Licht über weißen Felsen

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»Kommt, Kinder, wir müssen gehen, sonst verdursten wir, ehe sie uns finden.«

Die Mutter nahm die kleine Schwester auf den Arm und taumelte voran. Sie hatte sich auf der Flucht vor dem Feuer beim Sturz einen Fuß verletzt.

Die beiden Brüder liefen Hand in Hand mit, kaum mehr ihrer selbst mächtig. Aber sie träumten vom Wasser; hinter heißen Stirnen träumten sie.

Wakiya wollten die Füße nicht mehr gehorchen. Sie begannen, zu schlenkern und zu schleudern, seine Schultern ruckten, sein ganzer Körper zuckte. Die Mutter packte ihn und zog ihn dicht an sich. Aber er vermochte nicht mehr zu laufen. Die Mutter setzte die kleine Schwester zu Boden und versuchte, den Jungen in die Arme zu nehmen, aber er schlug um sich und sie musste ihn loslassen. Sie riss sich die Bluse vom Leib und bettete Wakiyas Kopf, damit er ihn nicht auf die harte, nackte Erde schlug.

Das wusste er noch.

Dann wusste er lange nichts mehr.

Als er sich selbst wieder zu finden begann, hatte er Durst. Das war ein Durst, so stark, dass er töten konnte. Wakiya öffnete die Augen ein wenig, mit Mühe. Es war Nacht, und die Luft war kühl.

Er schloss die Augen wieder.

Er hatte gesehen, dass er mit Mutter und Geschwistern wieder in der Sandkuhle lag. Sie waren mit dem kranken Wakiya dahin zurückgekehrt, und nun waren sie alle zu schwach geworden, um sich noch einmal aufzumachen. Sie warteten auf den Tod oder auf einen Menschen, der sie finden würde. Aber wer sollte an die kleine Blockhütte und an Eliza Bighorn und ihre Kinder denken? Wer würde über das schwarze, verbrannte Land laufen? Jetzt, nach dem Feuer, hatten sie alle mit sich selbst zu tun, mit ihren Häusern, mit ihrem Vieh, dem die Weide genommen war. Am Himmel erschien ein Riesenvogel, surrte und donnerte, kreiste, als ob er etwas suche. Eliza versteckte sich und ihre Kinder. Der Geistervogel zog wieder ab.

Wakiyas Glieder zuckten von neuem.

Er träumte einmal, dass er in der unendlichen Stille ganz von ferne Hufschlag und Stimmen gehört habe. Er träumte davon, bunt und heiß. Wakiya war ein krankes Kind, aber dennoch hatte er scharfe Augen und gute Ohren. Irgendein Geräusch, ganz von ferne, musste seinen Traum geweckt haben. Er träumte von dem Schecken, den Inya-he-yukan auf dem Rodeo geritten hatte. Er träumte, dass der Schecke über die Prärie stürmte – da gab es keine Arena und keinen weißen Zaun, keine klatschenden oder zischenden Geister – da gab es nur Himmel und Erde und verbranntes Gras. Aber ein Mustang wie dieser Schecke fand seinen Weg auch in der Nacht, und ein Reiter wie Inya-he-yukan fürchtete die verbrannte Prärie nicht.

Wakiya wollte im Traum rufen, aber die Zunge war ihm am Gaumen angeklebt, und er brachte nur ein ächzendes Lallen hervor.

Doch machte ihn die Qual dieses Augenblicks, in dem er rufen wollte und doch nicht rufen konnte, wach. Er sah die Mutter neben sich hocken, den Kopf auf die Knie gesenkt wie ein Mensch, der weiß, dass er sterben muss. Es war still ringsum, und kein Hufschlag war zu hören.

Die Mutter stöhnte. Auch sie wollte rufen und konnte nicht mehr.

Wakiya schloss die Augen, um wieder seine glühenden Bilder zu sehen. Er träumte erneut von dem Reiter durch die Nacht, von wehender Mähne und wehendem Schweif, von dumpfem Hufschlag, vom braunhäutigen Reiter mit langem, schwarzem Haar – bis er erschrak und wach wurde, denn jemand hatte ihn angefasst. Eine Hand hatte sich hinter seinen Nacken geschoben. Wakiya öffnete die Augen und schaute in ein Gesicht – den Schattenriss eines Gesichts in der Nacht.

Inya-he-yukan.

Wakiya konnte nicht sprechen. Aber er dachte den Namen so stark, dass der andere es fühlen musste. Das Kind lag in den Armen des Mannes, dessen Kraft und Sicherheit sich für Wakiya in eine große Ruhe umsetzte.

