Wenn die Nacht stirbt und dunkle Mächte sich erheben

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»Diesbezüglich würde ich Sie bitten je drei Themen auf ein Stück Papier zu schreiben und es bei mir abzugeben«, redete die Älteste einfach weiter, noch bevor der letzte Schüler, die Brillenschlange, die von Regan zusammengestaucht worden war, die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Schnell kramte ich in meiner Tasche nach einem Zettel und überlegte mir Themen, über die ich gerne mehr erfahren würde. Ganz oben in die erste Zeile schrieb ich »Hexen und ihre Gemahle«, da ich wieder Hunters Hand spürte, die mich zärtlich streichelte. Unser Verhältnis hatte sich verbessert. Wir waren kein Liebespaar, weil ich zuerst herausfinden wollte, ob wir ohne unsere besondere Verbindung eine Zuneigung entwickelt hätten. Aber wir unternahmen viel miteinander und waren mehr als Freunde. Ich konnte einfach nicht mit dem Gedanken leben, dass ich kein Mitspracherecht bei der Wahl meines Mannes hatte, auch wenn ich meine Gefühle für Hunter nicht einmal in Worte fassen konnte. Mein Herz schien in Flammen zu stehen, wenn er mich ansah, und meine Haut kribbelte bei jeder seiner Berührungen. Bei jedem Kuss glaubte ich, durch seine weichen Lippen dahinzuschmelzen, und jedes seiner Worte raubte mir den Atem. Ein Leben ohne diesen Mann wäre für mich nicht mehr vorstellbar und ich hatte mich nicht erst einmal gefragt, wie ich vor meiner Erwählung zur Hexe ohne ihn auskommen konnte. Aber irgendetwas nagte an mir und lähmte mich, wenn ich dem jüngsten Morgan meine Gefühle gestehen wollte. Es war, als würde eine Hand mich würgen, bis ich keine Luft mehr bekam und dann kein Wort über meine Lippen brachte. Dem Schwarzhaarigen war es in den ersten Tagen schwergefallen, meine Entscheidung, nicht sofort das restliche Leben miteinander zu verbringen, zu akzeptieren, aber mit der Zeit hatte sich etwas entwickelt, dass ich nicht definieren konnte.

Als nächstes formulierte ich eine Frage, die mich seit Deinem Ableben beschäftigte: »Wie gehe ich mit dem Tod einer nahe stehenden Person um?«

Natürlich wusste ich, dass jeder Mensch anders auf diese Krise reagierte, aber ich wollte zumindest Vorschläge haben, wie ich den Schmerz aus meinem Herzen verbannen und lernen konnte, Dich nicht mehr pausenlos zu vermissen. Denn genau das tat ich, Mel. Jede Sekunde, die Du nicht bei uns warst, war schrecklich.

Zum Schluss richtete ich eine Frage direkt an Regan: »Wie werde ich eine gute Königin?« Und setzte meinen Namen unter die Schrift. Wenn mir jemand helfen konnte, eine Monarchin zu werden und mir alles Wichtige, was ich als Herrscherin wissen musste, beibringen konnte, dann das einzige Ratsmitglied, das offensichtlich nicht vor Rabiana kuschte. Ich hätte natürlich auch fragen können, wie ich eine machtgeile Diktatorin loswerde, die mich tot sehen wollte. Doch ich bezweifelte, darauf eine Antwort zu erhalten, weshalb ich das Papier faltete und es Tara, die aufgestanden war, um die Zettel einzusammeln, in die Hand drückte.

»Sehr schön. Dann können wir jetzt anfangen«, meinte Miss Terrent-Wilkes, als die Blätter auf ihrem Schreibtisch landeten. Oder hieß es womöglich Mrs. Terrent-Wilkes? Ob sie verheiratet war? Oder war es Ratsmitgliedern verboten eine Partnerschaft zu führen? Das würde zumindest Rabianas ständige miese Laune erklären. Ein klassischer Fall von »untervögelt«.

