger zu werden. Schüler, die nicht Englisch lernen mögen, sind auf einem falschen Wege. Sie werden nur zu leicht Diebe und Mörder, wie es Joe King geworden ist, der die schöne Sprache unserer Welt dann im Gefängnis zu lernen hatte und nun ein Auswurf der Menschheit geworden ist.«

Von dieser wohlgesetzten Rede begriff David einiges, Wakiya aber nichts als den Namen Joe King, der für ihn schon mit dem Namen Inya-he-yukan verbunden war. Aus dem Ton, in dem Theodore Teacock gesprochen hatte, fühlte Wakiya die Verachtung gegen Joe King heraus, und von diesem Augenblick an hasste Wakiya-knaskiya Theodore Teacock mit dem ganzen Hass, den ein Kind der Prärie fühlen konnte. Wakiya hätte Teacock ohne Bedenken auf der Stelle skalpiert. Bis dahin waren Geister für Wakiya etwas Fernes, Fremdes, Furchterregendes, Verächtliches und auch Hassenswertes gewesen; sie lebten in ihren Geisterhäusern, deren eines die Schule war, und Wakiya musste sich in acht nehmen, dass er sie nicht zu nahe streifte. Jetzt hatten sie in einer Gestalt Fleisch und Blut angenommen; da stand ein Geist, der Kleider trug, der sprach und mächtig war, ein Lehrer. Er wagte es, Inya-he-yukan zu beleidigen. Diese seichten, wasserblauen Augen wollten in die Nacht schauen, die sich nicht in ihnen spiegeln konnte.

Mit seiner Liebe, die aus der Begegnung mit den verlorenen Augen wie ein Quell entsprungen war, und mit seinem Hass, der in diesem Augenblick aus dem Dunkel emporschnellte, setzte Wakiya sich zur Stunde eine Aufgabe. Für einen kleinen Jungen war es eine große Aufgabe. Wakiya wollte in Erfahrung bringen, was dieser Teacock über Inya-he-yukan – Joe King – zu sagen gewagt hatte. Seinen Mitschüler David mochte Wakiya nicht fragen, denn er traute David nicht zu, dass dieser alle die fremden und schwierigen Worte richtig verstanden hatte. Er fürchtete sich auch davor, dass David schlechte und beleidigende Worte gegen Inya-he-yukan wiederholen müsste; das wäre wie ein »Coup« gewesen, wie das nochmalige Berühren eines schon verwundeten oder gefallenen Kriegers durch einen Feind; den Coup mussten Freunde und Brüder des Verletzten selbst unter Todesgefahr verhindern. Wakiya konnte David nicht fragen. Seine Lehrerin Miss Lawrence aber auch nicht, denn er verstand und sprach zu wenig Englisch. Wakiya wollte mehr Englisch lernen, um seine Feinde besser belauschen zu können. Er mühte sich darum, doch es war sehr schwer für ihn, da die Mutter von den zwölf Wörtern, die sie von der Schule her noch gekannt hatte, unterdessen wiederum drei vergessen hatte und Wakiya nicht zu helfen vermochte.

Mit solchem einsamen Denken, Fühlen und Grübeln wurde Wakiya im folgenden Herbst Schüler der ersten Klasse. Er verlor dabei seinen Freund David, da dieser die erste Klasse überspringen durfte und sogleich in die zweite versetzt wurde. Susanne Wirbelwind schmollte und lernte wie besessen. Zu Weihnachten durfte auch sie schon in die zweite Klasse übergehen. Unter den verbleibenden Schülern galt Byron Bighorn als einer der besten. Sein Ruhm als vorzüglicher Schüler stammte immer noch aus seiner Begegnung mit Mr Teacock und übertraf bei weitem das, was Wakiya wirklich wusste. Aber da er hin und wieder durch eine kluge Antwort überraschte, schwebte die Seifenblase des Ruhms lange, ohne zu platzen.

Wakiya lernte nun schon biblische Gedichte. Die Engel auf den Bildern trugen die Federn an der falschen Stelle, und Wakantanka, das Große Geheimnis, das die Geister Gott nannten, sowie sein Sohn hatten einen Bart. Das war einer der Irrtümer der Geister, die nicht wissen konnten, was ein Geheimnis war; am wenigsten wussten sie vom Großen Geheimnis. Doch hörte Wakiya erstaunt und wissbegierig, wie das Volk Israel verfolgt worden war. Er glaubte, dass dies seine Vorväter gewesen sein müssten, lernte die Namen, Worte und Taten mit großem Eifer und wurde wieder einmal gelobt.

