Der siebenstufige Berg

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Als Kinder und Lehrer ihr leeres Geschirr an die Ausgabe zurückbrachten und die Ordner des Tages alle Tische prüften und säuberten, trafen sich die beiden indianischen Erzieher zu einem leisen Gespräch.

»Ich muss Ihnen meine beiden besten Anfänger abgeben«, sagte Ron. »Damit Sie Vorbilder in der Gruppe haben, die Ihre Sitzenbleiber beschämen und anspornen. Die Zwillinge, den Jungen und das Mädchen. Sie haben sie an unserem Tisch gesehen. Snider hat das so bestimmt.«

»Unsinn«, antwortete Hugh. »Typischer Unsinn. Aber wir werden darüber wegkommen.«

Um Rons Mundwinkel spielte Einverständnis. Er öffnete die Lippen noch einmal, als ob er etwas hinzufügen wollte, schloss sie wieder und sprach dann doch, aber mit völlig anderem Tonfall, so dass Hugh aufhorchte.

»Mahan, wir beide sind Indianer, die einzigen Indianer im Kollegium. Snider und Carr werden versuchen, uns mitverantwortlich zu machen, wenn es ausbricht. Ich stamme aus Florida, aber Sie sind hier auf der Reservation geboren, man wird Sie speziell verdächtigen. Passen Sie auf.«

Hugh Mahan hatte seine Augen auch gegen Ron Warrior noch verdeckt wie gegen einen weißen Mann. Er fragte nicht, was »es« bedeuten sollte oder was ausbrechen werde. Aber Ron kannte die Frage, die nicht ausgesprochen wurde. »Ich weiß es auch nicht«, sagte er. »Unter den Schülern geht etwas vor, aber sie verbergen ihr Geheimnis.«

Die Gesprächsmöglichkeit war abgelaufen, abgeschnitten. Sniders Blick hatte die beiden Indianer getroffen. Es war Zeit, die Kinder auf den Vorplatz vor die Schule zu führen, wo sie sich unterhalten und spielen konnten.

Hugh Mahan ging langsam um den Spielplatz herum. Er befand sich in der Lage eines Fisches, der in einem fremden Teich seine Umgebung beobachtet. Er ging um den Platz herum, kam zu dem unnützen Staubecken und umkreiste auch dieses. Der Wasserspiegel war tief gesunken, die Oberfläche mit Grün überzogen; Mücken und Libellen flogen, und das Wasser stank noch, obgleich die Jahreszeit zum Herbst fortgeschritten war. Am Rande des Beckens standen zwei der älteren Schüler, ein Junge und ein Mädchen, sie mochten vierzehn oder fünfzehn Jahre sein. Das Mädchen war zartgliedrig; sie hatte den Kopf tief gesenkt, und der Herbstschatten lag über ihrem Gesicht. Sie stand da wie ein junger Baum, dessen Krone abgebrochen ist und sich nicht mehr zum Licht heben kann. Der Junge neben ihr sagte nichts; auch er rührte sich nicht. Sein Blick hatte sich an der grün überzogenen Wasserfläche festgeheftet, und er musste den üblen Duft des Wassers riechen, das sich selbst zum Ekel war. Lang aufgeschossen, etwas gebückt war seine Gestalt; seine Züge waren die eines grübelnden und stark empfindenden jungen Menschen; er musste schon mehr erfahren und gedacht haben als andere.

Die Klingel schrillte zum Beginn des Nachmittagsunterrichts. Mahans Zöglinge fanden sich zusammen. Der große Junge und das Mädchen kamen vom Staubecken herbei und gesellten sich zu ihrer Klasse. Der Klassenlehrer war ein weißer Mann, aber er schalt die beiden nicht, dass sie langsam gewesen waren. Hugh hatte das Gesicht des Jungen und das des Mädchens noch einmal gesehen. Er konnte die beiden bis in die Nacht hinein nicht vergessen. Die beiden Gesichter begleiteten ihn wie Gesichte, während er mit seinen vierzehn Kindern sanft sprach und ihnen Buchstaben und Worte an die Tafel schrieb; die Gesichter begleiteten ihn, als er nach dem Unterricht mit den Jungen und Mädchen des Internats Basketball spielte; sie ließen ihn des Nachts nicht los, als er auf seiner Matratze lag, allein im schmucklosen Viererzimmer. Wie ein Nebelbild stand hinter dem von Grübeln gezeichneten Jungengesicht das verschattete Gesicht des Mädchens.

Hugh Mahan war übermüdet. Nach seiner schweren Krankheit waren seine Kräfte noch nicht wieder unerschöpflich wie ehemals.

