Licht über weißen Felsen

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»Damit fahren die Geister auf der Straße, Wakiya, und die Unsern tun es auch schon.«

»Was ist das, Mutter, eine Straße?«

»Du hast sie doch gesehen, Wakiya, als wir zu dem Alten gegangen sind.«

Wakiya schaute die Mutter lange an. Er hatte noch nicht verstanden. Aber auf einmal wusste er etwas, denn auf den Spuren seiner Erinnerung fand er das Bild der platten, leblosen, tückischen Schlange. Er nahm das Spielzeugauto in die Hand und wunderte sich voll Misstrauen.

»Die, mit denen sie auf der Straße fahren, sind nicht so klein, Wakiya, sie sind groß.«

Das begriff der Junge. Vorsichtig stellte er das Spielzeugauto wieder an seinen alten Platz in der Höhle und wischte seine Hand an Gras und Erde ab. Von dem Gift der platten Schlange sollte nichts an seinen Händen kleben. Er fürchtete nicht, dass dieses Gift der Mutter schaden könnte oder den kleinen Geschwistern. Es fiel ihm gar nicht ein, dass es ihnen schaden könnte. Sie waren andere Menschen als Wakiya, und die Geister verfolgten sie nicht.

Es ging auf den Sommer zu, und das war der letzte Sommer, in dem Wakiya-knaskiya noch nicht zur Schule gehen musste. Er fürchtete sich vor der Schule. Dort waren Kinder, die sich vor ihm entsetzen würden, wenn sein Geist ihn zerrte und schüttelte. Dort wurde die fremde Geistersprache gesprochen, und Wakiya-knaskiya konnte die lauten Worte nicht verstehen. Die Geister töteten die Kinder nicht mehr, aber sie schlugen sie mit einem großen Stock, groß wie der Ast eines Kiefernbaumes, und verhöhnten sie. Die Mutter wusste es. Drei Sommer und drei Winter war sie als Kind in dem Hause der Geister gewesen. Zwölf Wörter der fremden Sprache hatte sie behalten. Sie brauchte auch diese Wörter nicht. Wenn sie einkaufen ging, legte sie Brot, Mehl und Fett in den Korb, und sie legte das Geld hin, das sie sich vorher bei der Wohlfahrtsfrau geholt hatte. Etwas Geld bekam sie wieder, und dann lief sie den weiten Weg zurück zur Hütte.

»Wakiya, geh Wasser holen!«

Der Junge schrak aus seinen bösen Träumen auf und griff nach dem Eimer, den die Mutter ihm hinhielt. Mit dem Eimer in der Hand eilte er im Trab über die trockenen Wiesen. Er fing bald an zu rennen, obgleich der Eimer recht groß für ihn war und ihn beim Laufen hinderte. Aber die Wasserstelle war weit entfernt, und Wakiya hatte Angst, dass ihn sein Geist verfolgte und ihn auf dem Weg einholen und niederwerfen und zerren würde. Darum rannte er, und der Eimer klapperte und quietschte.

Er war müde, als er bei der Wasserstelle anlangte. Fauliges Wasser war im sandigen Bachbett. Vorsichtig ließ es Wakiya in den Eimer einlaufen, so dass nicht zuviel Schmutz mit hereinkam. Es gab bessere Wasserstellen, und weit, weit weg, irgendwo, gab es Brunnen. Aber dorthin konnte Wakiya nicht laufen; dazu war er zu schwach. Er saß neben seinem gefüllten Eimer. Die Mücken tanzten und stachen. Das war er gewohnt; er kümmerte sich nicht darum. Aber er war wirklich sehr müde und ganz allein mit dem schwer gewordenen Eimer. Das war auch eines der Dinge, die Wakiya fürchtete: einen Eimer voll Wasser den langen Weg heimschleppen. Er hatte der Mutter noch nie gesagt, wie schwer ihm das wurde. Sie hatte ohnedies Kummer genug mit Wakiya-knaskiya, der nicht leben und nicht sterben konnte.

Der kleine Junge war durstig und trank ein paar Schluck. Er sah den spielenden Mücken zu und schaute auf den Wasserspiegel, der das Sonnenlicht zurückflimmerte. Er war wie ein großes Auge.

Irgendwann einmal würde Wakiya-knaskiya den verlorenen Augen begegnen, und er würde sie erkennen. Vielleicht waren der Mond und die Büffel nicht hervorgekommen, weil der Alte seine Augen verloren hatte.