Wakiya konnte nicht sprechen; er öffnete auch die vertrockneten, verklebten Augen nicht mehr, obgleich es wieder regnete und das Labsal der Wassertropfen auf sein Gesicht fiel. Er fror und zitterte, aber er wusste, dass er gerettet war. Inya-he-yukan trug ihn. Er trug ihn wie damals auf dem Weg von der Wasserstelle zur Hütte.

Also achtete er Wakiya doch nicht gering. Wakiya wurde in der kalten Nacht in etwas Wärmendes gewickelt. Vielleicht war es Inya-he-yukans Jacke, die dieser ausgezogen hatte, um sie Wakiya zu geben. Wakiya fühlte ein Hin und Her; Inya-he-yukan hatte ihn mit auf sein Pferd genommen. Wo blieben Mutter und Geschwister? Inya-he-yukan würde das alles bedacht haben.

Auf dem Rücken des Schecken schaukelte und wiegte es sich leise. Da war noch ein zweiter Reiter … Wie gleichgültig! Wakiya verlor wieder das Bewusstsein. Er brauchte es nicht. Inya-he-yukans Arm hielt ihn.

Während Joe King, Wakiya im Arm, und sein Begleiter, der Arzt Piter Eivie, in einem wilden Ritt die Höhen der weißen Felsen bezwangen und jenseits die Straße erreichten, war Eliza Bighorn mit den beiden jüngeren Geschwistern zurückgeblieben. Eliza hatte Essen und Wasser erhalten. Sie konnte am nächsten Morgen mit den beiden jüngeren Kindern dahin zurücklaufen, wo ihre Blockhütte gestanden hatte.

Sie wollte dort bleiben, bis die Geister ihr eine neue Hütte gebaut hatten.

Sie wollte von diesem Platz nicht fort.

Nein, das wollte sie nicht.

Mit bösen Augen schaute sie den beiden Reitern nach.

Inya-he-yukan hatte Wakiya mitgenommen.

Aber Eliza Bighorn hatte Wakiya nicht hergeben wollen.

Für Wakiya gab es nun eine Frist, die für ihn weder lang noch kurz, weder gut noch schlecht war, weil er in dieser Spanne Zeit weder fühlte noch dachte.

Was ihm dann zuerst wiederbegegnete, war die Gewissheit, dass er weich lag und keinen Durst mehr spürte.

Das tat ihm wohl, und er beeilte sich nicht, die Augen zu öffnen. Er rührte sich auch kaum, sondern blieb auf dem Rücken liegen und sandte eine Botschaft zu seinen Händen, sie sollten ihm berichten, was sie entdeckten. Sie lagen still, ausgebreitet auf einer Decke, die sich kühler anfühlte als die Wolldecken daheim. Die Luft war frisch, doch hatte sie einen eigentümlichen, fremden Duft. Durch die Augenlider schimmerte es eher rot als schwarz.

Es musste Tag sein, Wakiya horchte.

Er vernahm, dass eine Tür leise auf- und zuging; er vernahm Schritte, die durch einen großen Raum kamen und auch bei ihm vorbeigingen und sich dann wieder entfernten.

Die Tür ging nochmals auf und wieder zu. In der Nähe von Wakiya rührte sich etwas anderes; es knackte, wie eine Matratze und ein Bett knacken. Das war nicht das Zuhause; Wakiya war nicht daheim. Er befand sich aber auch nicht im Hause Crazy Eagle. Dort gab es zwar knackende Betten, aber nicht so große Räume.

Wakiya öffnete langsam die Augen, ohne sich sonst zu rühren. Es brauchte nicht jedermann gleich zu wissen, dass er seine Umgebung jetzt deutlich erkennen und beobachten wollte.

Es war alles weiß um ihn. Decke, Wände, Tür, Fensterrahmen, Bettgestelle, ein Tisch, ein paar Stühle. Alles war weiß, und Fenster und Boden spiegelten blank.

Draußen schien die Sonne vom blauen Himmel auf grüne Bäume und grüne Wiesen.

Hier hatte kein Feuer gewütet.

Wakiya blieb still liegen. Er fühlte sich selbst und alles, was um ihn war, als unwirklich, unwahrscheinlich, wie in einem Zauberreich, in das man hineingeraten und das auch wieder verschwinden konnte.

