Geschwistermörder

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Kapitel 2: Gefangen

Als wir zu Hause ankamen, spürte ich sofort, wie sehr ich Franziska vermisste. Ich mochte sie wirklich. Nein, das ist untertrieben: Ich war ernsthaft in sie verknallt. Ich wollte zunächst niemandem davon erzählen, schon gar nicht meinen Freunden, denn die würden das nicht verstehen und bestimmt lachen. Doch ich bezweifelte, dass ich es länger geheim halten konnte, weil man Franziska und mich häufig zusammen in der Schule sah und wir heute unser erstes Treffen vereinbart hatten ... oder vielmehr ein Date. Ich hoffte zumindest, dass Franziska es als Date sah und nicht nur ich das Gefühl hatte, es so nennen zu dürfen. Ich hatte nämlich ein bisschen Angst, dass es für sie nur ein Treffen mit einem guten Schulfreund war. Dagegen sprach allerdings, dass sie mich als süß bezeichnet hatte. Wie cool war das denn?

Mama riss mich aus meinen Gedanken. „Es gibt Essen!“, rief sie von unten.

Ich hatte vor meinem Kleiderschrank gestanden und überlegt, was ich heute anziehen sollte. Draußen war es wirklich warm, wir hatten um die 28 Grad. Perfekt zum Eisessen. Also hatte ich mich für eine kurze Jeanshose und ein rot kariertes Hemd entschieden. Für Franziska musste ich mich schließlich ein bisschen schick machen. Zuletzt legte ich erneut an diesem Tag Deo auf und steckte mein Portemonnaie ein, denn ich würde Franziska natürlich einladen und das Eis bezahlen.

Als meine Mutter zum zweiten Mal rief, verdrehte ich die Augen und rannte schnell die Treppe hinunter in die Küche. Dort setzte ich mich mit Mama und meiner Schwester an den Tisch. Papa war noch auf der Arbeit. Hungrig begann ich als Erster zu essen und beobachtete, wie Mama und Lorena auf ihre Teller starrten, als würden sie sie gleich ins Gesicht beißen. Dann veränderten sich ihre Gesichtszüge. Vielleicht dachten sie, dass sie ihre Mahlzeit zuerst essen müssten, bevor diese es mit ihnen tun würde.

„Ich fahre später mit dem Rad in die Stadt.“ Ich hatte erst gar nicht versucht, es als Frage zu formulieren, da ich Mamas Antwort schon erahnen konnte.

„Aber nicht alleine.“ Das hatte sie so schnell gesagt, dass sie aufpassen musste, dass ihr die Nudeln nicht aus dem Mund fielen.

Ich seufzte, denn ich hatte gewusst, dass das kommen würde.

„Es sind fünfzehn Minuten bis in die Stadt“, versuchte Lorena mich zu retten. „Und mit dem Rad vielleicht fünf. Außerdem kennst du Davids Fahrstil, er bräuchte bestimmt nur zwei Minuten.“ Sie hatte schließlich mitbekommen, warum ich in die Stadt wollte.

Mama erzählte ich lieber nichts davon, es war mir etwas peinlich, ihr zu sagen, dass ich mich mit einem Mädchen treffen wollte. Sie hätte mich vor Freude vermutlich halb erdrückt und mit einer quietschenden Stimme peinliche Bemerkungen gemacht.

Mit einem Siehst-du-Blick schaute ich Mama an und fügte hinzu: „Wir können uns nicht ewig verstecken. Letzte Woche bin ich sogar alleine bis zu Nico gefahren.“

„Was?“ Jetzt wurde Mama hysterisch. Das hatte sie nicht gewusst. Aber ich musste es ihr erzählen, sonst würde sie nicht zulassen, dass ich heute rausging. „David“, sagte sie vorwurfsvoll. „Warum hast du das gemacht?“

Lorena zog den Kopf ein, als wollte sie sich wie eine Schildkröte in ihrem Panzer verstecken, weil sie es als Einzige gewusst hatte.

„Es ist nichts passiert.“ Natürlich war das nicht die Antwort auf Mamas Frage, aber was hätte ich sagen sollen?

„Hätte es aber.“ Eingeschnappt wie ein kleines Kind blickte Mama auf ihren Teller, ohne aufzusehen oder ein Wort zu sagen.

„Also kann ich jetzt fahren oder nicht?“, hakte ich nach.