»Heute werden wir uns mit der Korruption in der magischen Gesellschaft beschäftigen. Schlagt bitte im Buch die Seite 428 auf«, bat sie uns und eine unglaubliche Stunde begann. Regan schaffte es die langweiligsten Aspekte mit wahren Geschichten spannender zu gestalten und uns mittels Diskussionen in den Unterricht einzubinden. Sie beantwortete jede noch so kleine Frage, bis der Schüler mit der Antwort zufrieden war, und zeigte uns Bilder von früher, als sie noch ein Kind war. Auf vielen Fotos war auch die Direktorin zu sehen, wie sie Eis aß oder sich die Zähne putzte, weshalb die Abbildungen für spontane Lachanfälle sorgten. Niemand hätte erwartet, dass die Rektorin früher klein und niedlich gewesen war, bevor sie zur furchteinflößenden Schulleiterin wurde. Das letzte Bild ließ jedoch das Lächeln auf meinen Lippen verblassen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in mir aus und ich musste mich stark konzentrieren, um zu verhindern, dass mir die Tränen über die heißen Wangen liefen. Die Fotografie war jünger, ungefähr zwanzig Jahre alt. Sie zeigte das Ratsmitglied und die Direktorin vor dem Schulgebäude. Aber weder Regans kurz geschorene, pinke Haare noch das narbenlose Gesicht der Schulleiterin erschütterte mich, sondern das Mädchen, das zwischen ihnen stand. Sie hatte die gleiche schwarze Haarpracht wie ich und auch dieselben verschnörkelten, weinroten Tätowierungen. Meine leibliche Mutter lächelte an diesem Tag, der nur noch eine Erinnerung war, in die Kamera, während sie sich offensichtlich mit ihren Klassenkameradin-nen, die die gleiche Schuluniform mit dem Schullogo trugen, unterhielt. Die drei Frauen hatten die Arme umeinandergeschlungen und glichen Dir, Tara und mir. Sie wirkten einander vertraut, als würden sie sich schon ewig kennen und gleichzeitig waren sie absolut unterschiedlich. Regan war die Bunte, die Fröhliche, wie du es gewesen warst, bevor Du starbst. Sie grinste und zog eine Grimasse, während sie hinter dem Kopf meiner Mutter mit ihren Fingern Hasenohren imitierte. Die Rektorin hingegen trug ausschließlich Schwarz und wirkte wie eine Schauspielerin, die in einem alten Vampirfilm mitspielte, ähnlich wie Taranee. Sie war blass. Ihre Mundwinkel waren nur leicht verzogen, aber in ihren Augen lag Belustigung. Ihre Arme hatte sie freundschaftlich um die Taille meiner Mama geschlungen und ihr Blick war auf das Gesicht von Regan gerichtet. Im Vordergrund stand meine Mutter, die ich nie kennenlernen durfte, doch sie hatte den gleichen traurigen Ausdruck in den Augen wie ich, wenn ich morgens in den Spiegel sah. Trotz der großen Nase, die nicht ganz in ihr Gesicht passen wollte, war sie eine Schönheit gewesen, mit der ihre Freundinnen nicht mithalten konnten. Sie strahlte von innen heraus. Wehmütig betrachtete ich das Bild, als es zum Stundenende klingelte, und starrte schockiert auf die Uhr, weil ich nicht glauben konnte, dass die Zeit so schnell vergangen war. Vereinzelt packten die Schüler ihre Sachen zusammen, um in den nächsten Unterricht zu gehen. Ich tat es ihnen gleich und wiederholte in Gedanken die Informationen der letzten Stunde, um mich von meiner depressiven Stimmung abzulenken.

»Read, du bleibst bitte noch«, sprach Regan mich an und ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu. Tara schenkte mir einen mitleidigen Blick, bevor sie Jaimie aus der Klasse folgte. Hunter, der dicht hinter mir stand, flüsterte mir etwas in mein rechtes Ohr und drückte meine Schulter.

»Soll ich hierbleiben und auf dich warten?«, wollte er besorgt wissen und musterte Regan misstrauisch. Wenn das Ratsmitglied auf Rabianas Seite war, wäre es nicht ratsam, mit ihr allein in einem Raum zu sein, aber wenn sie es nicht war, würde sie sicher nicht Klartext reden, wenn außer mir jemand im Zimmer war. Mutter war ihre Freundin gewesen. Sie hatte der Lehrerin vertraut. Vielleicht war das ein Zeichen, dass auch ich versuchen sollte, Regan eine Chance zu geben. Deshalb schüttelte ich den Kopf und kassierte dafür einen verletzten Gesichtsausdruck von Hunter, weil er lieber auf mich aufgepasst hätte. Traurig schlang er einen Arm um meinen Körper, sodass ich seine Bauchmuskeln an meinem Rücken spüren konnte. Kurz stockte mein Atem und ich biss mir auf die Lippen. Verdammt! Das fühlte sich so gut an. Mein Blut erhitzte sich, während ich mich einen Augenblick an meinen Gemahl lehnte und seinen unverwechselbaren Geruch einzog. Zur Wiedergutmachung drückte ich ihm meine Tasche in die Hand und küsste seine Wange, bevor ich ihn bat, meine Sachen in den Chemiesaal mitzunehmen und dort auf mich zu warten. Ich hasste es, Hunter deprimiert zu sehen. Viel lieber beobachtete ich ihn beim Lächeln, auch wenn sein Schmollen ihn niedlich aussehen ließ.