Er hatte keinen Durst, er hatte keinen Hunger, er war ausreichend müde, um gern auf einer weichen Matratze ausgestreckt zu liegen. Außer dem seinen standen noch fünf weitere Kinderbetten in dem Raum. In jedem lag ein braunhäutiges, schwarzhaariges Kind, und alle waren so still wie Wakiya. Wakiya horchte wieder. Es war jemand an der Tür.

Herein kam Margot Adlergeheimnis; sie war anders gekleidet als sonst, auch ganz in Weiß, und auf dem schwarzen Haar trug sie ein weißes Häubchen. Vielleicht war sie hier nicht Margot Adlergeheimnis, vielleicht gehörte sie zu dem weißen Zauberreich, obwohl sie noch mit den gleichen braunen Antilopenaugen auf Wakiya schaute, wie sie immer getan hatte.

Sie begrüßte Wakiya leise und vorsichtig. Dann lief sie weg, und mit ihr kam ein Geist zurück in weißem Kittel, mit einem runden, freundlichen und wissenden Gesicht wie der Vollmond, mit blauen Augen und wenigen blonden Haaren auf dem Kopf.

Als er sich zeigte, setzten sich die anderen fünf Indianerkinder in ihren Betten auf und schauten vertrauensvoll nach ihm.

Er schien also ein guter Mann zu sein, obgleich er ein Geist war.

Wakiya ließ sich von ihm abfühlen. Seine Hände waren weich und geschickt. Das war Piter Eivie, den die Patienten »Doktor« nannten, obwohl er kein Medical Doctor war, sondern nur ein einfacher Arzt.

Von dieser Stunde an bildete sich eine eigentümliche verschwiegene Freundschaft zwischen den beiden, dem Kind und dem Arzt, heraus. Eivie fragte nichts und Wakiya erzählte nichts. Aber wenn der Arzt zur Visite kam, lächelten sie einander an, als ob sie sich schon lange kannten. Der Doktor gehörte für Wakiya zu dem weißen Zauberreich, in dem es sich zeitweise leben ließ, das aber auch eines Tages wieder verschwinden konnte.

Eivie gab dem Jungen Bilderbücher; Wakiya blätterte, schaute, dachte nach und wurde wieder müde. Allmählich aber kräftigte er sich und durfte aufstehen.

Noch immer blieb er schweigsam. Wenn Margot Crazy Eagle ins Krankenzimmer kam, wurde sein schmales Gesicht ernst, und er hielt sich ganz zurück.

Die Zeit verging, und für andere Kinder hatte die Schule schon angefangen.

Wakiya lernte mit einigen kranken Kindern zusammen. Eine Indianerin half ihnen dabei. Es machte ihm Freude zu lernen, denn er verstand alles leicht und wurde oft gelobt. Die Lehrerin sprach das Englische langsam und deutlich aus. Auch für sie war es nicht die Muttersprache. Dazwischen durfte Wakiya jetzt schon im Garten spazieren gehen und in der frischen Luft über die Prärie schauen.

 

Allmählich sammelten sich die Fragen in ihm. An einem Sonntag fand Eivie Zeit, sie sich anzuhören.

»Wo ist meine Mutter?«

»Daheim. Ihr habt ein neues Haus bekommen.«

Wakiya spürte Erleichterung.

»Geht mein Bruder jetzt in die Vorschulklasse?«

»Ja, das tut er.«

»Warum kann Mutter mich nicht besuchen?«

»Der Weg ist doch weit, Wakiya, und dein Bruder muss in die Schule, und deine Mutter …«

»Ich habe Mutter gesehen, als ich im Garten saß. Ich kann von dort in die Siedlung hineinschauen. Mutter war im Laden. Sie hat eingekauft.«

»Ja, das muss sie tun.«

»Warum darf sie mich nicht besuchen?«

Der Arzt kämpfte um die Antwort. Die Mutter kam nicht, um Wakiya zu besuchen. Sie war erbittert, dass man das Kind ins Krankenhaus gebracht hatte. Aber wie sollte der Arzt das seinem kleinen Patienten erklären, ohne dass dieser einen neuen Schock bekam? Alle Aufregung musste vermieden werden.

Wakiya legte seine Kinderhand auf die des Arztes.

»Lass. Ich weiß schon. Ich gehe ja dann wieder heim. Wann wird das sein?«

»Nicht so bald, Wakiya. Erst wenn du noch viel kräftiger bist. Dann kannst du der Mutter besser helfen.«

Das Kind schien zufrieden. Der Arzt war erleichtert. Er war nicht verheiratet, hatte selbst keine Kinder, aber eine besondere Liebe für seine kleinen Patienten.