Er schlief spät ein. Ein Gedanke ließ ihn auch in seinen Träumen nicht los. Wann würde das Geheimnis der Jungen und Mädchen, von dem Ron gesprochen hatte, aus ihnen herausbrechen?

In den folgenden Tagen geschah nichts Auffälliges.

Eines Freitagabends erhielt Hugh in seinem Schlafraum Besuch. Er hatte niemanden erwartet und war beim Lesen und Arbeiten. Seine Bücher und Notizen lagen auf dem zweiten unteren Bett, da er weder einen eigenen Tisch noch einen eigenen Stuhl besaß, und er hatte vor dem zum Arbeitstisch gemachten Nachbarbett gekniet, um seine Zettel zu ordnen. Als der Besuch eingetreten war und Hugh aufstand, erkannte er den Lehrer Ball, den er beim Pausendienst gesehen hatte und aus den Besprechungen des Lehrerkollegiums flüchtig kannte. Es war der Klassenlehrer des großen Jungen und des Mädchens, die Hugh nicht aus dem Sinn gehen wollten.

»Äußerst bequem haben Sie es hier nicht, Mahan«, sagte Ball geradeheraus. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«

»Bitte.«

»Ich bin eingefleischter Junggeselle und bewohne trotzdem ein ganzes Lehrerhaus für mich allein, seit mein Kollege Teacock vor Jahren gehen musste. Wollen Sie zu mir ziehen?«

Mahan antwortete nicht gleich.

»Wenn Sie Rektor Snider meinen Vorschlag mitteilen und ihn bitten, wird er sicher zustimmen.«

»Ich bitte nicht.«

»Gut, dann bitte ich für Sie, und Sie folgen der neuen Anweisung. Okay?«

»Ich habe als Indianer gelernt, dass ich zu gehorchen und mich dem Willen der weißen Männer anzupassen habe.«

»Also sage ich nichts zu Snider. Sind Sie nicht der Vetter von Joe King?«

»Ja.«

Hughs Ton wurde ganz abweisend.

»Die Ähnlichkeit ist frappierend. Joe war einmal mein Schüler. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

Lehrer Ball verließ den Raum. Zwischen Tür und Angel bot er Hugh noch an, dass er jederzeit seine Bibliothek benutzen und bei ihm arbeiten könne. Hugh nickte und kniete sich wieder vor das Bett, um seine Zettel in die gewünschte Ordnung zu bringen. Er hatte ein Buch über Soziologie gelesen und viele Fragen notiert, die der weiße Mann nicht aufgeworfen hatte und daher auch nicht beantwortete. Was sollte werden, wenn die Herde der Watschitschun alles abgegrast und mit ihren Giften verwüstet hatte und wenn sie in ihren Städten zusammenhockten, das weite Land aber, das sie den Indianern geraubt hatten, nicht mehr bewohnt wurde?

Hugh Mahan hatte die Prärie nie vergessen, und er hatte Chicago kennengelernt.

Es mochte nun sein, dass Ball, Senior der Lehrerschaft, doch bei Rektor Snider für Mahan etwas unternommen hatte oder dass andere auf den Gedanken gekommen waren, Mahan aus dem Schülerinternat herauszunehmen. Jedenfalls sprach Miss Hay ihren Kollegen nach der nächsten Lehrerkonferenz an: »Sie sind schlecht untergebracht, Mahan. Mr Ball bewohnt ein halbleeres Haus. Sollten Sie nicht zu ihm hinüberziehen? Schließlich gehören Sie als Erzieher zu uns Lehrern, nicht zu den Schülern.«

Mahan hätte erwidern können: »Indianer gehören immer zusammen!« aber er wusste wohl, warum er diese Antwort nicht gab. Er sagte: »Indianer bleiben immer die Schüler der Weißen. Denken Sie nicht?«

Miss Hay war verblüfft und nicht schlagfertig. Sie spann nur weiter aus: »Ein gutes Haus oder Apartment gehört nun einmal zur Autorität. Sie sind zu schlecht untergebracht, Mahan.«

»Ah, das interessiert Sie.«

Mahans Worte hatten den Klang einer Pistole mit Schalldämpfer angenommen; sie waren schnell, feindselig, abgeschirmt gesprochen, und sie hatten getroffen.

Miss Hay wurde unter ihrer durchsichtigen Haut rot bis in die Augenlider und zum Ansatz der braunroten Locken. Sie wandte sich um und ging weg.

Das eben hatte Hugh erreichen wollen.