»Kommst du jetzt oder bist du neuerdings bei ihr angewachsen?«, stichelte Jona belustigt, woraufhin sein jüngerer Bruder ihm die Zunge zeigte und sich von mir löste. Auch ich lachte über Jonathans Bemerkung und verdrehte die Augen. Jona hatte recht. Hunter und ich klebten aneinander und das war meinen Freunden nicht entgangen. Ob sie schon Wetten abschlossen, wann ich mich endlich zu Hunter bekennen würde?

Als sich der Klassenraum leerte, schritt ich langsam auf den Lehrertisch zu. Regan ließ mich keine Sekunde aus den Augen und richtete sich von der Mappe, in der sie vor Kurzem noch geschrieben hatte, auf. Ihre Mine war ausdruckslos. Sie musterte mich und ich fühlte mich nackt unter ihrem Blick. Es war, als könnte sie tief in meine Seele blicken und jedes Detail meines Lebens ergründen. Zum zweiten Mal an diesem Tag überzog eine Gänsehaut meinen Körper.

»Es ist schön, dich persönlich kennenzulernen, Miss Holl«, säuselte sie, wurde aber sofort von mir unterbrochen: »Silverton. Mein Name ist Read Silverton.« Ich wusste, dass ich mich lächerlich benahm, immerhin wusste ich genau, dass ich nicht mit der Silverton-Familie verwandt war, aber der Name beruhigte mich auf eine gewisse Weise. Er gab mir Halt. Ich war immer Read Silverton gewesen, und selbst nachdem ich herausgefunden hatte, dass ich die Tochter von Retta Holl und somit die zukünftige Königin war, wollte ich immer noch ich selbst sein. Zumindest wollte ich mir meinen alten Nachnamen, alles was von meinem früheren Leben übrig geblieben war, nicht wegnehmen lassen, auch wenn der Name mich an die Verlogenheit meiner Ziehmutter erinnerte. Außerdem war es schön, eine letzte Verbindung zu meinem Ziehbruder zu haben, den ich nie wiedersehen würde.

»Natürlich«, entschuldige sich das Mitglied des Hohen Rates zögerlich und Traurigkeit flackerte in ihren Augen auf.

»Es tut mir leid, aber du erinnerst mich so sehr an sie«, flüsterte sie und lächelte bedrückt.

 

»An wen?«, fragte ich schneidend und versuchte mir meine eigenen Gefühle, die mich zu überwältigen drohten, nicht anmerken zu lassen.

»An deine Mutter.«

Alle meine Gesichtszüge entgleisten und ich starrte sie mit offenem Mund an. In den letzten Wochen hatten viele Menschen erwähnt, wie einzigartig meine Verwandtschaft und wie rein unser Blut war, aber niemand hatte bis jetzt verlauten lassen, dass ich meiner Mum glich. Selbstverständlich fiel mir selbst die Ähnlichkeit auf, aber es war etwas vollkommen anderes, es gesagt zu bekommen.

»Sie hatte auch diese pechschwarzen Haare und die grünen Augen. Wenn ich mich recht erinnere, war sie sogar so groß wie du, aber das Kinn hast du von deinem Vater«, holte das Ratsmitglied in ihrer Erzählung aus und eigentlich wollte ich sie unterbrechen, um sie nach Rabiana zu fragen, aber in diesem Moment erschien es mir gar nicht mehr so wichtig. Viel lieber wollte ich jedes Wort über meine Eltern aus dem Mund der Hexe hören. Wer von beiden hatte in der Beziehung die Hosen an? War ich ein Wunschkind? Wäre ich kein Einzelkind, wenn sie nicht gejagt worden wären? Wie haben sie sich kennengelernt? Unzählige Fragen schwirrten in meinem Kopf, doch es war mir egal, ob ich etwas Wichtiges über sie erfahren würde, oder nur etwas so Banales wie welche Musikrichtung sie bevorzugt haben. Vielleicht, wenn ich mehr über meine Wurzeln in Erfahrung bringen könnte, würde ich mich endlich wieder wie etwas Ganzes fühlen. Gerade gehörte ich nämlich weder zu den Silvertons noch zu der Holl-Familie. Ich gehörte zu niemandem, und auch wenn meine Freunde immer für mich da waren, war es nicht dasselbe wie eine Familie zu haben, die einen seit Kindheitstagen kennt oder wenigstens die gleiche DNA teilt.