„Warum holen dich deine Freunde nicht einfach ab?“ Sie ging davon aus, dass ich mich mit Nico und den anderen Jungs treffen wollte, wie ich es jede Woche tat. Oft gingen wir zu den Skateboard-Rampen in der Nähe eines Spielplatzes, um mit unseren BMX-Rädern Tricks auszuprobieren.

„Weil ich kein Baby bin, Mama.“ Ich funkelte sie an. Sie schaute nur böse zurück und sagte kein Wort.

Jetzt war ich richtig sauer, weil Mama nicht mehr mit mir redete, ich daran schuld war und ich mich fragte, warum gerade in unserer Stadt vier Menschen hatten verschwinden müssen. Wäre das nicht passiert, müssten wir uns nicht jeden Tag seit vier Wochen streiten, wer mit wem wann aus dem Haus ging. Wütend stand ich auf und rannte zur Garage.

„David“, rief Lorena mir nach. Ihre Stimme klang beinahe verzweifelt. „Bitte bleib hier!“ Ich hörte, wie sie aufstand, um mir zu folgen. Und ich wusste in diesem Moment nicht, wie ernst sie das meinte. Weil sie im Gefühl hatte, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich hatte keine Ahnung, dass meiner Schwester Tränen in die Augen traten. Dass sie sich gerade fragte, warum sie mich verteidigt hatte, um allein rauszudürfen. Erst jetzt verstand sie, dass das hier ein großer Fehler war.

Doch bevor sie mich erreichen konnte, schnappte ich mir mein BMX-Rad und raste davon. Ich bemerkte gar nicht, dass Lorena, so schnell sie konnte, noch ein ganzes Stück hinter mir her rannte, bis sie mich nicht mehr sehen konnte und aufgab.

Es tat wirklich gut, Frust abzubauen, indem ich im Stehen doppelt so schnell wie sonst in die Pedale trat. Ich nahm viele kleine Gassen, um den Weg abzukürzen. Es machte mir Spaß, enge Kurven zu fahren. Endlich konnte ich mich von dem kleinen Streit mit Mama ablenken und durchatmen. Doch als ich um eine Ecke bog, stieß ich ohne Vorwarnung mit dem Vorderrad gegen irgendetwas, das vorher nicht dort gewesen war und das ich hinter der Kurve unmöglich hätte sehen können. Plötzlich segelte ich über meinen Lenker und überschlug mich dabei. Zum Schreien war keine Zeit, es ging alles viel zu schnell und der Schock war viel zu groß. Ebenso wie der Schmerz. Ich war heftig mit dem Hinterkopf auf dem gepflasterten Boden gelandet. Da ich auf dem Rücken aufgekommen war, hatte ich keinerlei Chance gehabt, mich abzustützen. Ich hörte nur noch, wie mein Fahrrad zurückgeschleudert wurde und irgendwo hinter mir landete. Benommen von dem stechenden Schmerz in meinem Kopf und im Brustkorb, versuchte ich panisch, bei Bewusstsein zu bleiben. Ich wusste nicht, was los war, aber das konnte kein Zufall sein. Ich nahm diesen Weg häufig und noch nie war ich an dieser Stelle hingefallen.

Ich wollte um Hilfe rufen, aber in diesem Moment legte sich eine Hand auf meinen Mund. Ich erstarrte. Wer war das? Oh nein, das konnte nur dieser geheimnisvolle Kidnapper sein ...

Bevor ich jedoch weiter darüber nachdenken oder versuchen konnte, mich aus dem Griff der fremden Hände zu befreien, verschwamm die Umgebung vor meinen Augen und es wurde dunkel.

Als ihr Handy klingelte, lag meine Schwester gerade in Tims Armen. Schnell tasteten ihre Finger nach dem Tisch, um das Handy zu ergreifen. Ihr wurde flau im Magen. Sie hoffte einfach nur, dass ich sie anrufen würde, warum auch immer. Vielleicht um zu fragen, ob Mama noch sauer auf mich wäre.

„Nein, jetzt nicht“, flüsterte Tim. Mit geschlossenen Augen streichelte er über ihren Rücken. Die beiden genossen das Kuscheln.

Lorena runzelte die Stirn. „Und wenn es wichtig ist?“ Sie nahm ihr Handy und schaute auf das Display: eine ihr unbekannte Nummer. Schnell nahm sie ab. „Hi“, meldete sie sich.

„Hallo, hier ist Franziska.“

Lorena war überrascht, dass diese sie anrief. Das hatte sie noch nie getan. Plötzlich spürte sie es wie einen Schlag in den Magen, als ihr klar wurde, dass ich mich mit Franziska hatte treffen wollen und irgendetwas nicht stimmen konnte, wenn sie jetzt anrief.

