Valla - Zwischen Hölle und Fegefeuer

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»Also liegt es nicht an dem Kuss zwischen ihm und dir?«, hakte Silvania nach, als ich noch einen Schluck trinken wollte. Doch noch bevor ich es schlucken konnte, spuckte ich die Flüssigkeit fontänenartig aus. Kein Tropfen landete wieder in der Flasche, die ich reflexartig von meinem Körper riss. Dafür ergoss sich das Wasser auf dem schwarz-grau marmorierten Boden.

»Kuss? Welcher Kuss?«, wollte ich panisch wissen und versuchte, mir das Ereignis wieder in Erinnerung zu rufen. Doch keiner hatte uns gesehen. Niemand konnte es ihr erzählt haben. Aber woher wusste sie es dann? Oder war das ein Test? Hatte sie nur spekuliert und ich war darauf reingefallen?

»Oh, bitte, leugne es gar nicht erst. Nik und ich haben euch damals gesehen, als wir ...« Sie stoppte, wie so oft, wenn es um Nikolai Pyron ging. Ich hatte noch nie Sex gehabt, geschweige denn einen One-Night-Stand, aber ich kannte das Konzept. Rein, raus, rein, raus. Dass dieser Vorgang so besonders sein sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Und schon gar nicht konnte ich glauben, dass eine intelligente Dämonin wegen einer Nacht einem Typen über zwei Jahre hinweg nachtrauerte. Doch sie tat es und kam einfach nicht von ihm los. Dabei hatte ich alles versucht, um sie auf andere Gedanken zu bringen: Blind Dates, Partynächte, Doppeldates, die vor allem für mich ein Horror gewesen waren, und ich hatte ihr sogar eine Einladung für die Schülerorgien zum Jahresabschluss besorgt. Nichts hatte funktioniert. Immer noch ging es Nikolai hier, Nikolai da. Es war frustrierend.

»... als wir auf dem Weg ins Bett waren. Du weißt schon, an Samhain«, beendete sie ihren Satz und mir wurde schlagartig eiskalt.

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Zunge fühlte sich taub an, als würde jemand dafür sorgen, dass ich nicht sprechen konnte. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Ich zitterte. Das war Folter. Es war, als würde eine unsichtbare Hand nach meinem Herzen greifen und es zerquetschen. Wie konnten wir so unvorsichtig sein? Wenn sie uns gesehen hatten, wer wusste schon, wer sonst noch? Es könnte jeder mitbekommen haben. Aber es war so lange her, richtig? Wenn es mehr Beobachter gegeben hätte, dann hätten sie uns schon damit konfrontiert. Alles war gut. Ich durfte nur nicht die Nerven verlieren. Schön, Sil hatte es mitbekommen, aber es war kaum etwas passiert. Diese Geschichte würde meinem Ansehen nicht weiter schaden. Er würde mir nicht weiter schaden.

»Nein«, antwortete ich, als ich meine Stimme wiederfand. Allerdings verbesserte ich mich, da mir klar wurde, dass es keinen Zweck hatte, es abzustreiten. »Ich meine, ja.«

Ich bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen und das Chaos zu bekämpfen, das in meinem Innersten wütete. Es gelang mir nicht. Hunderttausend Szenarien gingen mir durch den Kopf. Von Silvania, die mich anklagend ansah und wissen wollte, weshalb ich es ihr nicht gesagt hatte. Von Nik, der mit seinen Freunden über die dumme Dämonin lachte, die dachte, dass ein betrunkener Kuss auf einer Party eine tolle Idee war. Von Elijah, der erzählte, dass ich nicht küssen konnte. Von meinem Dad, der mich enttäuscht fragte, warum ich nichts richtig machen konnte. Da hatte ich einen Teufelsanwärter an der Angel und ließ ihn ziehen. Es würde nicht helfen, ihm zu erklären, was Elijah für ein Mann war. Ich wäre schuld. Und vermutlich hatte er damit auch Recht. Hätte ich auf der Party die Beine breit gemacht und das Kondom abgezogen, ohne dass Elijah es mitbekommen hätte, wäre ich bei dem Angriff der Engel schwanger gewesen. Ich hätte sein Baby erwartet und hätte ausgesorgt gehabt, ob der Kindsvater weiter etwas mit mir zutun haben wollte oder nicht. Aber das hatte ich nicht gewollt. Berechnende Frauen, die Männern ungewollte Kinder unterschoben, um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, war eher eine menschliche Masche. Und ich wollte nicht menschlich sein. Ich war stolz, eine Dämonin zu sein, und ich wollte der Hölle dienen.