Aber eines Tages würde Wakiya die verlorenen Augen finden. Er wartete immer darauf. Er wartete darauf, wenn er des Abends nach dem Mond schaute, der sein Bruder geblieben war; er wartete darauf, wenn sich Blütenblätter unter der Sonne öffneten wie Augenlider. Er wartete in dieser Stunde darauf, wenn er das Wasser über braunem Moder mit der Sonne spielen sah.

Am anderen Ufer des träge und seicht gewordenen Baches tauchte ein Mann auf, oder war es noch ein junger Bursche? Seine Haut war braun, sein Haar schwarz, aber kurz geschnitten. Er war groß und sehr schlank, ganz nackt bis auf Gürtel und Schurz. In einer Scheide am Gürtel steckte ein Messer; der Griff schaute heraus. Wakiya starrte auf diesen Griff, er wusste selbst nicht, warum, aber dieser Griff war anders als andere Messergriffe, die Wakiya kannte, und so musste auch das Messer ein anderes Messer sein; es setzte nicht breit an, sondern schmal, fast so schlank wie ein Finger.

Wakiya schaute nur und sagte nichts; und der Fremde sagte auch nichts. Wakiya wartete, ob dies einer der jungen Burschen sei, die er mit dem Vater zusammen bei dem schweigenden Zug der Toten gesehen hatte. Der Gürtel und der lederne Schurz des Fremden waren mit den geschmeidigen langen Borsten des Stachelschweins bestickt, in Rot, Gelb und Blau, wie es dem Sohn aus einem Häuptlingstipi zukam.

Wakiya-knaskiya hatte Alte, Männer, Burschen in hirschledernen Gewändern beim Tanz gesehen, aber einem solchen Mann wie diesem glaubte er noch nie begegnet zu sein, außer bei dem Liede des Vaters. Der Fremde warf sich in den Sand und trank durstig in langen Zügen das schlechte Wasser. Dabei wurde sich Wakiya-knaskiya wieder bewusst, dass die Haare des Burschen ganz kurz geschnitten waren. Ein Feind musste ihm die langen, schwarzen Haare geraubt haben, so, wie man einem besiegten Manne den Skalp nahm. Seit er sich von dem großen Zug der Toten entfernt hatte, musste ihm Übles geschehen sein. Der braunhäutige Bursche schien sich satt getrunken zu haben. Behende stand er wieder auf; an seinem Körper haftete noch etwas Sand. Ehe er irgendeine weitere Bewegung machte, schaute er auf Wakiya.

Wakiya-knaskiya holte ein einziges Mal tief Atem, dann begann sein Kindergesicht zu leuchten; von der Stirn breitete sich das Leuchten über Wangen und Mund aus wie fließendes Gold.

Wakiya-knaskiya hatte die verlorenen Augen gefunden. Schwarz schimmerten sie zu ihm herüber, groß, wie Dunkelheit ohne Ende, in die unbekanntes Licht einstrahlt. Wakiya lächelte, denn er war glücklich.

Der Fremde schaute ihn an, und die merkwürdigen Augen trafen sich mit denen Wakiyas. Der Fremde kam über den Bach herüber; gleichmütig lief er mit seinen nackten Füßen durch Wasser und Schlamm. Er blieb bei Wakiya stehen und strich ihm über das lange Haar, das noch kein Feind geschoren hatte. Dann griff er nach dem Eimer.

»Wo steht das Tipi deiner Mutter?«

Wakiya hatte die Stimme des Fremden in sich aufgenommen; dunkel war sie wie das Rauschen des Windes, der dem dürren Land wohltun und Regen herbeiwehen will; Wakiya kannte sie. Er nahm den Fremden vertrauensvoll an der Hand und führte ihn, und jetzt lächelte auch dieser.

Sie gingen ein Stück miteinander, ohne ein Wort zu sagen. Dann hob der Fremde Wakiya auf, mit einem einzigen Griff, und Wakiya schlang die Arme um den Nacken des Unbekannten. Keine Angst fühlte Wakiya; alle Furcht fiel von ihm ab, wie welke Blätter vom Baum fallen. Er dachte nicht an die tückische Schlange, nicht an die finster gebliebene Nacht, nicht an seinen Geist, der ihn verfolgen und niederwerfen konnte, nicht an die Kinder, die in der Schule schreien und vor Wakiya davonlaufen würden, nicht an den großen Stock, mit dem die Geister Kinder schlagen konnten.

Wakiya hatte die verlorenen Augen gefunden.

Er war geborgen.