»Read? Alles in Ordnung?«, fragte Regan unsicher, als sie meinen abwesenden Blick bemerkte. Nein, es war gar nichts in Ordnung.

»Wie waren sie so?«, fragte ich schniefend und die Ältere lachte erleichtert.

»Sie waren wie du. Besonders Retta. Dein Vater war immer der Bequemere von beiden, aber dafür war er der loyalste Freund, den du dir nur vorstellen kannst. Deine Mutter hingegen war wie ein durchfahrender Zug. Laut, schnell und unbezwingbar von außen. Sie überrollte alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellte, um zu beschützen, was ihr am wichtigsten war. Du warst ihr am wichtigsten Read. Vom ersten Augenblick an. Obwohl dein Vater den Kinderwunsch geäußert hatte, war deine Mutter gleich Feuer und Flamme«, erzählte Regan und ihr Gesicht strahlte vor Glück. Jedoch war es für mich schwer, mir das blutende Mädchen mit dem Baby aus der Geschichte meiner Ziehmutter vorzustellen, wie sie Kindergewand kaufte und eine Wiege aussuchte.

»Sie haben dich so unendlich geliebt«, flüsterte die Hexe und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. »Glaub niemals etwas anderes, klar?«

Auch in ihren Augen schimmerten Tränen und sie schniefte leise.

Ich nickte und fühlte mich meinem Gegenüber komplett ausgeliefert. In mir schrillten alle Alarmglocken, dass ich mich vor einer möglichen Feindin nicht schwach verhalten sollte, doch was hätte ich sonst tun sollen? Aus dem Raum stürmen, damit sie mich nicht weinen sah? Du hättest gewusst, was zu tun war, Mel. Du hast es immer gewusst. Und jetzt, wo ich Dich brauchte, warst Du nicht da, um mir den Weg zu zeigen.

»Was wollen Sie?«, hauchte ich fragend und nahm dankbar ein Taschentuch entgegen, dass mir Regan vor die Nase hielt, während sie sich selbst übers Gesicht wischte, um sich zu beruhigen.

»Die bessere Frage wäre, was du willst, Read«, behauptete sie und lehnte sich gegen den Lehrertisch, der aufgrund ihres Gewichts ein Stück verrutschte und ein Quietschen von sich gab.

»Wir beide wissen, dass du bei der Verhandlung gelogen hast und wir kennen die Wahrheit. Die Frage ist, was wir nun mit diesem Wissen anfangen«, sagte die Hexe mysteriös und wirkte plötzlich unendlich müde, als hätte sie wochenlang nicht geschlafen. Sie fuhr sich über die Stirn und rieb dann mit ihren Fingern ihre Augen. Die Geste ließ das Ratsmitglied um Jahre älter aussehen und ich verspürte einen seltsamen Stich in meiner Brust, als Regan das Strahlen, das sie sonst versprühte, verlor und ihre Tränen über ihre erhitzten Wangen liefen.

»Was soll ich tun?«, fragte ich verzweifelt und Regans Mimik erstarrte.