Er ertrug es nicht, sie über seine Angelegenheiten reden zu hören.

Um eben diese Zeit erhielt Miss Bilkins einen ersten Bericht über Hugh Mahan. Sie erfuhr, dass man über seine Arbeit mit den rückversetzten Grundschülern und den Zwillingen King sowie über seine Arbeit beim Nachmittagssport bis jetzt nichts Nachteiliges sagen könne, dass er jedoch im Kollegenkreise ein Fremdkörper geblieben und kaum ansprechbar sei. Das müsse sich unbedingt ändern.

Wieder einmal hatte ein Schultag begonnen. Es war zehn Uhr morgens. Die von allen gefürchtete Inspektion durch die Schulrätin des Bezirksbüros stand bevor. Hugh war damit beschäftigt, seinen Zöglingen das Gelöbnis zu Flagge und Regierung beizubringen, das jedes Kind, daher auch jedes Indianerkind, auswendig können musste. Ihrem sonstigen Verhalten zu ihrem Erzieher entgegengesetzt, blieben die Kinder dabei zerstreut, interesselos, widerspenstig; hin und wieder legte eines die Hände über die Augen, als wolle es seine weglaufenden Gedanken verbergen. Es gelang Hugh nicht, die Aufmerksamkeit der Kinder auf die Tafel zu konzentrieren, auf der er die ersten beiden Zeilen des langen Gelöbnisses in großen Buchstaben angeschrieben hatte. Auch die Zwillinge, Harry und Mary King, die sich zwar immer unwissend gestellt hatten, um ihre Mitschüler nicht zu beschämen, aber auch immer ruhig und gehorsam gewesen waren, verhielten sich in dieser Stunde disziplinlos. Sie standen nicht gerade, und sie legten die rechte Hand nicht aufs Herz, wie es beim Aufsagen des Gelöbnisses vorgeschrieben war. Hugh erinnerte sich nur allzu gut seiner eigenen Schwierigkeiten als Kind. Zwei Jahre lang hatte er sich geweigert aufzusagen: »I pledge allegiance …« Die Lehrer hatten ihn schwer bestraft. Er war damals in ein altes Internat gebracht worden, in dem die ursprüngliche grausame Zucht gegen Indianerkinder noch nicht abgebaut war. Die Erzieher hatten ihn an den geheizten, eisernen Ofen gedrängt, bis er Brandwunden davontrug; sie hatten ihm einen Gummistrumpf über das Gesicht gezogen, so dass er kaum mehr zu atmen vermochte, und sie hatten ihn vor den anderen Schülern mit dem großen Stock geprügelt. Wochenlang hatte ihn der Rücken geschmerzt. Hugh hatte nie aufgeschrien und nicht geweint. Diese Genugtuung, die die Lehrer erstrebten, sollten sie nicht haben. Aber der Hass und die Verzweiflung hatten so in ihm gezittert, dass auch seine Hand beim Schreiben zitterte. Er konnte von Glück sagen, dass er noch seine beiden Ohren besaß; es hatte nicht viel gefehlt, dass ihm das eine abgerissen worden wäre, denn ein Lehrer liebte es, daran zu reißen, und er hatte kräftige Hände; in seinem Griff wohnte mehr Kraft als Vernunft in seinem Gehirn. Nach zwei Jahren war es geschafft gewesen; Hugh Mahan hatte gerade gestanden, die Hand aufs Herz gelegt und gesagt: »I pledge allegiance …«, aber wem er dabei in Wahrheit Treue gelobte, das wussten die Lehrer nicht.

 

Jetzt stand er da, um seine Zöglinge dazu zu bringen, dass sie sich unterwarfen und gelobten. Sein Gesicht hatte in dieser Stunde noch schärfere Züge angenommen, und er glühte, vielleicht vor heißer Scham. Aber zäh und leise wiederholte er: »I pledge allegiance und dazu die Erläuterung, die die Schulverwaltung hatte drucken lassen: »I promise to be true …« Das letzte sagten die Kinder, aber weiter kamen sie nicht.

Vor der Tür waren Stimmen zu hören. Hugh Mahan war auf das Versagen der Kinder und eine böse Kritik der Schulrätin gefasst. Es war ihm in diesem Augenblick unglaublich gleichgültig, was geschehen würde, sofern es ihn selbst betraf. Er konnte in der Hütte der Mutter von Arbeitslosenunterstützung leben oder trampen gehen, wenn ihn die Schulverwaltung nicht mehr haben wollte. Nur um die Kinder, die wie Sklaven ausgeliefert waren, würde es ihm leid sein.