»Der Kuss war vor dem Angriff der Engel«, nuschelte ich erklärend, sodass es mich wunderte, dass Silvania mich verstand. Doch da sie mir antwortete, hatte sie wohl keine Probleme, mein Gemurmel zu entziffern.

»Und das ist wichtig, weil ...?«, fragte sie und setzte sich wieder in Bewegung, als das Ende der Freistunde durch einen Schrei verkündet wurde. Es klang wie das Flehen eines Mannes, bevor er starb, aber an einer Schule, die sich selbst die Akademie der sieben Todsünden nannte, störte sich niemand daran. Nichtsdestotrotz hatte ich mir nicht nur einmal die Frage gestellt, wo die gequälte Stimme aufgenommen worden war, die den Schulalltag einteilte.

»Weil Elijah Dämonen hasst und der Kuss unbedeutend war. Es war nichts. Wir waren betrunken und es stand niemand anderer zur Verfügung.«

Lüge. Viele Schüler in meinem Alter hatten die Party besucht, immerhin war es die Letzte gewesen, bevor wir unsere Aufgaben zugeteilt bekommen hatten. Deshalb war auch ich dort gewesen, obwohl ich Feten sonst wie Krankheiten mied. Von allen Dämonen war ich wohl diejenige, die am wenigsten in das Klischee der saufenden, drogennehmenden Nutten-Dämonin im schwarzen Lederkostüm passte, das sich die Menschen zurechtgelegt hatten. Ich trank nicht, Drogen waren mir suspekt und Leder war schrecklich unpraktisch. Doch an diesem Tag war alles anders gewesen.

***

Ich trug ein schwarzes Sommerkleid, das knapp meine Knie verdeckte und genug Ausschnitt zeigte, um den Ansatz meiner Brüste nicht zu verstecken. Außerdem sparte es den Rücken großzügig aus, sodass meine Haut nur durch meine Haarpracht geschützt wurde, die zu einem Zopf zusammengebunden war.

Sil war schon vor Stunden mit einem gut aussehenden Teufelsanwärter verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Dennoch fehlte sie mir nicht. Ich amüsierte mich auch ohne sie gut, obwohl ich am Anfang des Abends Sorge hatte, dass ich allein in einer Ecke enden würde. Doch so war es nicht.

Irgendeine Dämonin hatte mir einen Drink, der in grellen Farben leuchtete, in die Hand gedrückt, mich am Arm gepackt und ins Getümmel gezogen. Ich wusste nicht, ob wir uns kannten, aber so schnell, wie sie aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder und ließ mich auf der Tanzfläche stehen. Also hatte ich zwei Möglichkeiten: gehen oder mitmachen. Als auch noch mein Lieblingslied Schöne Grüße aus der Hölle erklang, war klar, dass ich nicht den Schwanz einziehen würde. Ich bewegte meinen Hintern im Takt der Melodie, sodass die Flüssigkeit in meinem Glas gefährlich hin und her schwappte, doch ich schaffte es, nichts zu verschütten. Ich warf meine feuerroten Haare zurück, schloss die Augen und gab mich den Klängen hin.