»Rabiana ist ein eiskaltes, manipulatives Miststück ohne Gewissen, bereit alles für ihren Erfolg zu opfern. Wenn nötig auch das Leben von mehreren tausend Hexen. Was möchtest du mit diesem Wissen tun?«, stellte sie mir eine Gegenfrage. Ihre Tränen versiegten. Ein kaltes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie zog ihre Augenbrauen zusammen, sodass sich eine Falte zwischen ihren Augen bildete. Zum ersten Mal dachte ich wirklich darüber nach, was ich wollte. Diesmal war es nicht wichtig, was meine Ziehmutter wollte oder was ich tun musste, um meinen Bruder zu beschützen. Auch war es unwichtig, ob meine Entscheidung anderen Menschen gefiel oder nicht. Ich war die Königin. Sicher, ich war noch ein Kind und noch lange nicht so weit, da Herrscherinnen erst nach Abschluss ihrer Schullaufbahn den Thron bestiegen, aber ich würde irgendwann tun und lassen können, was ich wollte. Vorausgesetzt Rabiana brachte mich nicht vorher um. Aber wollte ich überhaupt herrschen? Wollte ich wirklich für das Leben so vieler magischer Menschen verantwortlich sein und mein Leben für den Thron riskieren, nur damit Rabiana nicht Königin wird? Ja. Genau das wollte ich. Die Antwort war einfach, obwohl sie über mein ganzes Dasein entschied. Ich wollte noch viel mehr als das. Es war mir wichtig, die »wahre Königin« bluten zu lassen. Für all die Kinder, die durch ihre Taten leiden mussten. Für all die Jugendlichen, die wegen ihr niemals erwachsen geworden sind. Für Dich, Mel. Und für Regan, die in mir bereits die rechtmäßige Königin zu sehen schien. Sie nahm mich ernst und legte Wert auf meine Meinung.

»Ich will…«, setzte ich an und biss mir auf die Lippe.

»Ja?«

Kurz überlegte ich, ob ich ihre Frage beantworten sollte, da ich meinen Wunsch, wenn ich ihn äußerte, nicht mehr zurücknehmen konnte. Aber dann entschied ich mich, einfach ins kalte Wasser zu springen. Was hätte Regan auch davon gehabt, wenn sie mich an Rabiana verraten hätte? Und war es überhaupt von Bedeutung, ob Rabiana von meiner Entscheidung wusste? So oder so würde sie versuchen, mich aus dem Weg zu räumen.

»Ich will die Vorsitzende des Hexenrats für ihre Machenschaften bezahlen lassen«, meinte ich mit Nachdruck und sah, wie das Ratsmitglied ihre Lippen zu einem Strich verengte. »Rache?«, hinterfragte sie missbilligend.

»Nein. Gerechtigkeit«, erklärte ich und ein Lächeln machte sich in Regans Gesicht breit.

»Sehr gut. Dann brauchen wir nur noch einen Plan«, erklärte die Hexe und setzte sich auf die Tischplatte. Ich hatte das Gefühl, als hätte jemand ein schweres Gewicht von meinen Schultern genommen, als sie mich aus ehrlichen Augen ansah und lauthals zu lachen begann.

»Was? Dachtest du wirklich, ich würde die verrückte Krähe unterstützen?«, wollte sie wissen und ich musste schmunzeln. Eigentlich schon. Aber das würde ich ihr nicht auf die Nase binden.

Kopfschüttelnd verneinte ich. Regan war auf unserer Seite und vielleicht würde uns das helfen Rabiana zu stürzen oder sie wenigstens wieder aus der Schule zu ekeln. Es war nur eine Frage der Zeit. Doch das war gleichzeitig unser erstes Problem: Zeit. Das Gespräch war schneller beendet als erwartet, als ein Schüler an die Tür klopfte und mich holte, da Professorin Shila sich beschwert hatte, wo ich denn blieb. Wenigstens bekam ich keine Strafarbeit aufgebrummt, da ich dank Regan eine perfekte Ausrede hatte.

In den Tagen danach ergab sich keine freie Minute für eine erneute Unterhaltung, was die erste Freude über unsere neue Verbündete ein wenig dämpfte. Trotzdem blieb ich zuversichtlich und erzählte den anderen beim Mittagessen von den Erkenntnissen, als Hunter mich besorgt auf das Gespräch ansprach: »Worüber habt ihr geredet? Du warst eine halbe Ewigkeit bei ihr.«

An dieser Stelle hätte ich erwähnen sollen, dass es mir nicht so lange vorgekommen war, aber ich war auch zu beschäftigt gewesen, zu weinen und meinen Eltern nachzutrauern.

»Sie will uns helfen«, sagte ich schlicht und lächelte in meine Tasse.

»Moment, bist du dir sicher?«, fragte Tara und sah mich zweifelnd an.

»Sie klang absolut ehrlich«, wisperte ich, damit die Schüler am Nebentisch nichts mitbekamen, die mich hin und wieder argwöhnisch musterten.

»Warum glaubst du das?«, wandte Jonathan ein und steckte sich einen Löffel voll Suppe in den Mund, an dem er sich prompt die Zunge verbrannte.