Gerade wollte Lorena fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei, als Franziska ihr zuvorkam. „Ist David bei euch?“

Lorena bekam einen Schrecken. Tim merkte das und warf seiner Freundin einen Blick zu, als wollte er fragen: „Was ist los?“

„Nein“, antwortete meine Schwester unsicher.

„Er ist nicht bei mir zu Hause angekommen. Um drei Uhr wollte er da sein.“

Schnell schaute Lorena auf ihre Armbanduhr: Viertel vor vier. „Aber das kann nicht sein“, brachte meine Schwester schockiert hervor. „Er ist um Viertel vor drei mit dem Fahrrad von zu Hause weggefahren.“

„Oh Gott.“ Langsam wurde auch Franziska panisch. „Ich dachte erst, er würde sich bloß verspäten. Also habe ich noch ein bisschen gewartet, aber dann habe ich mir Sorgen gemacht und versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber er nimmt nicht ab. Vor ein paar Minuten habe ich es das dritte Mal versucht.“

Lorena war nun so geschockt, dass sie keinen Ton herausbrachte.

Tim schaute meine Schwester besorgt an. „Wir könnten die Strecke bis zu Franziskas Haus absuchen. Vielleicht ist David noch unterwegs, weil er etwas erledigen musste, was er euch nicht sagen wollte, oder er hat sich verletzt und kann nicht zurückfahren.“

Lorena nickte. „Franzi, wir kommen jetzt zu dir und laufen dabei die Strecke ab, die David gefahren ist. Vielleicht finden wir ihn. Dann kommen wir zu dir.“

„Ist okay.“

„Und geh nicht allein raus, ja? Warte auf uns.“

„Mache ich. Bis gleich.“

Lorena schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und fiel Tim in die Arme. „Dieser Trottel“, schimpfte sie über mich. „Ich habe ihm gesagt, er solle nicht allein gehen. Wieso habe ich ihn bloß nicht aufgehalten? Ich hätte ihm weiter hinterherrennen sollen, bis er stehen geblieben wäre.“

„Es nützt nichts, darüber zu spekulieren. Komm jetzt, vielleicht finden wir ihn. Wir müssen uns beeilen“, versuchte Tim, seine Freundin zu beruhigen.

„Aber wenn er sich ein Bein gebrochen hätte oder so, warum ruft er uns dann nicht an oder gleich einen Krankenwagen? Er hat sein Handy dabei.“

 

„Vielleicht ist es kaputt gegangen.“

Lorena musste fast lachen. Das war viel zu unrealistisch. „Nein, das glaube ich nicht. Da ist was faul! Es sei denn, er ist so schlimm verletzt, dass er uns nicht benachrichtigen kann.“ Sie wusste, wenn ich nicht an mein Handy ging, konnte irgendwas nicht stimmen. Das geschah eigentlich nur, wenn der Akku leer war oder ich es verloren hatte. Beide Möglichkeiten bezweifelte sie, denn sie wusste, dass ich nie mit leerem Akku aus dem Haus ging, schon gar nicht im Moment, da Menschen in unserer Umgebung verschwanden.

Lorena und Tim waren bereits vom Sofa aufgesprungen und eilten die Treppe hinunter. Da trat Mama mit einem Korb Wäsche in den Flur. Krampfhaft überlegte meine Schwester, wie sie ihr die unangenehmen Neuigkeiten beibringen sollte.

„David ist nicht angekommen.“ Lorena sagte es ihr einfach ohne Umschweife.

Mama ließ beinahe den Wäschekorb fallen, weshalb sie ihn abstellte. „Woher wisst ihr das? Hat Nico euch angerufen?“

„Er wollte gar nicht zu seinen Kumpeln, Mama.“ Langsam war es an der Zeit, es ihr zu sagen. Bisher war die Sache mit Franziska ein Geheimnis zwischen meiner Schwester und mir gewesen. Mama wusste noch nicht einmal, dass wir morgens zusammen zur Schule gingen. Der Einzige, dem das noch bekannt war, war Tim, weil er ebenfalls mit uns zur Schule ging.

„Er wollte heute Nachmittag zu Franziska – einer Freundin. Er wollte nichts erzählen, solange es nichts Festes ist“, erklärte Lorena schnell. „Aber er wollte es dir schon sehr bald sagen.“ Sie wusste zwar nicht, wann ich das vorhatte, aber sie wollte beschwichtigend auf unsere Mutter einwirken.