Ich wusste nicht, wann ich beschlossen hatte mitzusingen, und ich bemerkte auch kaum, dass die Tanzfläche immer leerer wurde, während ein Song nach dem anderen spielte. Langsam wurde mir heiß. Ich spürte, wie ein Schweißtropfen über meine Schläfe lief und dass ein feuchter Film meine Haut benetzte. Trotzdem hörte ich nicht auf. Ich war wie im Rausch, und zwar im doppelten Sinne. Der Alkohol zeigte endlich seine Wirkung. Er zirkulierte in meinen Blutbahnen und benebelte meinen Verstand. Es war, als würde jemand einen Filter über mein Gehirn legen. Das Denken fiel mir plötzlich schwer und mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Die Farben um mich schienen heller zu strahlen und die Musik dröhnte lauter in meinen Ohren. Doch ich war zufrieden. Es war fantastisch, als wäre ich zum Tanzen geboren. Selbst die großen Hände, die auf einmal von hinten meine Hüfte umfingen und mich an einen anderen Körper zogen, machten mir nichts aus. Ich schwang den Hintern schneller und rieb meinen Rücken an der nackten Brust meines Tanzpartners. Mir war nicht klar, wann er sein Shirt verloren oder ob er überhaupt eines getragen hatte. Doch ich war unendlich dankbar, ihm so nahe sein zu können. Ich spürte die Muskeln, die sich an meine Wirbelsäule schmiegten, und das kalte Eisen der Gürtelschnalle, die sich fast schmerzhaft in mein Steißbein drückte. Der Geruch nach Lagerfeuer hüllte mich ein und weiche Lippen, die noch hitziger waren als mein glühender Körper, küssten meine Schulter. Die Berührung war flüchtig, als würde er abwarten wollen, wie ich reagierte. Doch ich tat nichts, außer mich näher an ihn zu drängen, um mehr von dem Gefühl zu bekommen, das sich in mir ausbreitete. Es ließ mich schweben.

Ein undefinierbares Kribbeln durchzog meinen Magen, meine Hände zitterten vor Aufregung und dennoch war jeder meiner Muskeln entspannt. Ich schloss die Augen und blendete die Tanzenden um uns herum aus, während der Unbekannte sich eine Spur von meiner Schulter zum Hals küsste. Seine Hände wanderten in der Zwischenzeit vom Becken zu meinem Bauch und umschlangen mich, sodass ich mich nicht mehr von ihm lösen konnte. Ich wollte es auch gar nicht. Ein Stöhnen kam über meine Lippen, das ich nicht unterdrücken konnte, und ein tiefes Lachen erklang. Ein Schauer jagte über meinen Rücken, als ich seinen Atem an meinem Nacken fühlte, und ich genoss die Wärme, die sich in meinem Schoß ausbreitete.

»Würde ich den Teufel betrügen, wenn ich eine Schönheit wie dich mit einer Göttin vergleichen würde?«, fragte eine rauchige Stimme, die ich unter tausenden wiedererkannt hätte.

Elijah Reaver. Sport-Ass, Beschwörungsgenie und begehrtester Junggeselle der Hölle. Niemand kannte sich so gut mit Geistern, Tötungsarten und Teufelsanbetungen aus wie er.

Mein Körper versteifte sich und das Lächeln auf meinem Gesicht gefror. Geistesgegenwärtig hielt ich mein Getränk fester, um es nicht fallenzulassen. Das Hochgefühl verschwand und ich riss überrascht die Augen auf. Dass Elijah Partys mochte, war bekannt, aber normalerweise hielt er sich bedeckt. Er tanzte nicht und knutschte nicht mit irgendwelchen Mädchen in dunklen Ecken, geschweige denn mitten auf der Tanzfläche. Sein Verhalten verwirrte mich. Wieso war er hier, bei mir, anstatt mit seinen Freunden zu feiern? Und weshalb hatte er mich wie eine Geliebte liebkost?

 

Seine Arme gaben mich frei, als hätte er meine veränderte Stimmung bemerkt. Er löste sich von meinem Körper, jedoch stand er immer noch nah genug hinter mir, dass ich seinen Geruch wahrnehmen konnte.

»Stimmt etwas nicht?«, raunte er mir ins Ohr und ich fühlte, wie seine Fingerspitzen meinen Unterarm entlang strichen. Es kitzelte, aber war nicht unangenehm.

Er nahm meine Hand in seine und drehte mich zu sich, sodass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als meine gelben Augen in seine roten starrten. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine Lippen, als er meine starren Züge bemerkte.

»Was machst du da?«, fragte ich leise und wiederholte die Frage lauter, nachdem Elijah mich verwirrt ansah.

Da meine Stimme wieder von den hohen Tönen der Musik verschluckt wurde, beugte ich mich näher zu ihm, um nicht schreien zu müssen, wodurch meine Brüste gegen seinen Oberkörper drückten.

»Wonach sieht es denn aus?«, antwortete er und sein Grinsen wurde breiter, während er seine Hände wieder um mich schlang und sie auf meinem Hintern platzierte.