Wakiya grübelte, wie er seine nächste Frage anbringen sollte. Eivie wartete.

»Wo hat das Feuer aufgehört?«

»Die Männer von New City sind in großen Wagen gekommen, mit Hacken und Schaufeln und Sprengstoff und mit Schläuchen, um Wasser zu spritzen, und da konnte das Feuer nicht mehr weiter und erlosch. Über die Straße ist es nicht mehr gekommen.«

Wakiya hatte nur die Worte Wasser und Straße recht verstanden.

»Ihr seid Geister. Ihr habt Wasser und Straßen. Ohne Wasser kann die Prärie nicht leben, und über eure breite, plattgetretene Schlange, die ihr Straße nennt, kann sie nicht hinüber. Die Straße zerschneidet uns. Ihr seid stärker.«

Wakiya sprach mit großem Ernst und großer Verbitterung. Der Arzt erkannte auf einmal, wie alt das Gesicht dieses Kindes war. Er lenkte ab.

»Hast du eigentlich gemerkt, Wakiya, wie wir dich geholt haben – Stonehorn und ich?«

»Stonehorn – Inya-he-yukan hat mich geholt.«

Der Arzt wurde rot, als das Kind ihn so stolz berichtigte.

»Du hast recht. Er hat dich gefunden. Wir hatten mit einem Flugzeug, einem Hubschrauber, über dem ganzen verbrannten Land nach Menschen, Vieh und Pferden gesucht. Viel ist umgekommen, einiges konnten wir noch retten. Aber euch in der Sandkuhle hat erst Stonehorn gefunden.«

Wakiya hatte glühende Wangen. »Warum glaubt ihr Geister, dass Inya-he-yukans Verstand verwirrt sei?«

»Wer hat das gesagt?«

»Die Mutter hat es gehört.«

»Das ist nichts als Geschwätz, leerer Wind. Er wird wieder gesund.«

»Er wird wieder gesund.« Wakiya wiederholte diese Worte, sehr langsam und deutlich. Er wird wieder gesund! Das hieß aber, Inya-he-yukan ist krank gewesen, und du, Eivie, willst es mir nicht sagen. Du willst es mir nicht sagen, deshalb frage ich dich auch nicht.

»Stonehorn ist ein prächtiger Mensch, Wakiya. Kennst du ihn?«

Wakiya überlegte sich die Antwort. Was Eivie eben gesagt hatte, war nicht gelogen. Wenn es auch viel zu wenig und nur obenhin gesagt war. Es war alles, was man von einem der Geister erwarten konnte; für einen Geist war es viel. So fühlte Wakiya. Aber war das, was Eivie gesagt hatte, auch eine Falle? Der Richter Ed Crazy Eagle hatte wissen wollen, wann Wakiya mit Inya-he-yukan gesprochen hatte. Wakiya hatte die unbeantwortete Frage nicht vergessen. Er antwortete deshalb auch jetzt nicht direkt, sondern stellte eine Gegenfrage. Er wollte seine Geheimnisse nicht preisgeben.

»Ist Inya-he-yukan, als er krank war, in deinem schneeweißen Geisterreich gewesen?«

Eivie lächelte über das schneeweiße Geisterreich und vergaß darüber ein Stück Vorsicht.

»Stonehorn will unser schneeweißes Geisterreich nicht betreten. Er hat es mit schlechten Ärzten zu tun gehabt, als er gefangen war, und nun lässt er sich von keinem mehr anfassen.«

Da war es gesagt.

In Wakiya blitzte es auf. Die Mutter kam nicht in dieses Reich herein, in dem Wakiya jetzt lebte, und Inya-he-yukan auch nicht. Inya-he-yukan wurde leichter ohne die Geister gesund, die ihn immer verachtet und verfolgt und zwischen ihren Mauern krank gemacht hatten. Aber Wakiya war nicht so stark und hatte auch nicht so viele böse Erfahrungen gemacht. Ihm gefiel es bei dem Doktor mit den wenigen blonden Haaren gut. Vielleicht deshalb, weil er nun keinen weiten Weg zu laufen und nicht in die Schule zu gehen brauchte.

Die Schule war weit, weit weggerückt.

Eines Tages aber war sie wieder da.

Wakiya hatte sich so weit erholt, dass er nicht mehr im Krankenhaus bleiben konnte. Er sah frischer und kräftiger aus; seine Krankheit schien sich gemildert zu haben.