»Erstens kannte sie meine Mum«, begann ich und bekam einen mitleidigen Blick von Tara. »Und zweitens hat sie Rabiana eine elendige Manipulantin genannt«, erwiderte ich und sah meine Freunde mit verschränkten Armen an. Ich war nicht wirklich wütend, dass sie meiner Intuition nicht vertrauten, aber ich hätte mir mehr Euphorie zu diesem kleinen Sieg gewünscht.

Ein knallendes Tablett ließ uns auseinander schrecken. Nicole setzt sich schnaubend neben Nathalia, die sich an ihrem Brot verschluckte, und begann sich wütend das Essen hineinzuschaufeln. Woraufhin wir sie ansahen, als hätte sie den Verstand verloren. Seit Wochen sprach sie nicht mit uns und nun setzte sie sich ohne ein Wort zu uns.

»Was?«, fauchte die schöne Blondine, die diesmal einen Zopf und große Ohrringe trug, als wir nach wenigen Minuten immer noch anstarrten.

»Was tust du hier?«, fragte Jaimie wenig subtil nach und Jona täuschte ein Husten vor, um sein Lachen zu kaschieren, während Hunter laut kicherte ohne den Versuch zu machen, seine Belustigung zu verbergen. Ich schlug dem jüngeren Morgan-Bruder gegen den Oberarm, bedachte Jaimie mit einem bösen Blick und versuchte Nicole zum Reden zu bewegen.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich, da mir sehr wohl die Ringe unter ihren Augen und die bleichen Lippen aufgefallen waren, die die Blondine unter Schminke zu verstecken versucht hatte.

»Nein«, schrie die Hexe der Hölle und ließ ihre Gabel mit einem lauten scheppernden Geräusch auf den Salatteller fallen.

»Ich wusste schon immer, dass sie irgendwann durchdreht und uns alle umbringt. Bringt euch in Deckung«, sagte Tara sarkastisch und wandte sich wieder ihrem belegten Brot zu, das sie seit Ewigkeiten hin und herschob, ohne abzubeißen.

Nun hatten wir die Aufmerksamkeit der ganzen Halle und alle Schüler starrten uns mit verdutzten Gesichtern an. Einige grinsten gehässig und lachten über die Oberzicke, die schon lange mehr verrückt als furchterregend wirkte.

»Nicole?«, bohrte ich leise nach, als die Blondine anfing, uns zu ignorieren und weiter aß, als wäre es das Normalste auf der Welt bei uns zu sitzen. Bevor ich erneut nachfragen konnte, schlang sie unsexy ihr Essen hinunter und zischte: »Lass es einfach. Okay, Read?« Danach stand sie auf und verließ den Saal, ohne ihr leeres Tablett mitzunehmen. Sie flüchtete vor den neugierigen Blicken und fiel beinahe über ihre Füße. Ich entschuldigte mich mit der Ausrede, dass ich Kopfweh hätte, und folgte Miss Perfekt, die durch den Torbogen verschwand. Ich kassierte zwar einen ungläubigen Blick von Taranee und Jona rollte mit den Augen, doch niemand von ihnen hielt mich auf, als ich ihr nacheilte.

»Nicole! Nicole! Bleib stehen, verdammt noch mal! Nicole!«, rief ich, aber die Blondine beschleunigte ihre Schritte, bevor sie urplötzlich stehen blieb und sich zu mir umdrehte, als hätte sie beschlossen, mir gnädigerweise zu antworten.

»Vertrau ihr nicht, Read. Niemand sollte ihr vertrauen. Du kennst sie nicht, wie ich sie kenne«, schrie sie und zitterte am ganzen Leib. Ihre Gesichtszüge waren zu einer Grimasse verzogen. Schweiß perlte von ihrer Stirn und rollte über ihre Schläfen. Ihre Pupillen waren weit aufgerissen und Strähnen hingen ihr ins Gesicht. In meinen Augen sah sie wie eine Irre aus, die aus einer Anstalt entflohen war. Obwohl ich bezweifelte, dass es in der Psychiatrie Designerschuhe und mintgrüne Kleider gab.

Nach ihrem Ausbruch wandte sie sich ab und lief weiter in Richtung des Mädchentrakts.

»Wem soll ich nicht trauen? Redest du von Regan? Nicole!«, schrie ich ihr nach, doch sie antwortete mir nicht noch mal. Sie ging einfach stoisch weiter und zog ihre Jacke enger um ihren perfekten Körper.