Wie aber der Fremde gekommen war, so ging er wieder. Er setzte Wakiya sacht zur Erde, stellte den Eimer neben ihn und verschwand zwischen den Hügeln, in dem schnellen, lautlosen Lauf eines indianischen Kriegers, der verfolgt oder verfolgt wird.

Wakiya fasste nach dem Henkel und schleppte den Eimer nach Hause. Die Mutter und die kleinen Geschwister freuten sich über das Wasser und darüber, dass Wakiya heil und gesund damit zurückgekommen war. Die Mutter hatte unterdessen eingekauft und war einen noch längeren Weg gelaufen als das Kind. Sie hatte ein Stück Fleisch mitgebracht, ein seltener Leckerbissen. Alle rochen den Duft des röstenden Bratens und alle schmausten. Die Mutter erzählte den Kindern noch das Märchen vom Steinknaben, während es draußen dunkelte und in der Blockhütte schon ganz finster war.

Wakiya-knaskiya schwieg und hütete wie einen Schatz, was er gesehen und erlebt hatte. Er hatte die verlorenen Augen wiedergefunden. Das blieb sein Geheimnis, und es war ein neues Leben für ihn. Er wollte den Augen wiederbegegnen. Aber wenn er Worte darüber machte, wurden sie vielleicht für immer verscheucht.

Mutter und Kinder schliefen alle beieinander auf ihrem harten Lager. Das Nachtlager des Vaters blieb leer, seitdem er im Grab lag.

Draußen schlugen die beiden Hunde an.

Sie hatten sich am Abend noch lange um den einzigen Knochen gestritten, dann hatten sie sich müde zusammengerollt. Aber nun waren sie hellwach, kläfften, flohen vor etwas und kamen zurück.

In der Hütte öffnete Wakiya als erster die Augen und horchte auf das Gebell. Als er auch Schritte vernahm, weckte er die Mutter. Bruder und Schwester schliefen weiter.

Die Mutter zog den Rock über das Nachthemd, das wohl so gut wie eine Bluse war, und lief barfüßig hinaus.

Eine Männerstimme schallte ihr entgegen.

»Hallo!«

Wakiya erschrak. Das war eines der Geisterworte.

Er hörte die Mutter leise und undeutlich antworten, und er vernahm wieder die barsche Stimme des Mannes, der Hallo gerufen hatte; er konnte auch einzelne Worte unterscheiden, aber er verstand sie nicht.

Ein Licht blitzte in die Hütte hinein, scharf wie Messer. Die beiden kleinen Geschwister rieben sich die Augen und wälzten sich auf die andere Seite, um diesem Licht, das sie im Schlaf störte, den Rücken zu kehren. Wakiya saß auf dem Bettgestell mit verschränkten Beinen, eine Wolldecke halb über sich gezogen. Die Mutter stand bei der Türöffnung, durch die das Licht hereinschoss. Der blendende Strahl wanderte rings in der Blockhütte umher; über das leere Nachtlager des Vaters, über den eisernen Ofen, auf dem die Mutter auch die Speisen briet, über die Haken an der Wand, über das Jagdgewehr des Vaters, über Wakiya, der unwillkürlich die Augen schloss, um sie dann nur ganz wenig zu öffnen. Er hatte aber den Mann gesehen, der braunhäutig und schwarzhaarig war wie ein Mensch und doch fremde und feindliche Kleidung trug. Wakiya hätte nicht genau sagen können, was ihm an diesen Kleidern fremd und was ihm feindlich schien. Der Mann trug aber nicht Jeans und ein altes Hemd, wie der Vater sie getragen hatte; er hatte einen ledernen Gürtel um, doch der war nicht bestickt. Seine Füße waren nicht nackt, noch steckten sie in Mokassins; er hatte Schuhe aus festem Leder an. In seiner Hand hielt er ein Geheimnis, aus dem das Licht hervorblitzte und die anderen Menschen traf wie eine Lanzenspitze.

 

Als der Mann alles abgeleuchtet und auch in den leeren Decken auf des Vaters Lager gewühlt hatte, ging er zu dem Jagdgewehr an der Wand, nahm es, stellte fest, dass es nicht geladen war, und schaute die Mutter fragend an.

»Meines Mannes Mazzawaken.«

Diese Worte verstand Wakiya-knaskiya, denn sie waren in der Sprache seiner Mutter gesprochen worden.

Der Mann antwortete in der gleichen Sprache.

»Das hebst du für den auf?« Er wies mit einer Bewegung seines Kopfes auf Wakiya.