Dem Arzt und den Schwestern fiel es schwer, Wakiya gehen zu lassen. Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Er war immer still und hilfsbereit gewesen, und sein kluges und nachdenkliches Gesicht hatte Gedanken und Fragen geweckt. Wenn er jetzt bei jedem Wetter wieder den langen Weg zur Schule laufen musste – was sollte aus ihm werden? Wakiya selbst weinte beim Abschied.

Still kam er nach Hause zu der Mutter, die ihn nie besucht hatte. Das neue Haus war geräumiger, es hatte Fenster und nicht nur eine Türöffnung, sondern eine Tür. Die Wände waren aus Brettern, nicht mehr aus dicken Balken gefügt.

Wakiya fühlte sich erst fremd, aber der kleinen Schwester gefiel das hellblau gestrichene Haus gut.

Der Bruder war nicht mehr da.

Er besuchte nicht nur die Vorschulklasse, wie Eivie gesagt hatte, sondern er wohnte und schlief auch in der Schule. In einer Schule außerhalb der Reservation. Nicht in Wakiyas Schule. Wakiya musste den Weg wiederum allein machen. Ihn konnte kein Schulheim aufnehmen. Er war krank und ein schlechter Schüler.

Es fiel ihm sehr schwer, sich wieder in seine Klasse einzugewöhnen. Was er im Krankenhaus gelernt hatte, war nicht ganz das, was in der Schule von ihm verlangt wurde.

Das blonde junge Geistermädchen, das über seinen versäumten Schulbesuch gezürnt hatte, war wieder seine Klassenlehrerin. Sie hatte unterdessen von Wakiyas Krankheit und seinem weiten Schulweg gehört und versuchte, auf ihre Weise Rücksicht zu nehmen. Doch machte Wakiya ihr das Leben schwer und gab kaum eine Antwort.

Er mochte sie nicht leiden. Sie hatte die Mutter ins Gefängnis bringen wollen!

Wakiyas Leistungen wurden schlechter und schlechter beurteilt. Auch sein Betragen galt als ungenügend, weil er nicht antworten wollte. Wakiya wartete während eines jeden Schultags auf nichts als auf das Ende des Unterrichts. Dann rannte er heim. Die Angst vor seiner Krankheit verfolgte ihn von neuem.

Es nützte Wakiya nicht viel, dass er zuweilen Tashina sah, die »Queenie« der Geister. Sie kam im Schulbus und besuchte die zwölfte Klasse. Da sie Stonehorns Frau war, hatte sie nicht mehr in die Kunstschule zurückgehen wollen, die weit entfernt im Süden des Landes lag. Es nützte Wakiya auch nicht viel, dass Gerüchte in der Schule umgingen, Theodore Teacock habe gelogen und Joe King sei kein Dieb. Wakiya freute sich zwar darüber, aber das mitten in einer müden Trauer und Verlassenheit.

Inya-he-yukan sollte es gut gehen. Wakiya war unnütz. Solche Gedanken kamen wieder über ihn.

David nahm Wakiya eines Tages in der Pause beiseite. Diesmal sprachen die beiden englisch.

»Du hast recht gehabt, Wakiya. Joe King hatte nicht gestohlen. Sie hatten ihn unschuldig verurteilt.«

»Warum sagst du es mir? Ich habe es gewusst.«

»Aber nun wissen es alle Leute. Teacock hatte wirklich geglaubt, Joe habe gestohlen, weil er ein so schlechter Schüler war.«

»Ich bin auch ein schlechter Schüler. Vielleicht wird Teacock noch sagen, dass ich auch ein Dieb sei.«

»Wakiya, sei nicht so verrückt.«

»Stonehorn war auch verrückt.«

»Du bist doch nicht Stonehorn.«

»Ich bin Wakiya-knaskiya.«

»Byron Bighorn bist du. Warum willst du den schönen Namen nicht haben?«

»Es ist nicht der meine.«

»Wem soll er denn sonst gehören?«

»Meinem Geist.«

»Byron, es gibt keine Geister. Es gibt Gott und seine Engel und den Teufel.«

»Sind die Engel Menschen?«

»Nein, die Menschen sind keine Engel.«

»Was sind also Engel?«

»Mit Flügeln.«

»Sie tragen aber ihre Federn an der falschen Stelle.«

»Was du immer zusammenredest, Byron!«

»Was machen sie jetzt mit Teacock?«

»Er muss fortgehen von der Schule. Es ist eine große Schande.«

Die Pause war zu Ende. Die beiden Jungen stoben auseinander.

Ein paar Tage später sorgte ein Gerücht für Aufregung. Tashina, die beste Schülerin der ganzen Schule, die Hoffnung auf ein ausgezeichnetes Abschlussexamen, hatte Harold Booth erschossen.