„Oh, okay“, sagte sie nur.

„Franzi hat uns gesagt, dass er nicht angekommen ist. Und er geht nicht an sein Handy. Wir wollen die Strecke ablaufen. Vielleicht finden wir ihn.“

Mama zögerte, was meine Schwester umso nervöser machte.

„Vielleicht hatte er einen Unfall“, wollte auch Tim Mama beruhigen. „Wir müssen nicht das Schlimmste befürchten.“ Ein Unfall hörte sich schon schlimm genug an. Was das Schlimmste bedeutete, war allen klar: wenn ich das fünfte Opfer wäre.

„Aber wir haben keinen Krankenwagen gehört. Es müsste bestimmt jemand gesehen haben“, hielt Mama dagegen. In unserer kleinen Stadt hörte man den Krankenwagen immer, egal, wie weit er weg war.

„Wir gehen jetzt trotzdem los. Ruf mich an, wenn David hier auftaucht.“ Schnell zogen sich Lorena und Tim ihre Schuhe an und ließen Mama, die immer noch wie angewurzelt dastand, im Flur zurück. Eilig traten sie nach draußen. Meine Schwester musste sich zusammennehmen, um vor Hektik nicht zu rennen.

„Schau nach allen Seiten“, befahl Tim.

Lorena schüttelte den Kopf. „Siehst du das nicht?“

„Was?“

„Überall Menschen bei dem schönen Wetter. Man kann hier nicht verschwinden oder unbemerkt hinfallen, das hätte jemand mitbekommen müssen“, stellte Lorena verzweifelt fest.

Tim wusste nichts darauf zu antworten. „Welche Farbe hat sein Fahrrad? Und was hatte David heute an?“, fragte er stattdessen.

„Das Fahrrad ist komplett schwarz.“ Lorena überlegte. „Ich glaube, er trägt eine kurze helle Jeans und ein rotes Hemd.“ Tim nickte nur.

Lorena hatte es aufgegeben, sich umzusehen, stattdessen blickte sie in die Menschenmenge. Mittlerweile waren die beiden in der Stadt angekommen. Da entdeckte sie eine Frau mit Kinderwagen, die freundlich aussah.

„Entschuldigung“, sprach Lorena sie an. „Haben Sie einen fünfzehnjährigen Jungen mit Fahrrad und rotem Hemd gesehen? Ich suche meinen Bruder.“

„Nein, leider nicht“, antwortete die Frau höflich.

„Okay, trotzdem danke.“

Tim schaute seine Freundin an. „Meinst du, wir sollen noch mehr Leute ansprechen?“

„Lass es uns versuchen. Wenn ihn jemand gesehen hat, haben wir immerhin einen Hinweis.“

Doch die Aktion blieb ohne Erfolg.

Nachdem sie noch mehr unwissende Leute angesprochen hatten, kam Lorena eine Idee. „Moment mal. Er wollte doch mit Franzi Eis essen. Lass uns zur Eisdiele gehen.“

„Aber warum sollte er dort sein?“, fragte Tim skeptisch.

„Ich weiß nicht, aber lass es uns probieren.“ Obwohl meine Schwester selbst nicht wusste, warum ich dort ohne Franziska sein sollte, wollte sie alle Möglichkeiten, wo ich sein konnte, ausschließen.

Aber auch dort war ich nicht. Nachdem sie sogar den Eisverkäufer nach mir gefragt hatten, liefen die beiden frustriert weiter zu Franziska. Wie schlimm es wäre, sie enttäuschen zu müssen, dachte meine Schwester. Ihr sagen zu müssen, dass die Suche erfolglos gewesen sei.

Franziska öffnete sofort die Tür. Sie hatte wohl aus dem Fenster geschaut und unruhig gewartet, bis die beiden endlich kamen. Sie sah an den besorgten Blicken meiner Schwester und ihres Freundes, was los war.

Meiner Schwester tat es so leid, dass sie Franziska in ihre Arme schloss. „Wir finden ihn schon“, flüsterte Lorena. Sie glaubte sich selbst nicht, aber sie wollte Franziska trösten. Dabei standen meiner Schwester selbst Tränen in den Augen und sie zitterte vor Aufregung.