»Als würdest du mich anbaggern«, entgegnete ich und biss mir auf die Unterlippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken.

Sanft streichelte sein Daumen über meinen Po, wodurch der seidige Stoff meines Kleids an der Haut rieb.

»Und ist das schlimm? Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen ...« Bevor er seinen Satz beenden konnte, wurde er von einem Dämon unterbrochen, der ihn von der Seite anrempelte.

Elijahs Stirn knallte schmerzhaft auf meine und ich ließ geschockt mein Glas fallen, das auf dem Boden aufschlug und in hundert kleine Teile zersplitterte. Die Flüssigkeit verteilte sich unter meinen Füßen und einige Spritzer fielen auf meine Unterschenkel. Der betrunkene Dämon nuschelte eine Entschuldigung, die nur aus zusammenhanglosem Gebrabbel bestand, bevor er mit einem dümmlichen Grinsen an uns vorbei torkelte und in der Menge verschwand.

»Alles in Ordnung?«, fragte Elijah, scannte mich jedoch trotz meines Nickens auf Schnittverletzungen, bevor er weitersprach. »Lass uns an einen anderen Ort gehen. Schon peinlich, dass einige ihre eigenen Grenzen nicht einschätzen können.«

Seine Miene war grimmig und seine Stimme klang angespannt, als müsste er sich zurückhalten, dem Typen nicht nachzulaufen, um ihm eine zu verpassen. Ein harter Zug lag auf seinen Lippen und ich konnte sehen, wie sich sein Kiefer anspannte. Einen Moment schaltete sich mein Gehirn wieder ein und teilte mir mit, dass es keine gute Idee war, die Party zu verlassen, um mit Elijah allein zu sein. Nicht, weil ich glaubte, dass er mich in seinem Zorn auf den Betrunkenen verletzten würde, sondern weil mein Unterleib sich bei dem Gedanken daran freudig zusammenzog. Nichtsdestotrotz ließ ich mich von ihm durch den Saal dirigieren und ignorierte die Stimme in meinem Kopf, die wie mein Dad klang und mir erklärte, dass Spaß der größte Feind von Pflichtbewusstsein war.

»Alles gut? Du siehst nervös aus«, meinte Elijah, nachdem er mich in einen leeren Raum geschleppt hatte, der große Ähnlichkeit mit einem Weinkeller aufwies. Unzählige Flaschen stecken in runden Öffnungen an der Wand und warteten darauf, getrunken zu werden. Vermutlich würden die Feiernden die Hälfte heute vernichten.

»Gibt es einen Anlass dafür?«, wollte ich wissen und war mir bewusst, wie naiv meine Frage klang.

Natürlich gab es einen Grund dafür, dass mein Herz gegen meine Brust hämmerte und meine Unterlippe zitterte. Seit Wochen war mir Elijah immer wieder über den Weg gelaufen. Wir hatten geredet, zusammen gegessen und das eine oder andere Mal gemeinsam gelernt. Das Ergebnis davon war, dass ich ihn nicht so abstoßend fand wie den Rest der Teufelsanwärter und Dämonen, die um meine Aufmerksamkeit buhlten. Vielleicht, weil er genau das nicht tat. Er versuchte nicht, sich unter scheinheiligen Vorwänden aufzudrängen. Elijah sagte direkt, was er dachte und was er wollte. Bei ihm musste ich keine Angst haben, etwas falsch zu machen, weil er es mir sofort mitteilte, wenn ihm etwas nicht passte. Anders als andere, die hinter meinem Rücken über mich lästerten. Die Zeit mit ihm war einfach schön. Aber noch nie war es so wie heute. Zwischen uns herrschte eine Spannung, die greifbar war, ich aber nicht zuordnen konnte.

»Ich bin nervös«, gestand er und seine Miene erhellte sich. Das zornige Glitzern verschwand aus seinen Augen und er fuhr sich mit der Hand durch die Stirnfransen, sodass sie ihm ins Gesicht fielen.

»Warum?« Mein Mund war staubtrocken. Hier war es noch wärmer. Dabei war es auf der Tanzfläche schon beinahe unerträglich gewesen. Trotzdem hatte ich nicht das Bedürfnis, gleich wieder zu gehen.