Wakiya rannte heim, noch schneller und atemloser als sonst. Er wusste, dass die Mutter an diesem Tag einkaufen gegangen war. Es mochte sein, dass sie etwas gehört hatte.

Eliza Bighorn hatte sich wieder daran gewöhnt, mit Wakiya als ihrem einzigen Vertrauten zu sprechen. Sie war wie eine Vogelmutter gewesen, die sich von einem Jungen zurückzieht, das von fremden Händen berührt worden ist. Nun hatte Wakiya den Geruch der Geister und ihrer weißen Kleider längst verloren, und er hatte seine Muttersprache auch nicht verlernt.

Wenn er in der dritten Klasse ein sehr schlechter Schüler war, so war das in Elizas Augen kein großer Mangel. Es erging Wakiya damit nicht anders als seiner Mutter, die nach drei Jahren die Schule schon verlassen hatte. Auch jetzt gab es noch Kinder, die es nicht weiter brachten, wenn ihre Zahl auch geringer wurde. Was brauchte der kranke Wakiya soviel zu lernen! Der Bruder konnte das an seiner Stelle tun.

Die kleine Schwester schlief auf der gestrichenen Bettstatt im hellblauen Haus; die Fenster waren verhängt, aber die Tür stand offen. Eliza Bighorn und ihr Sohn Wakiya saßen auf der Schwelle. Wakiya hatte eine neue Hose an. Die alte war mit der alten Hütte verbrannt; sie wäre noch für zwei Jahre weit genug gewesen. Aber das Schicksal hatte sie ereilt. Die neue war schwarz, wie Wakiya sie sich gewünscht hatte, und Raum für das Wachstum ihres Besitzers ließ auch sie noch auf einige Jahre hinaus.

Mutter und Sohn schauten über die Prärie, auf der das Gras aus dunklem Boden spross. Die Kiefern ringsum waren verschwunden; Bäume wuchsen langsamer als Gras.

Auch Wakiyas Versteck lag kahl und bloß, und die kleine, hässliche Kaktee war ein Raub des Feuers geworden. Wakiya ging nur noch selten zu dem Platz.

Am Abend saß er meist mit der Mutter zusammen, und besonders gern auf der Schwelle des Hauses.

»Was war mit Tashina, Mutter?«

Eliza kaute an ein paar trockenen Beeren. Sie hatte schon viele Zähne verloren, und mit dem Kiefer konnte man nur langsam mahlen.

Wakiya schob auch zwei Beeren in den Mund, um leichter auf die Antwort warten zu können.

»Ich will es dir sagen, Wakiya. Ich will dir alles sagen. Du kommst nun in den neunten Winter. Alt genug bist du, um von deiner Mutter alles zu hören. Mach deine Ohren auf, und vergiss meine Worte nicht.«

»Ich höre, Mutter, und vergesse deine Worte nicht.«

»Tashina, sagst du. Sie ist ein schönes und gutes Mädchen. Bei ihrem Vater und ihrer Mutter hatte sie gelernt, gehorsam zu sein und zu arbeiten. Weißt du das?«

»Sie ist auch in der Schule fleißig, und immer weiß sie alles. Sagen die anderen. Sogar Teacock hat sie gelobt. Das ist nicht gut. Aber sie malt Bilder für unsere Aula, die werden sehr gut. Sie will unsere Vorväter malen, so, wie sie wirklich waren und wie sie die Kinder lehrten, und die Kinder hörten zu. Sie malt auch einen Mann, der unseren Kindern mit einer langen Schere die Haare abschneidet. Er sieht Teacock gleich, ob sie es nun weiß oder nicht. Er wütet im Haare-Abschneiden, und die Kinder sind traurig. Die Eltern streiten sich und sterben, die Kinder gehen Hand in Hand allein. Die Häuptlinge verhandeln, und die Geister stehen da, einer hinter dem anderen, die Unterhändler, die Langmesser, die Pelzhändler, die Goldsucher. Das wird sie alles malen, und es ist gut.«

 

»Kommen die Bilder in eure Schule?«

»Sie werden in der Aula an die Wand gemalt.«

»Gut, gut. Aber wie macht das Tashina King, dass Teacock sie gelobt hat, und du lobst sie auch?«

»Sie hat zwei Gesichter und ist doch rund und schön wie ein Mond. Ich habe sie gesehen.«

»Nun hat sie Harold Booth erschossen. Harold Booth wollte sie zur Frau haben, aber Inya-he-yukan hat sie sich zur Frau genommen. Die beiden sind Feinde und Harold Booth gab keine Ruhe.«

»Ich weiß, dass sie Feinde waren.«

»Nun hat Tashina Harold Booth erschossen. Er war kein guter Mann. Aber das Haus der Kings ist auch ein verfluchtes Haus.«

Wakiya zuckte zusammen.