Als die Blondine nicht mehr in Sicht war, klopfte mir jemand auf die Schulter, woraufhin ich zusammenzuckte, weil ich beim Fluchen unterbrochen wurde. Ein Arm schlang sich um meine Taille und drückte mich an seinen harten Körper.

 

»Wenn du mich fragst, hat sie den Verstand verloren«, meinte Hunter und küsste meinen Hals. Ein angenehmer Schauer jagte über meinen Rücken und ich lehnte mich in die Umarmung. Meine Hände platzierte ich über seinen und schloss die Augen. »Seit Wochen sieht man sie nur noch alleine irgendwo sitzen, wenn sie überhaupt einmal ihr Zimmer außerhalb der Unterrichtszeit verlässt. Außerdem hat der Psychologe eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihr festgestellt. Sie weiß wahrscheinlich nicht, wovon sie redet.«

Der Schwarzhaarige versuchte mich immer weiter von der Unzurechnungsfähigkeit der früheren Oberzicke zu überzeugen. Zugegeben, sie zickte immer noch zu viel, aber darum ging es gerade nicht. Ich wusste, dass Hunter mich nur beruhigen wollte, aber wahrscheinlich hatte er auch recht. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass Nicole keinesfalls einfach nur verrückt geworden war. Das passte nicht zu ihr. Sich zurückziehen, die Welt hassen und um sich schlagen – okay. Aber durchdrehen? Das war nicht der Stil der Höllenhexe.

Sie klang zu aufgewühlt, fast panisch. Als erwarte sie, dass etwas Schreckliches passieren würde. Außerdem konnte ich keinen Wahnsinn in ihren Augen sehen, sondern nur entsetzliche Angst. Ich nahm mir vor, mit Tara über Nicole zu sprechen, um sie um ihre Meinung zu bitten, und legte das Thema währenddessen ad acta. Solange die Eisprinzessin nicht mit mir reden wollte, konnte ich sowieso nur spekulieren.

»Du hättest bei den anderen bleiben sollen«, meinte ich, als Hunter begann sich meinen Hals hinunter zu küssen und meine Gedanken stoppte. Mit einem einzigen Kuss schaffte er es, dass ich die Welt um mich herum vergaß. Nicoles Gefühlsausbruch und das Gespräch mit Regan waren mit einem Mal weit weg. Nur noch die Lippen meines Gemahls hatten eine Bedeutung. Ich seufzte wohlig. So könnte das Leben von mir aus immer sein. Mit Schwung drehte mich der jüngere Morgan-Bruder zu sich und küsste sich von meiner Schulter zu meinen Wangen und schließlich zu meinem Mund. Überall, wo er mich berührte, erwärmte sich meine Haut und mein Blut begann zu kochen. Hunter schmeckte nach dem Eistee, den er zu seinem Mittagessen getrunken hatte, und Kräutern, die immer seinem Duft anhafteten. Der Geruch benebelte meine Sinne und ich lehnte mich dem betörenden Duft entgegen.

»Fresst ihr euch gegenseitig auf oder kommt ihr wie geplant mit nach draußen?«, rief Jona vom Torbogen aus und Taranee schlug ihm gegen den Arm, während meine Mitbewohnerin kicherte.

»Nur noch kurz«, flüsterte mein Gegenüber, als ich mich von ihm entfernen wollte, und gab mir noch einen letzten Kuss hinter mein Ohr.

»Geh mit mir aus!«, forderte er und knabberte an meinem Ohrläppchen. Meine Beine erzitterten und ich schmolz in seinen Armen dahin.

»Was?«, fragte ich leise und erhielt prompt eine Antwort: »Heute. Ich hol dich vor dem Abendessen in deinem Zimmer ab und wir essen an meinem Lieblingsort.«

Hunter sah mich flehend an und drückte mich näher an sich.

Überfordert nickte ich einfach und ließ zu, dass Tara mich am Arm packte, um mich von meinem Gemahl wegzuziehen.