»Ich stehe mit der schönsten Frau, die ich je gesehen habe, allein in einer Kammer. Sie scheint nichts dagegen zu haben, wenn ich sie anfasse. Ich will sie um den Verstand küssen. Das ist alles, woran ich denken kann. Wie sollte ich da nicht nervös sein?«

Elijahs Stimme klang rau, als hätte er Rasierklingen verschluckt, und er löste seine Finger von meinen, um seine Hand in den Nacken zu legen. Er umschloss sanft mein Genick und streichelte mir über die Wange, die vom Alkohol und der Hitze knallrot sein musste. Doch diesen Umstand ignorierte ich. Er fand mich schön. Egal, ob mit rötlichen Wangen oder nicht.

»Wieso tust du es dann nicht?«, fragte ich atemlos und presste meine Unterschenkel näher aneinander, um das Pochen zu stoppen, das in meiner Mitte immer schlimmer wurde.

»Ich will sichergehen, dass sie es auch so sehr möchte wie ich. Aber lange kann ich nicht mehr warten. Der Drang, ihr nahe zu sein, wird immer stärker.«

Elijah übte leichten Druck auf mein Genick aus, sodass er mich näher zu sich ziehen konnte. Die Stirn legte er an meine und seine freie Hand wanderte an meinem Rücken hinab. Ich spürte seinen Atem an meinen Lippen und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, während er seine schloss und tief die Luft einsog, als würde er meinen Geruch aufnehmen. Noch nie war ich so froh, auf Sil gehört und vor der Fete geduscht zu haben.

Elijah neigte den Kopf, bis seine Nase neben meiner ankam und unsere Gesichter noch näher beieinander waren. Aus dieser Entfernung konnte ich jedes Detail seines Gesichts sehen. Die kleine Narbe über der Augenbraue, das Muttermal auf der Schläfe, das nicht mehr war als ein stecknadelgroßer Punkt. Nichts blieb mir verborgen. Aber am meisten faszinierte mich der zufriedene Gesichtsausdruck, den er zur Schau stellte. Grübchen zierten die Mundwinkel und seine Lippen waren leicht geöffnet. Ein wenig sah er aus, als würde er schlafen, auch wenn ich wusste, dass er wach war.

»Und ich bin schwach. Ich weiß nicht, wie lange ich noch widerstehen kann«, murmelte er und senkte sein Kinn, sodass sein Mund über meinem schwebte.

Uns trennten nur noch wenige Millimeter. Ich brauchte nur eine winzige Bewegung zu machen und wir würden uns küssen. Doch wollte ich das auch? Jetzt waren wir Freunde. Oder zumindest freundschaftliche Bekannte. Aber wie würde es morgen sein? Noch konnten wir tun, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen, solange wir nicht weitergingen. Doch wenn er mir meinen ersten Kuss stahl, war ich mir sicher, dass ich nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehen würde, würde ich an diesen Moment denken. Wie seine Lippen sich auf meinen angefühlt hatten, meine Hände seinen Körper erkundet und welche Gefühle er in mir ausgelöst hatte. Aber war das so schlimm?

Hin und hergerissen seufzte ich und versuchte, das Klopfen meines Herzens, das mir befahl, ich solle ihn küssen, zu ignorieren, um klar denken zu können. Ich musste eine Entscheidung treffen. Am besten sofort. Er wartete bereits viel zu lange auf eine Antwort. Die Stille lag wie ein Damoklesschwert über uns. Sie war grausam, beinahe erdrückend. War es immer so? Wenn ja, verstand ich endlich die Menschen, die sich tagelang weinend einschlossen oder ihrem sinnlosen Leben ein Ende bereiteten, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen, um über eine missglückte Liebesbeziehung hinwegzukommen. Doch die Frage erübrigte sich von selbst. Elijahs Augen öffneten sich, als von mir keine Reaktion kam, und seine Lachfältchen glätteten sich. Das Glühen in seiner Iris verschwand und ein grauer Schleier legte sich über sie, sodass das rote Flimmern den Glanz verlor.