»Sage mir, Mutter, wie das ist.«

»Von lange her ist das. Die Väter und Vorväter der Inya-he-yukan gehörten zu unseren Häuptlingen und Geheimnismännern. Sie waren ein stolzes Geschlecht, gute Büffeljäger und gefürchtete Krieger. Sie besaßen ein großes Tipi und bewirteten mit ihrer Beute viele Gäste, und die Nähte ihrer Röcke waren mit Skalphaaren geschmückt. Aber sie waren auch streitsüchtig und lebten in Unfrieden mit vielen Männern aus ihrem eigenen Stamm. Immer gewannen sie die schönsten und tugendhaftesten Mädchen für sich. Es war wie ein Zauber. Inya-he-yukans Großvater erhielt in den Büchern der Geister den Namen King, das bedeutet bei ihnen soviel wie Oberhäuptling.«

»Ich weiß.«

»Ja, du hast diese Sprache gelernt. Der Großvater hieß also King. Er wollte nicht verstehen, dass wir besiegt und ganz beraubt sind. Er war ein starker und trotziger Mann und wollte es nicht verstehen. Der Sohn, das ist Inya-he-yukans Vater, nahm sein Pferd und schweifte weit umher, weit hinauf nach Norden bis über den Mini-sose, und er brachte sich eine Frau aus unserem Stamm mit, so tugendhaft und schön, wie je eine gewesen war.«

»Wie kommt das, Mutter? Gibt es oben beim Nordwind auch noch Männer und Frauen von unserem Stamm?«

»Ja, einige, die sich dem Vater Superintendent nicht beugen mochten. Von dort holte er sich seine Frau. Sie hatte ein hartes Leben. Denn ihr Mann und der Vater ihres Mannes wollten nicht verstehen, dass wir ganz besiegt und beraubt sind. Aber sie hatten auch keine Waffen und keine Krieger mehr, und da begannen sie zu trinken und zu träumen. Die Geister haben ein Zauberwasser für unsere Männer mitgebracht, um sie zu verwirren.«

»Das habe ich schon gehört, Mutter, aber ich habe noch nie gesehen, dass ein Mann davon trank.«

»Sei froh, Wakiya. Dein Vater hat nie einen Tropfen von dem schändlichen Gift genommen. Aber viele unserer Männer tun es heimlich, und dann werden sie wie besessene Tiere! Sie zerstören das Haus und schlagen Frauen und Kinder. So ist es bei den alten Kings gewesen. Als nun der Vater Inya-he-yukans im Gefängnis war, im Gefängnis der Geister, weil er sich betrunken mit anderen Männern geschlagen hatte, da blieb Inya-he-yukans Mutter allein mit dem Großvater. Auch er trank und schlug das kleine Kind. Fast hätte er es totgeschlagen. Aber sie wollte ihr Kind schützen, nahm das Beil und erschlug den alten Mann.«

Wakiya schauerte zusammen.

»Darum ist das Haus verflucht. Die Frau musste gehen; wir haben sie nicht mehr unter uns geduldet. Sie hatte das Blut des alten Vaters an den Händen. Sie nahm ihre beiden Kinder, Inya-he-yukan und seine Schwester, und ging in das Elend nach New City.

Als der Vater aus dem Gefängnis heimkam, holte er sich seinen Sohn wieder, den Inya-he-yukan. Aber der Junge wuchs ohne Mutter auf, und der Vater trank, und als der Sohn groß und kräftig wurde, schlug er sich mit dem Vater. Mit sechzehn Jahren musste Inya-he-yukan ins Gefängnis, weil Teacock sagte, er habe gestohlen und ihn bedroht und eine Bande gebildet. Als der Bursche wieder aus dem Gefängnis kam, hat ihn keiner abgeholt. Er wollte auch nicht mehr heim und nicht mehr in diese Schule gehen. Er stand auf der Straße, und die Geister haben ihn zu sich geholt, jene Geister, die sich Gangster nennen und mächtige Geheimbünde unter sich geschlossen haben. – Manchmal war Inya-he-yukan heimlich hier auf unserer Reservation. Oft ist er den Polizeimännern entkommen, manchmal wurde er gefangen. Er soll auf Rodeos geritten sein, für Fremde auf fremden Pferden, er soll geraubt und Menschen getötet haben. Nun, sie reden so, ich weiß es nicht, und ich traue ihnen nicht. Auf einmal, im vergangenen Sommer, kam Inya-he-yukan wieder ganz zu uns zurück, und die Geister der Geheimbünde wollten ihn darum töten. Er ist ihnen aber entkommen, und dabei ist wiederum Blut geflossen, hier und in New City. Die Polizeimänner haben Inya-he-yukan wieder geholt und wollten alle seine Geheimnisse erfahren. Aber er ist einer von unserem Stamm und schweigt. Er hat Tashina zur Frau genommen, unser schönstes und bestes Mädchen. Sein Vater ist beim Trinken umgekommen. Nun hat Tashina Harold Booth erschießen müssen. Er war kein guter Mensch, und sie hatte Angst vor ihm, weil er sie noch immer zur Frau haben wollte. Harold Booth war auch betrunken.«