Plötzlich tauchte Nico hinter Franziska auf. Er begrüßte die beiden Neuankömmlinge und erklärte: „Franzi hat mich angerufen, um zu fragen, ob David bei mir sei. Da habe ich dran gedacht, dass er manchmal einen anderen Weg nimmt als den, den ihr kennt.“

„Oh ... okay.“ Lorena versuchte zu begreifen, was er meinte.

„Gehen wir sofort los?“, forderte Franziska die anderen auf. „Wir haben uns schon angezogen.“ Natürlich hatte niemand etwas dagegen.

Meine Schwester war schockiert, als sie sich den Weg ansah, den ich tatsächlich genommen hatte: abgelegen, eng und kurvig. Lorena fragte: „Aber warum sollte er hier langgefahren sein?“

Tja, ich hätte diese Frage selbst nicht beantworten können. Bestimmt hatte ich es nur gemacht, weil ich damals viel zu leichtsinnig und naiv gewesen war.

Weil ich die Gefahr nicht wahrgenommen hatte oder besser: nicht wahrnehmen wollte. Weil ich es für zu unwahrscheinlich gehalten hatte, dass gerade ich das nächste Opfer sein könnte.

„Es macht einfach Spaß, hier langzufahren, weil es so kurvig ist“, versuchte Nico, mein dämliches Verhalten zu erklären.

Während vier der wichtigsten Menschen in meinem Leben verzweifelt versuchten, mich zu finden, war ich immer noch bewusstlos und ahnte nicht, was mir bevorstand.

Noch frustrierter als nach der ersten Suchaktion kehrten die vier schließlich zu uns nach Hause zurück. Mama öffnete, schon lange bevor sie unsere Einfahrt betraten, die Tür und rief: „Habt ihr was rausgefunden?“

„Nein“, schrie meine Schwester aus einiger Entfernung zurück. Daraufhin verschwand Mama wieder im Haus. Meine Schwester rannte ihr hinterher.

„Das ist alles meine Schuld. Hätte ich doch vorhin nicht so reagiert! Er war bestimmt unaufmerksam, weil er unseren Streit im Kopf hatte, und hat einen Unfall gebaut. Oder er wurde von diesem kranken Typen mitgenommen, der dafür verantwortlich ist, dass schon vier Menschen verschwunden sind“, sprach Mama als Erste die Möglichkeit aus, von der niemand hatte reden wollen.

„Verdammt“, schrie Lorena sie an, „hör auf damit! Wir müssen was unternehmen. Zum Durchdrehen haben wir keine Zeit.“

Mama schaute sie mit funkelnden Augen an, bevor sie zu weinen begann. Unsicher nahm meine Schwester sie in den Arm, wobei ihr selbst Tränen in den Augen standen. Über Mamas Schulter hinweg beobachtete sie die anderen, die ratlos am Rahmen der Küchentür lehnten und nun ins Wohnzimmer gingen. Mama hatte unsere Freunde noch gar nicht bemerkt.

Nun hatte diese sich etwas beruhigt und auf Lorenas Befehl hingesetzt. „Weiß Papa schon Bescheid?“, fragte meine Schwester.

„Ja, ich habe ihn gerade angerufen, weil ich dachte, er hätte vielleicht was von David gehört. Es hätte ja sein können, dass er ihn angerufen hat, aber nichts. Er hat die Arbeit abgebrochen und ist auf dem Weg nach Hause. Der Weg ist jedoch so weit, dass er erst in einer Stunde hier sein wird. Er meinte, wir sollen nicht auf ihn warten und sofort zur Polizei fahren.“

Lorena nickte. „Wir haben Nico und Franziska mitgebracht.“

„Okay.“ Mama schien langsam wieder zu klarem Bewusstsein zu kommen. „Wir gehen zu ihnen.“

Die beiden warteten im Wohnzimmer auf meine Mutter und meine Schwester.

„Ich bin Franziska, Davids Freundin“, stellte diese sich vor und gab Mama die Hand.

Meine Mutter brachte ein winziges Lächeln hervor, als sie das hübsche Mädchen sah, in das ich mich verliebt hatte. Dann wurde sie wieder ernst und nahm das Telefon. „Ich rufe jetzt bei der Polizei an. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“ Schon hielt sich Mama den Hörer ans Ohr.

Als ich die Augen öffnete, starrte ich in Dunkelheit. Sofort bekam ich Panik, als ich mich an den Unfall erinnerte. Mein Herz begann zu rasen. Wo war ich? Ich tastete meine Umgebung ab in der Hoffnung, das herausfinden zu können. Hier war nur wenig Platz. Meine Beine waren angewinkelt, denn ausstrecken konnte ich sie nicht. Meine Arme lagen dicht an meinem gekrümmten Körper, aber dennoch ... in der stabilen Seitenlage. Wieso das?