Wakiya begriff erst jetzt, wie groß und stark dieser Mann mit dem Zauberlicht war; er hatte bis dahin nicht darauf geachtet.

»Du solltest das Mazzawaken lieber verkaufen und den Kindern von dem Geld zu essen geben.«

Die Mutter gab keine Antwort.

Aber Wakiya erkannte in diesem Augenblick an der Türöffnung einen zweiten, kleineren Mann, der ebenso braunhäutig und schwarzhaarig und ebenso gekleidet war wie der erste.

»Du sagst, hier bei euch sei kein fremder Mann gewesen?« fragte der Große die Mutter. »Ich sage es.«

»Er treibt sich aber hier herum.«

Der große Mann fasste Wakiya ins Auge und setzte sich zu dem Jungen auf die Bettstatt. Wakiya hielt die Lider gesenkt.

»Was hast du heute getan, kleiner Junge?«

Wakiya schaute auf die Mutter, und als diese ein Zeichen gab, dass er antworten solle, antwortete er: »Ich habe Wasser geholt.«

»Wann bist du weggegangen?«

»Als die Sonne über die Hügel kam.«

»Wo hast du das Wasser geholt?«

»Am Wasser, das langsam fließt.«

»Wann bist du heimgekommen?«

»Als die Sonne wieder zu den Hügeln herabstieg.«

Der große Mann sah die Mutter an und leuchtete ihr ins Gesicht. »Du hast Fleisch geholt?«

»Ja.«

»Wann bist du weggegangen?«

»Als die Sonnenstrahlen über die Hügelkämme gekommen sind.«

»Wann bist du heimgekommen?«

»Als die Amsel zum Abend sang.«

»Die kleinen Kinder waren allein?«

»Ja.«

»Wem bist du begegnet, als du über die Prärie gingst?«

Die Mutter zuckte die Achseln. »Keinem Menschen bis zur Straße.«

»Und auf der Straße?«

»Fuhren zwei Autos.«

Der große Mann rief den kleinen herein. »Die Mutter und der älteste Junge waren den ganzen Tag weg.« Er leuchtete die Pfanne an, in der das Fleisch gebraten worden war; das Bratfett war noch frisch.

»War in deiner Blockhütte etwas verändert, als du wiederkamst?«

Die Mutter zuckte wieder die Achseln. »Die Kinder haben gespielt.«

Der große Mann blies ein wenig Luft durch die Lippen.

»Komm, wir gehen. Hier ist nichts zu finden.«

Er ging mit dem kleineren zusammen weg. Wakiya huschte von seinem Lager zu der Türöffnung und schaute ihnen nach. Es war leicht, den Weg des Lichts zu verfolgen. Er führte zu einem kurzen, gedrungenen Wagen, der hoch auf vier großen Rädern stand. Wakiya sah diesen Wagen erst jetzt, als das Licht ihn traf. Die beiden Männer stiegen ein und schlugen die Tür zu. Der Wagen fauchte und knurrte, als ob er zornig sei, dass er laufen sollte, dann rollte er über die harterdigen, staubenden Wiesen und verschwand zwischen den Hügeln.

Wakiya wunderte sich, dass er den Wagen nicht hatte kommen hören, aber er hatte wohl tief geschlafen. Sehr tief und sehr ruhig hatte er geschlafen in der Nacht nach dem Tag, an dem er Wasser geholt hatte und den verlorenen Augen begegnet war, bis die Männer, die weder rechte Menschen noch rechte Geister waren, ihn geweckt hatten. Mit diesen zwiespältigen Wesen konnte er nur schwer zurechtkommen, und er fürchtete sich davor, von ihnen zu träumen. Er wusste aber nun, was ein richtiges Auto war, in dem Geister über die Wiesen und die platte Schlange rollen konnten. Das kleine rote allerdings hatte ihm besser gefallen; es hatte eine schönere Farbe und war schlanker.

Die Mutter legte den Rock ab und schlüpfte wieder zu den Kindern unter die Decken, um weiterzuschlafen. Sie merkte aber wohl, dass Wakiya nicht einschlafen konnte, denn sie antwortete ihm, obgleich er nichts gefragt hatte.