Er löste sich von mir und wollte sich zurückziehen, doch ich legte meine Hand auf die Mulde, in welcher der Rücken in seinen Hintern überging, und atmete einmal tief durch. Es war nicht schwer. Eigentlich war es ganz einfach. Ich war diejenige, die es unnötig verkomplizierte. Ich mochte ihn. Ich wollte ihn. Was sollte passieren? Wen kümmerte es, was morgen geschah?

»Dann widerstehe dem Drang nicht«, säuselte ich.

Kaum hatte ich meinen Satz beendet, überbrückte Elijah das letzte Stück und seine Lippen prallten auf meine, als würden sie magnetisch voneinander angezogen werden.

Der Kuss war nicht zärtlich. Er war von Anfang an wild. Hungrig. Als würden alle Emotionen, die wir zurückgehalten hatten, herausbrechen und uns verzehren. Ich keuchte, stöhnte, als seine Hände meinen Körper erkundeten. Überall fühlte ich seine Fingerspitzen, die unendlich sachte meine Haut berührten. Am Rücken, auf meinem Hintern und an den Armen. Gierig küsste er mich, sodass es beinahe schmerzhaft war. Ich spürte seine Zähne, die meine Lippen streiften, und hörte ihn animalisch knurren. Es war wie ein Grollen, das tief aus seiner Kehle aufstieg. Jedoch ängstigte mich das Geräusch nicht. Es stachelte auch mich an, alle Hemmungen fallenzulassen.

Fahrig fuhr ich mit den Händen über seine Muskeln, während seine Zunge fragend über meine Unterlippe strich, bis ich ihm Einlass gewährte. Sofort nahm sein Geschmack mich in Beschlag. Die Mischung aus kühlem Bier, Schokolade und einer Komponente, die ich nicht benennen konnte, machte süchtig. Jedes Härchen auf meinem Körper stellte sich auf. Ich war wie elektrisiert. Ich wollte mehr. Alles. Aber auf keinen Fall wollte ich, dass er mich je wieder losließ.

***

Ironisch, oder nicht? Es war der perfekte Augenblick gewesen. Ich hatte mich nie so wohl gefühlt wie in diesem Moment. Noch nie hatte ich davor meinen Verstand abgeschaltet und meine Existenz einfach genossen. Ich hatte die Frage, was morgen sein würde, mit einem Schulterzucken abgetan und mich von meinen Gefühlen leiten lassen. Und was hatte es mir gebracht? Ich war nie wieder auf eine Party gegangen. Mich hatte auch niemand mehr eingeladen, während Elijah es sich zur Aufgabe gemacht hatte, an jeder Zusammenkunft teilzunehmen und jedes Mal ein anderes Mädchen abzuschleppen. Ich war die Erste gewesen, aber im Grunde eine von vielen. Und danach hatten wir nicht mehr miteinander gelernt, gegessen oder uns auch nur unterhalten. Alles war anders geworden. Elijah hatte mich verraten und ich musste erkennen, dass die Liebe trügerisch war und sie unsere Herzen vergiftete.

»Schade eigentlich, dass es nichts bedeutet hat. Du bist immer so steif, Valla«, sagte Silvania, stibitzte sich die Flasche aus meiner Hand und nahm einen kräftigen Schluck.

Zeitgleich gingen wir auf das große, rote Pentagramm zu, das den Eingang zum Klassenzimmer kennzeichnete. Der fünfzackige Stern war mit Blut von Verbrechern an die Wand gemalt worden und wurde einmal jährlich erneuert, damit er nicht verblasste. Gerade an den ersten Tagen stank es deshalb im ganzen Gebäude nach Eisen, weil die Belüftungssysteme nichts gegen die Aromen tun konnten, die das veraltete Blut verströmte. Doch das letzte Mal musste schon eine Weile her gewesen sein. Ich roch Schwefel, Weihrauch und Myrrhe – der typische Geruch der Hölle.

»Steif? Wie darf ich das verstehen?«

Verwirrt sah ich sie an, während ich mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die Mitte des Pentagramms drückte und ein Klicken erklang. Kurz darauf rumorte das Gebäude. Die Wand vor uns ächzte und weißer Rauch schien von den Mauern aufzusteigen. Es knarrte. Putz löste sich an der Stelle, an der die Wand mit dem Boden verwachsen war, und zwei parallele Risse, die einen Durchgang markierten, wurden sichtbar. Vor unseren Augen bröckelte die Mauer weg, bis auf dem Marmor ein Haufen Gestein lag und das Loch groß genug war, um ins Klassenzimmer zu gehen. Wir passierten den Eingang und hinter uns wurden die Brocken auf magische Weise angehoben, um wieder eine Wand mit dem Pentagramm darauf zu formen.