Mit diesem Lob kam er zu Weihnachten nach Hause. Er stapfte mit schlechten Schuhen durch den Schnee, steckte die fröstelnden Hände in die Hosentaschen und fror im Nacken, weil seine Haare kurz geschnitten waren. Am Weihnachtsabend stellte die Mutter einen kleinen Fichtenbaum in der Blockhütte auf und schürte das Feuer im Ofen kräftiger als sonst, so dass das Holz in den Flammen knackte. Für Kerzen reichte das Geld nicht. Aber der Mutter war es darum auch nicht zu tun. Sie erzählte den Kindern, dass der Baum heilig war und wie die jungen Männer das Sonnenopfer bei einem Baume bestanden. Mit aufgerissenen Augen hörte Wakiya zum ersten Mal, wie ein Sonnenopfer vor sich ging und welche Qualen junge Männer dabei freiwillig auf sich nahmen. Seine jüngeren Geschwister begriffen noch nicht viel davon, aber Wakiya wusste es nun. Er dachte an Inya-he-yukan, der sicher den Mut zu einem solchen Opfer haben würde. Dann erzählte er der Mutter, wie das Volk Israel verfolgt worden war, und sie hörte ihm zu.

Die Weihnachtsferien gingen schnell vorüber. Wakiya quälte sich wieder über die lange Strecke zur Schule. Miss Lawrence gab noch die meisten Stunden in der Klasse. Aber Wakiya lernte auch einen neuen Lehrer kennen. Er hieß Ball und sprach überall, wo es angebracht oder auch unnütz war, von Geographie. Wakiya lernte begreifen, dass die Welt viel größer war, als er bisher geglaubt hatte. Das erschreckte ihn. Die Flecken, auf denen noch Indianer wohnten, waren in seinem Land sehr klein. Was für gewaltige und tapfere Männer aber waren doch seine Vorväter gewesen! Wakiya verstand das nicht. Die Mutter konnte es ihm auch nicht recht erklären, und er weinte an einem Sonntag, an dem die Sonne über den Schnee schien, bittere Tränen an seinem einsamen Platz in der Prärie.

 

Die Mutter hatte von Wakiya erfahren, dass die meisten Kinder erst mit sechs Jahren in die Vorschulklasse kamen. Das hatte sie sich zunutze gemacht und den jüngeren Bruder noch nicht zur Schule angemeldet. Er musste jetzt an Stelle von Wakiya Wasser holen gehen. Da er gesund und kräftig war, machte ihm dies nicht soviel Mühe.

Wakiya jedoch hatte noch immer an seiner unheimlichen Krankheit zu leiden. Hin und wieder schüttelte es ihn auch auf seinem Schulweg, besonders wenn er müde und erschöpft nach Hause lief. Dann blieb er in der Prärie liegen und kam erst des Nachts daheim an, oder die Mutter musste ihn im Schnee suchen gehen und halberfroren heimtragen. Aber einen sehr schweren Anfall hatte er seit dem Tag, an dem ihm zum ersten Mal die Haare geschnitten worden waren, nicht mehr gehabt. Wakiya vermied es, daran zu denken. Nur tief drinnen in ihm saß noch die Angst, dass sein Geist ihn eines Tages wieder so heftig niederwerfen könne wie an jenem Tag, den er nie vergaß.

Der Abschluss der ersten Klasse stand für Wakiya bevor. Der Winter, die ärgste Zeit für einen langen Schulweg, lag hinter ihm. Er durfte die schlechten Schuhe, die ihm schon zu klein geworden waren, ehe die Mutter neue kaufen konnte, endlich wieder ablegen und barfuß rennen. Es war Mai. Noch war es kühl, die Winde stürmten über die Prärie, es regnete, das neue Gras kam hervor und weiße, blaue und gelbe Blumen blühten auf. Die Kakteen füllten sich mit Wasser, und die Kiefern kamen mit ihren ersten grünen Spitzen hervor.

Wakiya war nur wenig gewachsen und trotz des Mittagessens in der Schule noch sehr mager. Die Hose, nicht mehr neu, schlotterte ihm nach wie vor um den Körper. Er wusste, dass er trotz häufigen Fehlens in die zweite Klasse versetzt werden konnte. Aber es gab eine neue Angst für ihn. Zu oft geschah es jetzt schon, dass die Lehrerin englische Worte gebrauchte, die er nicht verstand oder falsch schrieb. David konnte ihm nicht mehr helfen, und so fürchtete sich Wakiya vor der zweiten Klasse. Er mochte nicht daran denken, wie es ihm dort ergehen würde. Er zählte nur die Tage bis zu den Sommerferien, in denen er daheim bleiben durfte und kein Wort der Geistersprache hören musste. Mehr als drei Monde währten die Ferien. So lange brauchte er die Schule nicht mehr zu sehen und konnte mit den Geschwistern spielen. Sie wuchsen heran und ließen sich schon gern von Wakiya Geschichten erzählen; die Geschichte vom Steinknaben, der alle Tiere getötet hatte, die er nur treffen konnte, und dafür zu Stein erstarrt im Wasser stehen musste; die Geschichte von der Großen Bärin, deren Sohn ein Mensch wurde, als eines Nachts eine schöne Frau zu ihm kam, und dessen Kinder auch Wakiyas und seiner Geschwister Ahnen waren; und die Geschichte von David, dem Knaben, der einen Riesen mit einem kleinen Stein getötet hatte. Wakiya und sein Bruder übten sich dann im Steinewerfen und wurden zielsicher.