»Das waren Polizeimänner, Kind, und sie suchen wieder einmal den Inya-he-yukan.«

Wakiya-knaskiya wiederholte leise wie ein Windhauch »Inya-he-yukan«, als ob ihm hier ein großes, schweres Wort voll geheimer Wunder begegnete. Inya-he-yukan – Stein hat Hörner – Stein, gewiss so weiß wie die Felsen über dem Grab des großen Häuptlings, Hörner, so stark wie der Büffel, der die gierigen Wölfe hoch in die Luft schleudern und Reiter und Pferd töten konnte. Als Wakiya den Namen aussprach, schaute er dabei im Dunkeln die Augen, die er wiedergefunden hatte. Diese Männer aber, die gerade hier gewesen waren, mit festen Jacken, hart geschnallten Gürteln und barschen Stimmen, sie konnten solchen Augen nie begegnen, mochten sie auch mit ihrem Licht durch die Nacht stechen und suchen. So dachte Wakiya-knaskiya, und dann schlummerte er ein und träumte von seinem unbekannten Bruder, der ihn und den Eimer mit Wasser getragen hatte.

Der Sommer ging zu Ende. Der Tag, an dem Wakiya-knaskiya zur Schule gehen musste, stand bevor. Wakiya saß jetzt oft in seinem Versteck und schaute über das Land. Die Luft war mild, aber auch der sachteste Wind wirbelte Staub aus der rissigen Erde auf. Vertrocknete Pflanzenstiele tanzten mit den Winden, blätterlos, bleich wie Gebein erstorbenen Lebens. Die Laubbäume warfen die ersten Blätter ab, die Kiefernzapfen reiften.

»Morgen nehme ich dich mit. Du musst dir die Haare schneiden lassen.«

Wakiya hörte die Worte der Mutter. Er hatte auf diese schlimmen Worte gewartet, und doch vermochte er nicht, sie zu glauben.

Er lief hinaus und versteckte sich wieder. Weinen konnte er nicht. Er saß vom Morgen bis zum Abend zwischen Gras und Gesträuch an dem Platz, den er besonders liebte, und dachte nach. Hin und wieder strich er sich über sein Haar, langes, dichtes, glänzend schwarzes Haar, wie es einst der Stolz der Häuptlinge und Krieger gewesen war. Die Sonne hatte Strahlen; wer wollte sie abschneiden und ein stumpfes Gestirn am Himmel stehen lassen? So war es mit den Haaren des Menschen. Aber die Geister waren die Feinde der Menschen und wollten ihnen allen die Strahlenhaare rauben, damit sie den Häuptlingen und Toten nicht mehr gleichsahen und den Geistern unterliegen mussten. Die Sonne wurde müde und schwand dahin. Wakiya-knaskiya ging nach Hause. Er hatte keinen Gedanken gefunden, der ihn trösten konnte. Wenn nur der Vater noch lebte! Er hatte seine Haare lang getragen; die schwarzen Zöpfe waren sein Stolz gewesen.

Die Mutter sagte kein Wort darüber, dass Wakiya so spät heimkam. Sie briet die Mehlklößchen noch einmal auf. Das Kind aß gehorsam, aber ohne Lust.

Nachts wälzte sich Wakiya auf dem Lager, und der Schweiß brach ihm aus. Durch die Türöffnung fiel schräg ein Streifen des Mondlichts herein. Bruder Mond war freundlich, doch konnte er Wakiya nicht gegen die Geister beschützen. Wakiya-knaskiya bäumte sich auf. Er mochte nicht besiegt sein. Aber die Geister wollten den Menschen besiegt sehen, darum schnitten sie ihm die Haare ab. Vor der Sonne und aller Augen sollte es kundwerden, dass die Menschen besiegt waren. Besiegt sein tat weh. Es konnte die Kraft fortnehmen und die Träume verscheuchen. Schal konnte es machen, trocken und welk, wie die Pflanzenstengel waren, die in den Winden umhertorkelten.

Wakiya-knaskiya sehnte sich nach seiner Krankheit, während er des Morgens neben der Mutter herlief, die dünnen Beine schlenkernd. Wenn sein Geist kam und ihn zerrte und niederwarf, so brauchte Wakiya-knaskiya vielleicht nicht zu dem Mann zu gehen, der ihm die Haare abschneiden wollte.

Aber der Geist huschte durch das Gras und kicherte zwischen den Kiefernnadeln. Er freute sich wohl, dass Wakiya nun ganz unterlegen war und seine Strahlen verlieren würde.

Als es Mittag wurde und die Mutter den kleinen Jungen auf der Straße in die Agentursiedlung führte, schlug Wakiya die Augen nieder.