Mein Nacken tat weh, weil man meinen Kopf überstreckt hatte. War ich in einer Kiste?

Ich hörte ein Rauschen. Eine Straße? Ich spürte, dass hier Bewegung war. Vernahm einen Motor. Ein Auto? Ich musste in einem Kofferraum sein. Jemandem, der mich gewaltsam in sein Auto zerrte, lag etwas daran, dass ich überlebte, weswegen er mich in die stabile Seitenlage brachte? Mir wurde übel. Wenn es der Geschwisterentführer war, was hatte er noch mit mir vor, wenn er mich nicht gleich umbringen wollte? Schockiert versuchte ich mich etwas aufzusetzen. Dabei schnappte ich entsetzt nach Luft. Erst jetzt nahm ich den Schmerz wahr. Bei jedem Atemzug spürte ich ein Stechen in meinem Brustkorb. Bestimmt waren mehrere Rippen gebrochen. Auch mein Kopf tat unerträglich weh. Der Schmerz zog bis in den Nacken. Vorsichtig berührte ich die Stelle an meinem Hinterkopf, mit der ich unsanft auf dem Boden gelandet war, und spürte eine Platzwunde, die fast so groß war wie meine Handfläche. Das Blut war von dort bis zum Kragen meines Hemdes gelaufen und hatte einen feuchten Fleck hinterlassen. Mir wurde übel, als ich das herausfand. Ich brauchte ein paar Sekunden, um den Schmerz zu verarbeiten und mich wieder zu fassen.

Aber dann bekam ich Platzangst, schrie, so laut ich konnte, und schlug um mich, so gut es ging. Unvermittelt schrie jemand zurück. Ich fuhr zusammen. Die Stimme war weiter weg, klang tief und bedrohlich. Doch ich konnte die Worte nicht verstehen.

„Lass mich hier raus!“, brüllte ich.

Doch dann kam ich zur Ruhe. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. War ich tatsächlich bei dem Typen gelandet, der die vier Menschen aus unserer Stadt entführt hatte? Und wenn ja, wohin brachte er mich? War ich Nummer fünf? Der dritte Bruder? Würde er Lorena auch bald holen? Warum war ich hingefallen? Als ich mit dem Fahrrad um die Ecke gebogen war, war ich gegen irgendetwas gefahren, das mich zu Fall gebracht hatte. Jemand musste mir eine Falle gestellt und mich verschleppt haben. Verschleppt. Tränen traten in meine Augen. Was sollte ich jetzt machen? Ich musste Hilfe rufen. Doch mein Handy war nicht mehr in meiner Hosentasche.

„Mist!“, rief ich aus. So konnte ich keine Hilfe holen. Hatten Kofferräume nicht einen Sicherheitshebel, mit dem man sie von innen öffnen konnte? Ich begann mit den Händen, alles um mich herum abzutasten. Panik kam in mir auf, als meine Suche erfolglos blieb. Das konnte nicht sein! Man kann doch keinen Kofferraum zulassen, aus dem man in einer Notsituation nicht mehr herauskam. Aber anscheinend doch. Ich versuchte, ein paarmal tief durchzuatmen.

Was sollte ich tun, wenn dieser Typ den Kofferraum öffnete? Oder würde der Täter ihn vielleicht gar nicht mehr öffnen, sondern mich hier drinnen vergammeln lassen? Oder würde er ihn öffnen, aber erst nach Stunden? Würde die Fahrt noch lange dauern? Kam überhaupt genug Sauerstoff in den Kofferraum? Und wenn nicht, wie viel Zeit blieb mir noch, bis ich ersticken würde?

Mama und meine Schwester rannten. Sie rannten zum Auto, fuhren los, stürmten in die Polizeistation und mussten zunächst warten, bis sie mit einem Polizisten sprechen konnten. Unruhig lief Lorena im Gang auf und ab. Schon die einstündige Autofahrt hatte sie verrückt gemacht. Der Polizist aus Jüterbog, mit dem Mama geredet hatte, meinte, sie sollten zur Kriminalpolizei nach Potsdam fahren. Hier ermittelte man nämlich wegen der anderen Vermissten.