Die Tür öffnete sich. Lehrer Ball und die Schulrätin erschienen. Hugh teilte die Menschen gern nach Tierarten ein. Die Schulrätin erschien ihm als eine bejahrte Ziege, die keine Milch mehr gab und zu stoßen gewohnt war, also schlachtreif; Ball, einem Kragenbären ähnlich, war ungleich sympathischer.

Der Erzieher Mahan wurde aufgefordert, seine Zöglinge das Gelöbnis aufsagen zu lassen; genau das hatte er mit einem fünfzehn Jahre hindurch entwickelten und untrüglich gewordenen Instinkt erwartet.

»I promise to be true …« Der Chor der sechzehn klang bei diesem Satz sicher und laut. Die Stimmen der Zwillinge führten. In der dann eintretenden gefährlichen Kunstpause erschien überraschend Rektor Snider. Es machte den Eindruck, dass seine kurzgeschnittenen braunen Haare gerade in die Höhe standen wie gesträubte Federn.

Der Chor der sechzehn blieb endgültig stumm, ohne dass jemand hiervon Notiz nahm. Die Aufmerksamkeit der bejahrten Ziege hatte sich dem Rektor zugewandt.

Snider bat um Verzeihung, dass er Unterricht und Inspektion störe. Ein furchtbarer Vorfall ereignete sich soeben in der neunten Klasse. Der Schüler Byron Bighorn habe einen schweren epileptischen Anfall, die Mitschüler seien von Entsetzen wie gelähmt, der Lehrer hilflos. Byron müsse sofort weggebracht werden, nach Hause oder am besten gleich in das Hospital.

»Haben Sie keine Schulschwester hier?« fragte die Rätin scharf.

»Sie kommt jede Woche einmal, Mrs …«

»Wer ist verantwortlich für erste Hilfe?«

»Miss Hay, aber in einem solchen Falle ist sie verständlicherweise hilflos. Ich bitte um Verzeihung …« Rektor Snider schien der Kragen zu eng zu werden. »Wir müssen sofort … es muss sofort …«

»Allerdings«, sagte die Rätin.

»Mahan, können Sie fahren?«

»Ja.«

»Ich gebe Ihnen meinen Dienstwagen. Bringen Sie den Schüler sofort weg. Sie sprechen seine Muttersprache …«

»Oh«, unterbrach die Rätin, da sie einen weiteren tadelnswerten Punkt gefunden hatte. Aber mehr wagte sie in der gegebenen Situation nicht zu sagen.

Snider schien zu erregt. »Also, Mahan, gehen Sie sofort hin. Vielleicht können Sie erfahren, was den Jungen so außer sich gebracht hat; er hatte früher eine Epilepsie, die aber überwunden schien … Nun dies … Die ganze Klasse war heute von Anfang an nicht recht bei sich … Also bitte. Sie gestatten, Mrs …«

»Ich gestatte.«

»Es ist klar, dass die Anfänger hier gut gelernt haben«, sagte Lehrer Ball bestimmend und abschließend. »Sie haben versprochen, treu zu sein.«

Die Suggestion gelang. Der erste Satz, im Chor laut und sicher gesprochen, befriedigte die Schulrätin nachträglich. Ihr Besuch in der Gruppe war beendet, und Mahan ordnete noch an, dass die sechzehn hinüber zu Ron Warriors Gruppe gehen sollten, bis er selbst zurückkäme.

Als er das Schulzimmer der neunten Klasse betrat, waren nicht nur Rätin oder Rektor für ihn vergessen, sondern auch die anwesende nervös erschöpfte Miss Hay, deren Gesicht dick angeschwollen war wie von einem Faustschlag und sich grün und blau zu färben begann. Er vergaß die stumm entsetzten Schüler, auch das Mädchen, das mit weit geöffneten Augen und zitternden Lippen unter ihnen stand. Es kam ihm gar nicht zum Bewusstsein, dass der Klassenlehrer nicht anwesend war. Hugh sah nur noch den hageren Vierzehnjährigen, der am Boden lag, aschgrau im Gesicht trotz der braunen Haut, Schaum vor dem Mund, Schweiß an den Schläfen und am Hals, mit der erschreckenden Kraft des Kranken um sich schlagend. Wahrscheinlich hatte Miss Hay vergeblich versucht, ihn festzuhalten, und dabei einen argen Schlag abbekommen.

Da es im Klassenzimmer nichts anderes Brauchbares gab, riss Mahan seine Weste und sein Hemd herunter und bettete den Kopf des Jungen darauf, der durch das fortwährende harte Aufschlagen auf den Boden gefährdet war.