Er mochte nicht die hellen Häuser mit den blinkenden Fenstern, nicht die Blumen in den Gärten und nicht das volle Laub der Bäume sehen, nicht die glitzernden Tropfen reinen Wassers, die wie ein Wunder aus dem gelben Maul einer schwarzen Schlange über grünes Gras sprühten.

Wakiya schämte sich bitter. Um seinen mageren Kinderkörper schaukelte an verkürzten Trägern die Hose, die ihm auch jetzt noch viel zu weit war. Die Schulterblätter standen eckig aus seinem Rücken hervor. Seine Füße waren schlaff geworden, seine Schritte wurden kleiner und kleiner. Die Mutter packte ihn fest an der Hand und drängte ihn durch eine wackelige Tür in ein Holzhaus, das einmal weiß gestrichen worden war. Aber unter Hitze, Kälte und Nässe hatte die Farbe abzublättern begonnen.

Wakiya-knaskiya schaute sich unter halbgesenkten Lidern um, wie es wohl einst ein Krieger getan hatte, den die Feinde gefangennahmen. An der Wand standen ein paar alte Stühle; dort saßen zwei Männer mit buntkarierten, offenen Hemden und ausgewaschenen Jeans, deren Füße in schlechten Schuhen steckten. Buschig wuchsen ihnen die schwarzen Haare auf dem Kopf. Ein dritter saß mitten im Raum auf einem einzigen Stuhl, um die Schultern lag ihm ein weißes Tuch, und auf das Tuch fielen seine schwarzen Haare. Wakiya vernahm das Klappern der scharfen Schere.

Noch blieb Zeit, in der irgendetwas geschehen konnte, ehe auch Wakiyas schwarze Strahlen kraftlos auf ein weißes Tuch fallen würden. Was hatte einst ein Krieger wie Wakiyas Großvater getan, wenn die Feinde ihm den Skalp rauben wollten?

Die Mutter setzte sich auf einen der freien Stühle an der Wand und winkte ihren Sohn heran. Stumm setzte sich das Kind neben sie, und die nackten Füße hingen herab, ohne sich zu bewegen. Mit den Händen stützte es sich rechts und links auf die Stuhlkanten, beugte den Nacken und schaute zur Erde. Es hatte gesehen, dass der Mann mit der Schere lächelte. Lächeln war Hohn. Auch der Mann mit der Schere war ein Mensch, aber er stand im Dienst der Geister wie die Männer mit den festen Jacken und den hart geschnallten Gürteln, die die Augen des Donnervogels gestohlen hatten und sie aus ihrer Hand durch die Finsternis blitzen ließen. Der Mann auf dem einzeln stehenden Stuhl erhob sich; das weiße Tuch wurde ausgeschüttelt, und mit kurzgeschorenem Kopf ging der Mann hinaus.

Warum sich ein so starker Mann, der nicht mehr zur Schule gehen musste, wohl die Haare abschneiden ließ?

Die Geister hatten große Macht über die Menschen.

Bisher war im Raum kein Wort gesprochen worden, keines war durch die Luft geflogen zu anderen Menschen, keines auf die Erde gefallen mit den abgeschnittenen, kraftlosen Haaren. Aber nun, als der Mann seine Schere noch einmal abwischte, obgleich kein Härchen mehr daran klebte, sagte er, und er sagte es wohl als Antwort auf eine Frage, die schon lange vorher gestellt worden war: »Nein, den haben sie nicht gefunden. Schließlich ist es Joe King.«

Der Mann klappte die Schere zusammen; das war der einzige Laut nach seinen Worten. Er wartete nun auf den Nächsten, der auf dem einzelnen Stuhl Platz nehmen wollte. Es erhob sich aber noch niemand, um das zu tun. Alle lauschten, ob der Mann mit der Schere nicht weitersprechen wolle.

»Nicht, was ihr denkt! Bei mir war er nicht. Der braucht mich nicht mehr. Dem scheren sie den Kopf von Zeit zu Zeit ganz woanders kahl. Aber ihm wachsen die Haare wie das Gras nach dem ersten Regen im Frühling. Ich weiß noch, wie er zu mir gebracht wurde, acht Jahre alt, und sollte in die Schule gehen. Der alte King hatte ihn bis dahin versteckt oder auch gesagt, er wisse nicht mehr, wann der Junge geboren sei. Aber er war schon mit acht Sommern und Wintern eine Wildkatze, kratzte und biss, und drei Männer haben ihn festgehalten, bis ich den Urwald von seinem Kopf wegbrachte. Ja. Das ist das Blut der Kings.«

 