»Warum wollte er sie unbedingt zur Frau haben, Mutter?«

»Das ist eine lange Geschichte. Sie sind alle einmal in die gleiche Schule gegangen, in deine Schule, Wakiya-knaskiya, nur in verschiedene Klassen. Harold Booth, Inya-he-yukan und Tashina. Die beiden Burschen haben Tashina geliebt und sich um sie geschlagen. Sie liebte in Wahrheit Inya-he-yukan, aber mit Harold hat sie gespielt und auch ihm ihre schönen Augen gezeigt.«

»Tun das Mädchen oft?«

»Manche tun es.«

»Susanne Wirbelwind.«

Die Mutter lächelte. »Ja, Susanne auch. Liebe sie nicht, Wakiya, denn sie wird dich nie zum Manne nehmen. Ihr Vater hat eine große Ranch.«

»Ich kann dir nicht versprechen, Mutter, dass ich sie nie lieben werde. Es ist noch nicht entschieden.«

»Aber Harold wollte die schöne Tashina zur Frau haben, und es kam ihm wohl nie der Gedanke, dass Tashina nicht ihn, sondern den Sohn eines Säufers und einer Mörderin lieben würde. Er wollte die schöne Tashina auch darum zur Frau haben, weil sie Malerin wurde und schon gut verdiente. Aber Tashina nahm Inya-he-yukan. Da fing Harold selbst an zu trinken und stahl Inya-he-yukan die Pferde. Aus Rache und um des Geldes willen. Ja.«

»Was haben Harold und Tashina miteinander gesprochen, ehe Tashina Harold erschoss?«

»Das weiß kein Mensch, Wakiya-knaskiya. Er wollte sie aber noch mit Gewalt zu seiner Frau machen. Darum hat sie ihn erschossen, und niemand bestraft sie dafür. Es ist ein verfluchtes Haus, denn das Blut des alten Vaters klebt daran, und Inya-he-yukan hat auch keine reinen Hände. Blut braucht neues Blut. In dem Hause werden sie nie zur Ruhe kommen.«

»Inya-he-yukan hat uns in der Sandkuhle gefunden, als der Durst uns schon zu töten begann.«

»Wakiya, er ist unser bester Reiter und unser bester Schütze. Er ist besser als alle die anderen. Aber er ist ein Mensch und auch ein Geist, Inya-he-yukan und Joe King. Er ist nicht so rund wie Tashina, sondern ein Stein mit Hörnern, und an seinem Haus und an seinen Händen klebt Blut. Ich sage dir das, Wakiya, weil ich weiß, dass du in vielen Nächten von ihm träumst. Er ist aber ein Mensch, dem niemand helfen kann, denn das Haus ist verflucht, und Blut kann keiner abwischen außer mit Blut. Nun hat Tashina den Nachbarsohn Harold Booth erschossen. Hau!«

Das war die längste Rede, die Wakiya-knaskiya je von seiner mürrischen und schweigsamen Mutter gehört hatte. Die beiden saßen noch bis in die Nacht hinein auf der Schwelle des hellblauen Hauses und schauten über Wiese und Hügel zu den Sternen hinauf und zum Mond, der sein Gesicht nur wie eine dünne Sichel zeigte.

Als die beiden schlafen gegangen waren, träumte Wakiya und schrie laut den Namen Inya-he-yukan.

Am frühen Morgen schlief er endlich ruhig. Die Mutter konnte ihn nur mit Mühe wecken. Er aß kaum etwas und machte sich auf den Schulweg. In den Unterrichtsstunden passte er weniger auf als je.