Als der Unterricht in der ersten Klasse schon zu Ende gegangen war und die ersehnten Ferien anfingen, verketteten sich aber noch unvorhergesehene Ereignisse.

Mrs Whirlwind, Susannes Mutter, war auf den Gedanken gekommen, am dritten Ferientag zwei Schulklassen zu einem Busausflug in die Agentursiedlung einzuladen. Sie war die Frau eines der wenigen erfolgreichen indianischen Rancher auf der Reservation und hatte Geld genug. Die Schule brauchte nichts zuzulegen. Die neue indianische Rektorin hatte nur die Genehmigung zu geben, und diese gab sie gern. Miss Lawrence und Mrs Margot Crazy Eagle wollten mitkommen, um Mrs Whirlwind zu unterstützen und für Ordnung zu sorgen. Wakiya-knaskiya stieg also zum ersten Mal in seinem Leben in einen Bus ein, zusammen mit vielen Kindern, die täglich den Schulbus benutzen konnten. Er schaute sich nicht nach den anderen um, saß stumm und still an seinem Platz und glitt im Bus über die endlose, graue, plattgetretene Schlange, die die Geister durch die Prärie gelegt hatten.

Die Agentursiedlung kannte er schon. Dort wohnte der Mann mit der Schere.

Der Bus hielt an einer Ecke an dem großen Laden, in dem die Mutter Mehl, Brot und Fett in einem Korb einzukaufen pflegte. Die Kinder stiegen alle aus und warteten gespannt. Mrs Whirlwind erklärte ihnen, dass sich jedes Kind der Reihe nach einen Korb nehmen und von einer der vielen guten Sachen, die es in dem Laden gab, etwas in seinen Korb legen dürfe, um es dann mit nach Hause zu nehmen. Aber nur dann dürfe ein Kind etwas in seinen Korb legen, wenn es auf Englisch darum gebeten habe. Das machte die Aufgabe bedeutend schwieriger. Erst waren die Kinder der zweiten Klasse dran, unter ihnen auch Susanne und David, der Wakiya heimlich zulächelte.

Es schien alles gut zu gehen, wenn die Lehrerin und Mrs Whirlwind nur da und dort einmal aushalfen. Dann kamen die Schüler der ersten Klasse mit den Körben an die Reihe, unter ihnen auch Wakiya.

Wakiya wollte Fleisch für die Mutter einkaufen. Fleisch war teuer. Vielleicht durfte sich Wakiya nicht das teure Fleisch auswählen.

Es war in einer besonderen Ecke des großen Ladens gestapelt. Zögernd ging das Kind mit seinem Korb umher.

Da stand auf einmal ein Mann mit toten Augen bei ihm. Wakiya sah nichts als die Lider über den toten Augen. Er sah nicht, ob der Mann groß oder klein, ob er gut oder schlecht angezogen war. Die Augen des Mannes waren tot! Seine Haut war braun, sein Haar schwarz. Der Mann trug einen Korb in der Hand, aber er konnte ja nicht sehen, was es alles in den Korb zu legen gab.

»Bitte, Byron Bighorn, hilf mir. Meine Augen sind tot.«

Wakiya nahm den Mann an die Hand. »Was brauchst du?«

Die Stimme des Kindes zitterte. Was für eine Aufgabe, diesem Mann helfen zu dürfen, und gerade er, Byron Bighorn, von Gestalt der Kleinste und Jämmerlichste, wurde dazu ausersehen.

»Was gibt es denn Gutes hier, Byron? Was würdest du mir in den Korb legen?«

»Fleisch.« Das war Wakiya herausgefahren, weil er die ganze Zeit daran gedacht hatte. »Aber Fleisch ist teuer. Weißt du das?«

»Führe mich bitte hin, Byron, und lies mir vor, was das Fleisch kostet.«

Wakiya führte den Mann zu der Ecke des Ladens, wo die Fleischwaren abgepackt lagen, und las die Preise vor. Er hatte jetzt schon gesehen, dass der Mann gute Schuhe und gute Kleidung trug; sicher konnte er auch viel Geld ausgeben. Wakiya stotterte hin und wieder, wenn er die komplizierten Zahlen vorlesen musste, doch machte er wohl keinen Fehler. Miss Lawrence, die die Klasse mit Mrs Whirlwind zusammen begleitete, nickte in ihrer freundlichen Art.

Endlich hatte sich der Mann mit den toten Augen entschieden, dass er Rindfleisch kaufen wollte. Er ließ sich vier Pakete geben, und Wakiya durfte ihn zu der Kasse bei der Tür des Ladens führen und ihm bezahlen helfen. Die blonde Frau an der Kasse lächelte und begrüßte den Mann.