Den restlichen Tag verbrachten wir im Schulgarten, wobei Taranee und ich schon nach wenigen Stunden gingen, da Tara mir unbedingt bei der Kleiderwahl für das heutige Date helfen wollte. Wenn ich gesagt hätte, dass ich nicht nervös gewesen wäre, hätte ich gelogen. Meine Knie zitterten bei jedem Schritt und meine Zimmergenossin musste mir oft dreimal dieselbe Frage stellen, da ich viel zu abwesend war, um sie beim ersten Mal zu verstehen. Natürlich versuchte ich mir einzureden, dass es sich nur um Hunter handelte und er mich nicht abstoßen würde, falls etwas nicht nach Plan verlief. Aber in mir war dieser Drang, dass alles perfekt werden sollte. Nach gefühlt tausend Kleidern, die ich laut Taranee anprobieren musste, und hundert Schuhen, die alle meiner Meinung nach gleich aussahen, hatte ich endlich etwas Passendes zum Anziehen gefunden. Als ich zum letzten Mal, bevor der Schwarzhaarige mich abholen kam, in den Spiegel sah, trug ich eine schwarze Röhrenjeans und einfache schwarze Sneaker. Kombiniert mit dem kräftigen Rot des Shirts, das nur bis knapp oberhalb meines Bauchnabels reichte, ließ es mich ein wenig wie eine Rebellin aussehen. Tara hatte mir die Haare hochgesteckt und mir Ohrringe geliehen, die zu meinem Ring, den ich nie abnahm, passten. Selbst ich fand mich in diesem Moment, als Hunter an unser Pentagramm klopfte, wunderschön. Ich war dankbar, dass Taranee öffnete, da ich so noch kurz Zeit hatte mir eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen und mir selbst entgegenzulächeln. Nicht nur meine Umgebung hatte sich in den letzten Monaten verändert, sondern auch ich selbst. Ich hatte gelernt, meine Tätowierungen zu lieben, anstatt alles zu verfluchen, wofür sie standen. Nun war ich eine Hexe, oder war immer schon eine gewesen, und ich liebte es, mehr zu sein als eine durchschnittliche, unsichtbare Schülerin, die einer geschwätzigen Blondine hinterherrennt, weil sie sonst niemandem zum Reden hatte.

»Wow«, flüsterte Hunter, der hinter mich getreten war und fuhr über meine Ellbogen, während er mich im Spiegel betrachtete.

»Du siehst hübsch aus, Prinzessin«, hauchte er gegen meine Schläfe und küsste mich auf den Scheitel. Ich hatte mich selten so perfekt gefühlt wie in diesem Moment. Früher, als ich noch ein Niemand gewesen war, hatte ich nicht auf mein Äußeres geachtet, da mich niemals jemand registriert hatte. Doch Hunter sah mich und was noch wichtiger war: Ich wollte von ihm gesehen werden. Ich wollte, dass er mich hübsch fand und seinen Blick nicht von meinem Körper abwenden konnte.

»Können wir?«, wollte er wissen und nahm meine Hand in seine. Schnell rief ich Taranee, die sich auf ihr Bett gelegt hatte und ein Buch las, eine Verabschiedung zu und wurde im nächsten Augenblick schon von meinem Date aus dem Raum gezogen. Lachend lief ich dem Schwarzhaarigen hinterher und war im Nachhinein froh, dass meine Mitbewohnerin mir die flachen Schuhe eingeredet hatte, weil ich sonst nicht mit Hunters schnellem Tempo hätte mithalten können. Er stoppte vor dem einzigen schwarzen Pentagramm des Ganges und klopfte mehrere Male gegen die rechte obere Spitze, obwohl der Durchgang durch die schwarze Farbe deutlich als verboten für Schüler gekennzeichnet war. Es rauchte wie bei einem Spezialeffekt unter der Mauer hervor und die Wände öffneten eine Lücke, während sich zeitgleich Stiegen aus dem Putz formten. Trotz der Veränderungen war kein Mucks zu hören. Erstaunt riss ich die Augen auf, weil ich nicht glauben konnte, wie viel Magie sich täglich um mich herum befand. An dieser Schule entdeckte ich wirklich jeden Tag etwas Neues und manches erschreckte mich immer noch, obwohl ich das Schulgebäude schon seit Wochen mein Zuhause nannte.

»Kaum jemand weiß davon, deshalb ist es schön ruhig«, meinte Hunter und lächelte belustigt, als er meine geweiteten Pupillen bemerkte. Galant vollführte er eine Verbeugung und ließ mir den Vortritt, sodass er meine Rückansicht genießen konnte. So schnell wie möglich rannte ich die Treppe hinauf, da mich meine Neugierde fast umbrachte. Ich wollte wissen, was sich der Charmeur für unsere erste richtige Verabredung ausgedacht hatte. Bis jetzt hatte er zu keinem meiner Freunde ein Wort über seine Pläne verloren. Selbst aus Hunters Bruder war nichts herauszubekommen.