 

Lorena verstand, dass die Polizisten viel zu tun hatten. „Aber wenn ich tatsächlich entführt worden war“, so dachte Lorena, „mussten sie jede Sekunde nutzen, um mich zu retten. Sie durfte nicht daran denken, dass ich womöglich längst tot sein könnte.“

Die Zeit schien unendlich langsam zu vergehen. Doch dann wurde meine Familie endlich von einem Polizisten aufgerufen und in ein Büro geführt. Ein wirklich kleines Büro, in dem es viel zu warm war. Auch das angekippte Fenster schien nicht gegen die stickige Luft zu helfen. Verständlich, denn draußen waren es mittlerweile fast 30 Grad und hier drinnen schien sich die warme Luft wie unter einer Glocke zu sammeln.

„Guten Tag“, begrüßte der Beamte meine Familie. „Ich bin Herr Köhler. Sie haben eben mit mir telefoniert, richtig?“

„Ja, das war ich.“ Mama stellte sich kurz vor. „Ich bin Frau Winkler, das ist meine Tochter Lorena.“

Der Polizist schaute meine Schwester erschrocken an. Warum er das tat, fiel Lorena erst später ein. Weil das bedeutete, dass mein Verschwinden ein ernster Fall war. Dem Polizisten war wohl klar geworden, dass das Schema aufging. Ich war vermutlich der nächste Bruder geworden.

Herr Köhler sah immer noch nachdenklich aus, aber schließlich sagte er höflich: „Nehmen Sie bitte Platz.“

Sie bedankten sich und setzten sich auf die zwei bereitgestellten Stühle.

„Also“, begann der Polizist, „Sie vermissen Ihren Sohn?“

„Ja“, bestätigte Mama, „David ist vor über zwei Stunden mit dem Fahrrad zu einer Freundin gefahren. Von uns aus sind das ungefähr fünf Minuten. Dann rief seine Freundin an und sagte uns, dass er nicht angekommen wäre. Lorena hat mit ihrem Freund die Strecke abgesucht, die David nimmt, um in die Stadt zu fahren, aber sie haben ihn nicht gefunden.“

„Das heißt, er wird seit zwei Stunden vermisst?“

Lorena schaute auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. „Seit zweieinhalb Stunden.“

„Okay.“ Herr Köhler sog die Luft ein. „Eigentlich können wir erst vierundzwanzig Stunden nach Verschwinden mit den Ermittlungen beginnen, aber in diesem Fall ist das anders. David hat eine Schwester.“ Er schaute Lorena an. „Und er verschwindet ungefähr zwei Wochen, nachdem das letzte Mal eine Person höchstwahrscheinlich entführt wurde. Das Vorgehen des Täters würde also genau demselben Muster folgen wie bei den anderen Fällen. Ich denke, wenn wir sofort alle Maßnahmen ergreifen, haben wir die besten Chancen. Wir möchten nicht, dass das so weitergeht. Wir wollen den Ereignissen endlich auf die Spur kommen.“

Lorena spürte Erleichterung. Dass der Polizist sich sofort um alles kümmern wollte, beruhigte sie. „Ich werde noch zwei Kollegen von der Kripo als Verstärkung anfordern“, erklärte er nun.

Wenig später betraten zwei weitere Beamte in Zivilkleidung den Raum. Frau Roth und Herr Lorenz. Auch sie hatten sich kurz vorgestellt.

„Sind Sie sich sicher, dass Ihr Sohn nicht mehr auftauchen wird?“, fragte Herr Lorenz plötzlich. „Wissen Sie, in den letzten Wochen rufen ständig Eltern an und wollen ihre Kinder als vermisst melden, bloß weil sie sich zu sehr sorgen.“

„Was fällt dem eigentlich ein, eine solche dumme und unhöfliche Frage zu stellen?“, dachte meine Schwester in diesem Moment.

„Denken Sie, er könnte noch irgendwo anders sein?“, hakte Herr Lorenz nach. „Gäbe es Gründe, weswegen er nicht zu seiner Freundin gefahren ist? Ein Streit vielleicht?“

„Zwischen meinem Sohn und mir gab es eine kleine Diskussion, weil ich nicht wollte, dass er alleine losfährt“, gab Mama zu.

„Er wollte sich das erste Mal allein mit seiner Freundin Franziska treffen. Er hat sich sehr darauf gefreut. Es ist wirklich unrealistisch, dass er sich umentschieden hat. Und bei seinen Freunden ist er außerdem nicht“, ergänzte meine Schwester. Da hatte sie recht. Dieser Verbrecher hatte mir mein erstes Date gründlich versaut.