»Der Inya-he-yukan.«

Als Wakiya diesen Namen hörte, glühten seine Wangen und seine Stirn auf wie Eisen im Feuer. Alles, was er gegrübelt und gedacht hatte, schmolz dahin. Inya-he-yukan! Inya-he-yukan hatte dieselbe Schande erlitten, die Wakiya nun erleiden sollte. Er, der Mann wie Fels und starkes Büffelhorn – der Mann, dessen Augen nicht schwarz waren wie Holz von erloschenem Feuer, sondern dunkel und zugleich licht gleich dem Himmel in der Nacht. Der Mann mit den verlorenen Augen hatte Schande über sich ergehen lassen müssen in den Händen der Feinde – als Kind, als Mann. Schande? Schande über jene, die ihm Gewalt angetan hatten! Schande über sie! Wakiya stand auf und ging zu dem Marterstuhl, auf dem Inya-he-yukan vor ihm gesessen hatte, als ein Knabe von drei Männern kaum bezwungen. Wakiya setzte sich hin, so, wie sich wohl einst ein Häuptling freiwillig an den Pfahl stellte, um seinen Mut zu beweisen.

»Schneid mir die Haare, Mann mit der Schere, im Dienste der Geister. Du kannst sie schneiden und wieder schneiden. Die Haare werden wachsen und wieder wachsen, weil die Toten nicht tot bleiben. Hau.«

Die beiden Männer, die noch auf den Stühlen an der Wand saßen, die Mutter und der Mann mit der Schere rissen die Lider hoch, so dass ihre Augen groß wurden wie die staunender Büffelkälber, und sie öffneten die Lippen, aber es kamen ihnen lange keine Worte aus dem Mund. Der Mann mit der Schere tat seine Arbeit; er tat sie gut. Wakiya saß da, wie aus Stein gehauen, und zuckte nicht einmal. Sein Kopf sah danach nicht aus wie eine Wiese, über die das Feuer gegangen ist. Seine schwarzen Haare legten sich gekürzt, aber glänzend und schön um die große Stirn und den stark gewölbten Schädel.

»Du hast sie nicht kurz genug geschnitten. Ich kann nicht oft hierher kommen.« Die Mutter kramte in ihrem alten ledernen Beutel.

Der Mann mit der Schere winkte ab. »Lass. Dafür gibst du kein Geld.«

Wakiya glitt von dem Stuhl wie ein Krieger, der seine Marterschmerzen tapfer bestanden hat und den Pfahl verlassen darf. Er ging zu der Mutter, ohne einen der Männer dabei anzuschauen.

Aber auf einmal schleuderten sich seine Arme und Beine von selbst. Sein ganzer Körper geriet ins Zucken, und er wurde bleich, als ob kein Blut mehr in ihm sei. Die Mutter nahm ihn noch in die Arme, aber auch das nützte nichts mehr. Er schlug um sich … Der Mann hatte seine Schere weggeworfen, schloss die Tür zu und verhängte das Fenster. Die beiden anderen Männer wollten Wakiya festhalten, aber dadurch wurde das Übel nur schlimmer. Sie ließen entsetzt los, als sie Wakiyas unnatürliche Kraft spürten und den Schaum vor seinem Mund sahen. Die Mutter legte das Kind auf den Boden und bettete den Kopf, so weich sie vermochte.

Hilflos und voll Schrecken warteten alle, bis der Anfall der geheimnisvollen Krankheit vorüber war.

Dann nahm die Mutter das kraftlos gewordene Kind auf den Arm und trug es den weiten Weg heim zur Blockhütte. Es war schon düster darin, draußen dämmerte der Himmel der Nacht zu. Die beiden Kleinen aßen hungrig von dem Brot, das die Mutter ihnen aufschnitt.

Wakiya lag erschöpft auf den Decken, und die Mutter hätte am liebsten aufgeheult wie eine Wölfin, denn das graue Antlitz des Kindes glich dem Antlitz des Vaters in jener Stunde, als er starb. Sie konnte das vor sich selbst nicht verbergen.