»Bringen Sie die Schüler hinaus!« befahl er seiner Kollegin Hay, und sie rührte sich aus der Starre und tat, was er gesagt hatte.

Mahan blieb mit Byron Bighorn allein. Der Anfall lief ab; es war unmöglich, etwas anderes zu tun, als zu warten. Als der Kranke wieder ruhig wurde, lag er da wie tot. Hugh wischte ihm vorsichtig den Schaum vom Mund, den Schweiß von Stirn, Hals und Handflächen, und als der Junge sich schließlich rührte und wieder einen Ausdruck des Verständnisses für seine Umgebung annahm, ließ Hugh ihn seinen Augen begegnen. Byron schaute ihn lange an.

»Sie sind das.«

»Willst du heim?« Hugh fragte in der Muttersprache.

Die Gedanken des Jungen arbeiteten lange, vielleicht langsam.

»Nicht fahren, das Fahren ist ganz schlecht. Schwindlig. Hier schlafen. Gleich.« Auch er benutzte seine Stammessprache. Seine Stimme war schon tief.

Der Puls ging sehr schwach.

»Ich bringe dich in mein Zimmer, Byron. Da hast du Ruhe.«

Der Junge nickte.

Hugh überlegte. Es war möglich, dass der Junge durch das Aufschlagen des Hinterkopfes eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte, dann war jedes Bewegen gefährlich. Er bedeutete Byron, sich still zu verhalten, und holte Miss Hay, so übel sie auch zugerichtet war. Die beiden gingen zusammen in das Krankenzimmer, um die Trage zu holen. Sie fanden in dem mit einer Liege und einer Notapotheke ausgestatteten Raum den Klassenlehrer, der das Frühstück erbrochen hatte; er hatte den Anblick des Epileptischen nicht ertragen können.

»Legen Sie sich hin«, sagte Miss Hay mit rauher Stimme. »Das wird von selbst besser.«

Sie half dann Mahan, den Kranken in Hughs eigenes Zimmer zu tragen. Er legte ihn vorsichtig auf sein Bett und wies seine Kollegin an, Mr Ball Bescheid zu geben, dass der Kranke nicht transportfähig sei und der Arzt des Krankenhauses verständigt werden müsse.

»Vergessen Sie Ihr Hemd und Ihre Weste im Klassenzimmer nicht«, erinnerte Miss Hay im Gehen. Sie sprach undeutlich zwischen geschwollenen Lippen.

»Ich hole nachher meine Sachen. Die Indianerkinder sind diebisch, nicht wahr? Sie haben Ihre Instruktionen gut im Kopf, Miss Hay.«

Die junge Lehrerin wollte einen wütenden Blick mit Mahan kreuzen, aber er gab seine Augen für sie nicht frei. Hugh Mahan blieb am Bett des Kranken sitzen. Jedermann in der Lehrerschaft war froh, dass er diese Aufgabe übernahm, während die Rätin ihre kritische Inspektion fortsetzte. Byron wollte nichts essen, und auch Hugh verspürte keinen Hunger. Nach einiger Zeit begann der Kranke zu sprechen, immer in seiner Muttersprache, die in diesem Haus verboten war.

»Wenn Mary und Harry heimkommen, erzählen sie meinem Pflegevater und meiner Pflegemutter, dass ich hier bin. Einer von den beiden kommt dann.«

»Gewiss.«

»Mein wahrer Name ist Wakiya-knaskiya. Wie heißt du?«

»Wasescha.«

»Das ist gut. Bleibe ich heute nacht bei dir?«

»Wenn der Arzt nicht vorher kommt und dich wegholt.«

»Doc Eivie ist gut. Wenn ich will, lässt er mich noch hier.«

»Du kennst ihn?«

»Schon lange.«

Mahan ging und holte sich seine Sachen, die an einen der Garderobenhaken der neunten Klasse gehängt worden waren, zupfte Hemd und Weste sehr genau zurecht und meldete sich im Direktionssekretariat. Die Sekretärin, eine Weiße, war von der Superintendentur an die Schule versetzt worden, da Mr Carr eine ihm bekannte neue Sekretärin angefordert hatte. Die gewandte und korrekte junge Frau hatte bereits mit Eivie telefoniert. Er hatte strikte Ruhe angeordnet und wollte gegen Abend des nächsten Tages selbst kommen. Als Byron durch Hugh davon erfuhr, legte sich ein ungewöhnlicher Ausdruck des Friedens über sein Gesicht.