„Hatte Ihr Sohn ein Handy dabei, als er weggefahren ist?“, fragte Herr Lorenz.

„Ja, er hat es immer dabei“, erklärte Mama.

„Gut, wir werden versuchen, es zu orten.“ Der Polizist öffnete ein Programm im Computer und ließ sich von Mama meine Handynummer nennen. Herr Lorenz tippte sie ein und tätigte noch einige weitere Eingaben.

Bestimmt vergingen nur ein oder zwei Minuten, aber Lorena kam es unendlich lange vor. Ihr Herz raste. Würde die Polizei herausbekommen, wo ich mich befand? Das wäre so einfach. Eine Chance, mich zu retten. Schließlich schüttelte Herr Lorenz den Kopf. „Wir können das Gerät nicht orten. Entweder wurde die SIM-Karte entfernt oder das Handy ist kaputt.“

Lorenas Herz setzte einen Schlag aus. „David würde die SIM-Karte nicht selbst rausnehmen. Dann hat ihn mit Sicherheit jemand entführt und das gemacht, damit man ihm nicht auf die Spur kommen kann.“

„Das müssen wir natürlich in Betracht ziehen, aber ich kann dazu im Moment nichts sagen.“

„Haben Sie ein Foto von Ihrem Sohn mitgebracht?“, fragte Herr Köhler nun. Er hatte Mama am Telefon dazu aufgefordert.

Lorena holte die Fotos aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Eines war von meinem vierzehnten Geburtstag, als ich mein BMX-Rad bekommen hatte. Ich posierte lächelnd mit dem Fahrrad im Garten. Außerdem hatte Lorena ein Porträtfoto vom Schulfotografen mitgebracht. Der Polizist scannte sie in den Computer ein und speicherte sie ab, bevor er meiner Schwester die Originale zurückgab. Dann fragte er nach meinem Alter, meiner Körpergröße, besonderen Merkmalen, welche Kleidung ich zum Zeitpunkt des Verschwindens getragen hatte und weiteren persönlichen Daten.

Nun meldete sich Frau Roth das erste Mal zu Wort. „Wir werden Ihr Haus heute Nacht beschatten. Ich werde in drei Stunden mit einem Kollegen zu Ihnen kommen.“

„Okay“, meinte Mama zögerlich.

Lorenas Herz schlug schneller, als die Polizistin von ihrem Vorhaben berichtete. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass auch sie selbst bald verschwinden könnte. Dass die Polizei davon ausging, dass in dieser Nacht etwas passieren könnte.

„Lorena“, Frau Roth sah nun meine Schwester eindringlich an, „es ist wichtig, dass du nicht mehr alleine rausgehst, auch wenn du es musst. Das ist jetzt ein Ausnahmefall. Wir werden außerdem all eure Handys und das Festnetztelefon überwachen, um die Gespräche aufzuzeichnen. Vielleicht können wir so Hinweise gewinnen, falls der Täter oder ein Komplize aus irgendeinem Grund versucht, bei euch anzurufen.“

„In Ordnung“, stimmte Mama nachdenklich zu.

„Lorena, ich muss dir noch ein paar Fragen stellen“, begann Frau Roth. „Hattest du in letzter Zeit mit einer Person Kontakt, die sich auffällig verhalten oder dich bedroht hat?“ Lorena dachte nach. Sie hatte sich auf dem Weg von der Schule nach Hause zwar beobachtet gefühlt, aber was, wenn das nur Einbildung gewesen war? Sie hatte keine Beweise dafür, dass sie tatsächlich von jemandem verfolgt wurde. Trotzdem, vielleicht zählte jetzt jeder kleine Hinweis.

„Ich habe mich auf dem Weg von der Schule nach Hause beobachtet gefühlt, aber ich konnte niemanden sehen“, brachte sie hervor.

Mama warf meiner Schwester einen schockierten Blick zu, als wollte sie sagen: „Warum hast du mir das nicht erzählt?“

Lorena dachte, die Polizisten würden ihre Aussage nicht ernst nehmen, stattdessen fragte Herr Lorenz: „Auf welche Schule gehst du?“

„Das Goethe-Schiller-Gymnasium hier in Jüterbog. Wir sind ungefähr um 14 Uhr nach Hause gegangen.“

„Okay, was ist mit Ihrem Sohn?“, wandte sich Herr Lorenz an Mama. „Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht, dass er bedroht wird?“

„Nein“, antwortete meine Mutter sofort. „Er war von uns derjenige, der sich am wenigsten um alles sorgte.“

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