In ihren Ohren aber klangen noch die Worte nach, die einer der Männer beim Abschied zu ihr gesagt hatte: »Hüte ihn gut, deinen Wakiya, denn ihm ist mehr gegeben, zu leiden und zu wissen, als uns gegeben wurde. Bei ihm sind die Geheimnisse.«

Wakiya erholte sich nur langsam, aber der Tag, an dem er zur Schule gehen musste, rückte immer näher. Eines Mittags kam eine fremde Frau zu der Hütte. Wakiya saß bei der Mutter in der Wiese vor dem Haus und half ihr, Beeren auszulesen. Die fremde Frau war höflich. Sie blieb, wie es sich für einen ungebetenen Gast gehörte, zwanzig Schritte vor der Hütte stehen und grüßte vorsichtig, beinahe zaghaft, ob sie wohl nicht störe. Die Mutter schaute auf, erhob sich aber nicht, sondern erwiderte nur den Gruß, ebenso vorsichtig und noch halb abweisend, da sie die Wünsche dieser Frau, die noch nie hier gewesen war, nicht kannte.

Wakiya warf ein paar schlechte Beeren beiseite und musterte dabei verstohlen die Fremde. Sie war kein Geist, sondern ein Mensch mit Kleidern, wie sie auch die Mutter trug, Bluse und Rock. Aber die Kleider waren nicht geflickt, und die Bluse war weiß, so weiß wie Schnee, der Rock aber blau wie der Himmel, wenn er zu dunkeln beginnt. Zierliche Schuhe trug die Frau, ähnlich wie Mokassins, doch waren sie nicht bestickt. Sie hatte ihre langen, schwarzen Haare in der Mitte gescheitelt und die Zöpfe im Nacken aufgesteckt. Ihre Augen waren groß und hellbraun wie die einer Antilope.

Wakiya hatte nun schon gehört, wie die Frau hieß: Margot Adlergeheimnis.

Sie kam noch ein paar Schritte näher, aber da die Mutter sie nicht einlud, sich zu setzen, blieb sie stehen. Sie erzählte mit einer Stimme, die so sanft war wie der Blick ihrer Antilopenaugen, dass sie selbst auch einen kleinen Sohn habe und dass dieser nun auch in die Schule komme. Wakiya-knaskiya werde in die schöne neue Schule aufgenommen, und dorthin werde auch ihr Junge gehen, David Adlergeheimnis.

Byron Bighorn und David Adlergeheimnis würden wohl in der gleichen Klasse zu lernen beginnen. Sicher würde es ihnen Freude machen zu lernen, da sie beide große, alte, berühmte Namen trügen: Byron den Namen eines Mannes, der zu träumen, zu dichten und zu kämpfen verstand, und David den Namen eines Hirtenjungen, der mit einem kleinen Stein einen Riesen erlegte.

Das Zweite machte Wakiya-knaskiya mehr Eindruck, und er schaute gespannt auf die fremde Frau, ob sie weiter Geschichten erzählen würde.

Aber die Mutter blieb mürrisch. »Der Weg zur neuen Schule ist weit, und Wakiya ist schwach.«

Die fremde Frau seufzte. »In die alte Schule werden keine Kinder mehr aufgenommen, weil sie zu klein und zu schlecht ist.«

Da die Mutter darauf keine Antwort gab, sondern sich wieder ganz ihrer Arbeit zuwandte, nahm Margot Adlergeheimnis Abschied und ging fort. Die Mutter lauschte, bis kein Schritt mehr zu hören war.

»Sie kommt von den Geistern, Wakiya, die uns mit ihren Geheimnissen und Giften gesund machen wollen. Aber dein Vater ist gestorben, und sie haben nichts dagegen vermocht. Als unsere Väter noch Büffelfleisch aßen, Büffelleber und Büffelhirn, wurden sie alt. Seitdem die Geister uns die schlechtesten ihrer Speisen geben, werden wir krank und sterben früh. – Der Mann der Margot Adlergeheimnis trägt den Namen Ed Adlergeheimnis. Er ist nicht in unserem Stamm geboren und lernt auf der hohen Schule der Geister, weit, weit fort von hier. Schau dir David genau an, ehe du mit ihm sprichst. Du hast gehört: Sein Vater ist nicht in unserem Stamm geboren, und er lernt die Worte und Schliche der Geister.«

Die Mutter horchte wieder, und durch die linde Stille der Prärie war von weither ein schwacher, fremdartiger Ton zu hören.

»Das ist ihr Auto. Die Frau des Ed Adlergeheimnis läuft nicht mit ihren Füßen den ganzen weiten Weg zu uns. Es wundert mich, dass sie unsere Hütte überhaupt gefunden hat.«

Die Mutter hatte niemand, mit dem sie sprechen konnte, außer Wakiya. Die Nachbarn wohnten meilenweit entfernt, und gegen Fremde war Eliza Bighorn misstrauisch. Wakiya fühlte das alles, wenn er es auch nicht hätte beschreiben können.