»Ich werde also morgen hier sein, wenn sie es tut. Wasescha, du sollst mir helfen. Ich muss Patricia Bighorn sprechen – Tishunka-wasit-win.«

Mahan sagte zu. »Ich versuche es. Ehe sie heute nachmittag heimfährt.«

Hugh hatte lange genug im Internat gelebt, um zu wissen, wie man etwas einrichtet, was nicht jedermann zu erfahren braucht. Um vier Uhr kam Patricia Bighorn, mit ihrem wahren Namen Tishunka-wasit-win genannt. Es fiel Hugh auf, dass das Mädchen anders als an anderen Tagen gekleidet war. Sie trug das dichte schwarze Haar nicht in Zöpfen, sondern offen, so dass es bis über die Schultern fiel. Ihr schlichtes Kleid war in seinem Schnitt altindianischer Kleidung ähnlich; um den Hals hatte sie eine Kette mit dem Zeichen des achtzackigen Sterns gelegt.

Mahan ließ sie allein mit Byron Wakiya.

Sie kam bald von selbst wieder zu Hugh, der gesagt hatte, dass er bei Lehrer Ball in dessen Bibliothek zu finden sei. Der ungewöhnliche Friede, der über Byrons Zügen nach dem Anfall lag, hatte sich auch über die ihren gebreitet. Mahan packte ein Gefühl, als ob sich etwas zwischen ihn und diese jungen Menschen gelegt habe, breit wie ein Strom, unüberschreitbar. Auch Ball schien tief berührt, als das Mädchen wieder ging. Er schaute noch lange nach der Tür, als sie sich hinter Patricia schon wieder geschlossen hatte. Doch störte er Hugh mit keiner Frage, als dieser sich stumm über die Bücher beugte, die zu lesen und zu vergleichen er sich vorgenommen hatte. Als sich Hugh aber nach einer Stunde verabschiedete, um wieder bei dem Kranken Wache zu halten, sagte der Lehrer: »Es ist irgendetwas da unter den Kindern, was wir nicht wissen. Ich spüre es heute wie fremde Luft, die sich aber mit Händen nicht greifen, mit Ohren nicht hören und mit Augen nicht sehen lässt.«

Hugh Mahan zuckte die Achseln. Er hatte Angst um Byron und Patricia.

»Dringen eigentlich irgendwelche Informationen aus der Außenwelt bis zu Ihnen?« fragte Ball.

»Warum fragen Sie?«

»Sie haben recht, ich könnte es mir denken. Der Essenfahrer, der Begleitfahrer, der Friseur, die Köchin und die Küchenhilfe, die Internatsschüler, von da zu dem Sportlehrer Mahan. Sie wissen also auch, dass die Büffelranch der Kings aufgelöst werden soll? Carr ist wahnsinnig. Sie haben nicht erlebt, wie das war, als die Büffel wiederkamen … Ein Büffel hier ist für den Indianer eben mehr als einige Zentner Fleisch und eine im Handel neuerdings wieder gesuchte Haut.«

»Ja, Mr Ball, ich weiß.«

Der Lehrer stützte den Kopf in die Hände.

Als Mahan in sein eigenes Zimmer zurückkam, lag Byron Wakiya unverändert ruhig, lang ausgestreckt auf dem Bett. Hugh setzte sich auf das Nachbarbett und ordnete seine neuen Zettel ein.

»Tishunka war da«, sagte der Junge. »Es ist nun alles gut so.«

»Ist es gut, Wakiya-knaskiya?«

»Es ist wirklich gut, Wasescha. Wenn es einen Kampf gibt, muss einer vorangehen, gerade durch. Ich habe gesprochen.« Hugh Wasescha fragte nicht weiter. Er hätte auch keine weitere Antwort erhalten.

Man holte ihn zum Sport mit den Internatsschülern. Sie wollten heute nicht Kurzstreckenlauf üben, sondern Hockey spielen. Hugh gab nach.

Die Schüler spielten mit ungewohnter Heftigkeit, mit schrillen Rufen, harten Schlägen, als ob es um Leben und Tod gehe, wie einst bei den Spielen ihrer Vorfahren. Auch als das Spiel geendet hatte, blieben sie erregt. Aber sie sprachen sich nicht aus; sie sprachen nicht einmal untereinander.

 

Nach dem Abendessen im Internat, um acht Uhr, kam Byrons Pflegevater Joe King. Das graue Sportcabriolet auf dem Vorplatz der Schule war in der Herbstnacht kaum zu sehen, und es war fast ohne Geräusch herangefahren. King hatte sich bei der Abendwache des Internats angemeldet; er suchte seinen Pflegesohn und Mahan in dessen Zimmer auf.

Die Begegnung der beiden jungen Männer war befangen und seltsam. Jeder erkannte in dem anderen das eigene Spiegelbild, und so unzufrieden, wie der Mensch mit seinem Spiegelbild sein kann, mochte einer mit dem andern sein, aber vielleicht fühlten sie sich auch plötzlich als ein und derselbe mit zwei Gesichtern, zum gleichen Punkt gekommen auf ganz verschiedenen Wegen. Sie mussten Zeit gewinnen, um den andern, sich selbst im andern oder den andern in sich selbst zu erkennen.

Doch die Zeit drängte. Die Indianer wussten es, aber niemand konnte es ihnen anmerken. Der junge Vater saß am Bett seines Pflegesohnes, der sein jüngerer Bruder hätte sein können. Er legte ihm die Hand sacht auf die Schulter. Hugh Mahan fand einen Grund, um die beiden allein zu lassen. Während er im Internat noch ein paar Runden Tischtennis mitspielte, ließ er alte Daten und Erinnerungen vor sich aufziehen, um sie zu prüfen. Joe King war sein Vetter. Als Hugh ein Kind war, hatte er an einem Zeltabend gehört, dass seiner Mutter Bruder, der alte King, zu viel des Geheimniswassers trank, um immerzu und immer bunter träumen zu können, und dass niemand in seine Hütte gehen solle. Hetkala war traurig gewesen, aber sie hatte gehorcht. In späteren Jahren hatte Mahan in der Zeitung von seinem Vetter Joe gelesen; bald war er ein Gangster, bald ein Scout, bald ein Rodeo-Sieger in Calgary. Es musste viel vorgegangen sein in siebzehn Jahren. Mahan begab sich in sein Zimmer zurück; vielleicht hatte King ihm noch etwas aufzutragen. Er fand Pflegevater und Sohn noch in einem langsam und leise geführten Gespräch. King winkte ihm zu bleiben.

»Vater«, fragte der Junge, »darf ich eure Namen sagen?«

»Sage sie.«

»Hugh Wasescha Mahan und Joe Inya-he-yukan King.«

Hugh und Joe verdeckten noch immer ihre Augen voreinander.

»Vater, ich weiß, dass sie unsere Büffel wegnehmen und dich zwingen wollen, sie an einen weißen Mann zu verkaufen. Du hast die Büffel aber selbst gekauft und gebändigt, und es war ein Fest für unseren ganzen Stamm. Wirst du nun vor Gericht gehen? Was hast du dir heute dazu gedacht?«

»Vor einem weißen Gericht bekommt ein roter Mann nicht sein Recht.«

»Das glaube ich dir.«

Wakiya machte eine lange Pause, und Joe Inya-he-yukan nahm sich Zeit für das gemeinsame Schweigen.

»Wem wirst du sie geben?« forschte Wakiya dann weiter.

»Der Ranch gebe ich sie, von der ich sie gekauft habe. Sie hüten sie für mich, bis wir die Zeiten ändern, und ich zahle ihnen mit Kälbern.« Joe Inya-he-yukan hatte nicht gesagt »bis sich die Zeiten ändern«, sondern »bis wir die Zeiten ändern«.

»Du bist nicht nur ein Adler, Inya-he-yukan, du bist auch ein Fuchs. Aber wir stehen dennoch in einer großen Niederlage. Unser Chief President Jimmy White Horse ist von den Watschitschun bestochen. Wir haben weiße Richter bekommen und einen weißen Polizeichef. Crazy Eagle ist ausgeschaltet. Die Schulranch, für die du gekämpft hast, ist aufgelöst. Tom und Percival kämpfen mit in einem Kampf der weißen Männer, der nicht gerecht ist. Bob sitzt im Gefängnis. Sie haben die Hand an unserer Gurgel.«

»Wir haben noch viele Tage vor uns, Wakiya, uns miteinander über alles zu beraten, was geschehen muss.«

»Was können sie gegen unsere Büffel sagen?«

»Dass ein Bulle Mary Booth getötet hat, das weißt du, dass sie einmal auf die Nachbarweiden ausgebrochen sind und dass sich jetzt ein Bulle vor den Wagen des Superintendenten gestellt hat. Dass ich nur einen einzigen Cowboy habe, der ein rechter Buffalo-Boy ist – Robert –, und dass sie auch ihn bald zu den Soldaten oder ins Gefängnis holen wollen. Zum Büffelhüten braucht man aber erfahrene und entschlossene Leute. Das kann nicht jeder.«

»So ist das.«

»Schlafe dennoch ruhig, Wakiya.«

Wakiya-knaskiya hob seine Hand von der des Vaters, legte sie aufs Herz und schloss die Augen. Es konnte eine Gebärde der Müdigkeit und des Einschlafens sein, eine Gebärde des Vertrauens oder des Verzichts, eine Gebärde der Entfernung von allen anderen, selbst vom Vater.

Hugh Wasescha erkannte, wie das Unüberschreitbare breiter wurde und der Blick nicht mehr hinüberreichte.

Mahan begleitete Joe King noch bis zu dessen Wagen. Kings Miene veränderte sich, als er den Kranken und das Zimmer verlassen hatte.

»Der Vertrag«, sagte er im Gehen plötzlich zu Mahan, »der Vertrag mit der Büffelranch, von dem ich gesprochen habe, liegt bei Carr. ›Zur Kenntnisnahme‹ habe ich geschrieben. Carr wird sagen: ›zur Genehmigung‹. Ich weiß nicht, was geschieht, wenn er Nein sagt und sein Nein auch durchsetzen will.«

King sprang in den grauen Sportwagen und ging sofort auf hohe Geschwindigkeit.

Mahan kehrte in sein Zimmer zurück. Wakiya schien eingeschlafen zu sein, sein Atem ging ruhig. Hugh hatte nicht daran gedacht, sich Bettzeug für die zweite Lagerstatt zu holen, aber irgendjemand hatte es ihm hingelegt, während er King begleitete, wahrscheinlich die alte Hausbesorgerin im Internat. Sie kam aus einem anderen Stamm, so war gesichert, dass sie mit den Schülern nur Englisch sprach. Hugh machte das zweite Bett zurecht.

Die Nacht verlief ungestört. Der Morgen kam, mit ihm der neue Schultag.

Hugh erwartete, dass Byron Wakiya noch einmal nach Patricia fragen oder dass sie von selbst noch einmal kommen würde. Aber das geschah nicht. Hugh ging auf den Vorplatz, um seine sechzehn Vorschüler am Schulbus zu begrüßen. Die Zwillinge wirkten heute über ihr Alter hinaus ernst. Tishunka-wasit-win ging mit Schülern ihrer Klasse zum Schulhaus, ohne sich nach Hugh umzusehen.

Die Unterrichtsstunden begannen. Mahan wählte heute ein anderes Thema, ein einfaches Kindergedicht. Er hatte das Gefühl, dass er an den Worten des Treuegelöbnisses zu Flagge und Regierung schlechthin hätte ersticken müssen.

Nach dem Mittagessen hatte er Dienst auf dem Spielplatz vor der Schule. Er ging zu dem Staubecken und hielt von dort aus Umschau. Es fiel ihm ein, dass er Byron und Patricia an dieser Stelle zum ersten Mal gesehen hatte. Jetzt beobachtete er, wie das Mädchen sich – absichtlich oder absichtslos? – von den anderen Schülern ein Stück entfernte und in Richtung des Staubeckens und der dahinter vorbeiführenden Straße schlenderte. Sie wollte wohl mit ihren Gedanken allein sein.

Tishunka-wasit-win gelangte bis zum Straßenrand, dort machte sie Halt. Die Schüler sollten auf dem Vorplatz bleiben und nicht zur Straße gehen. Mahan wusste, dass er Patricia zurückzurufen oder zurückzuholen hatte. Er zögerte, sie wie ein Kleinkind zu behandeln. Die Mittagspause dauerte nur noch fünf Minuten; Patricia musste auf alle Fälle von selbst bald kehrtmachen. Auf dem Spielplatz fand sich unterdessen eine Gruppe zusammen. Hanska, der dreizehnjährige Bruder Wakiyas, bildete den Mittelpunkt. Mahan wusste nun schon, dass dieser Junge der beste Turner der Schule war, ein sehr guter Reiter und eine Hoffnung des Sports. Bei ihm standen die Zwillinge und vier der Internatsschüler. Die Gruppe schaute unauffällig zu Patricia hinüber.

Mahan hatte die Aufsicht zusammen mit jenem jungen, blassen und körperlich nicht kräftigen Lehrer, dessen Nerven angesichts des Epilepsie-Anfalls in seiner Klasse versagt hatten. Er stand jetzt am Schultor und begann schon, die Kinder darauf aufmerksam zu machen, dass sie ihre Spiele abbrechen sollten. Es blieben noch zwei Minuten bis zum Beginn des Nachmittagsunterrichts.