»Gefühllos, kalt, hart – such dir eins davon aus. Wir fühlen, Valla. Ja, auch Liebe, obwohl wir Dämonen sind. Finde dich damit ab und kämpfe nicht dagegen an. Denk nur mal an den Teufel. Selbst er hat seine große Liebe in Eva gefunden«, argumentierte Silvania und ging nach hinten ans Ende des Zimmers, um so weit wie möglich von unserem Prüfer, Meister Asmodäus, entfernt zu sein.

 

Sie ließ sich auf einem Stuhl aus menschlichen Knochen nieder und legte ihre Tasche vor sich auf den Tisch, der ebenfalls aus Überresten der Menschen bestand. Zum Glück hatten wir heute älteres Mobiliar erwischt. An den Neueren waren manchmal noch Fleischrückstände zu finden, weil sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Knochen vor dem Zusammenbauen zu säubern, wenn die Leichenteile aus dem Folterkeller der Hölle geliefert wurden. Es schien sich auch niemand über den süßlich-faulen Geruch zu beschweren, wenn das Fleisch zu verrotten anfing. Doch ich hasste es, wenn ich meine Notizen auf den Tisch legte und sie anschließend mit Blutresten besudelt waren.

»Die er aus Gier Adam stahl, um mit ihr Lilith zu zeugen, mit der er dann hunderte Nachkommen fabrizierte«, erwiderte ich und verdrehte die Augen, um Sil zu zeigen, dass ich ihre Argumentation lächerlich fand.

Der Teufel hatte sicher Wichtigeres zu tun, als Liebesverse zu verfassen und Frauen zu umgarnen. Und ich bezweifelte, dass ein Mann, der seit einer Ewigkeit täglich eifersüchtige Mörderinnen, Pädophile, Betrüger und Vergewaltiger bestrafte, sich für die Liebe öffnen könnte. Wenn man die tiefsten Abgründe sah und wusste, was einige unter dem Deckmantel der Liebe bereit waren zu tun, war das abschreckend genug, um nie wieder jemandem seine innersten Gefühle zu offenbaren.

»Aber er hat sie geliebt. Außerdem ist das Jahre her und seit über einem Jahrhundert hat er kein Kind mehr bekommen. Es wird gemunkelt, dass er sich wieder verliebt hätte. So, wie ich Nikolai liebe. Aber du denkst immer nur an die Arbeit.«

Ich zuckte bei Silvanias Worten zusammen und erntete von ihr einen entschuldigenden Blick, der mir zeigte, dass sie sehr wohl wusste, was sie damit in mir auslöste. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und eine seltsame Leere machte sich in mir breit, die immer Besitz von mir nahm, wenn die Kinder des Teufels zur Sprache kamen. Musste Sil gerade heute auch noch in dieser Wunde bohren? Reichte es nicht, wenn Elijah mir wieder einmal vor Augen geführt hatte, dass er mein Leben zerstört hatte? Ich hatte so eine große Zukunft vor mir gehabt und dann, von einem Tag auf den anderen, hatten alle gehofft, dass der Dämonenstein mir keine Aufgabe zuteilen würde, damit ich von der Bildfläche verschwand. Wenn es nur so gewesen wäre. Na gut, das war übertrieben, immerhin liebte ich es hier und hätte mir nicht vorstellen können, zwischen all den Menschen zu leben, ohne mich an meine Familie zu erinnern. Aber war die Alternative besser? Ich hatte noch den enttäuschten Gesichtsausdruck meines Dads vor Augen, als mir der Stein umgehängt und meine Aufgabe verkündet wurde. Seine Augen waren aus der ersten Reihe starr auf mich gerichtet gewesen, während er aufgestanden war und die Bühne betreten hatte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst gewesen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Zeitgleich hatte ich ihm mit Tränen in den Augen entgegengesehen und gedacht, dass er meine Schmach beenden wollte. Aber ich hatte mich geirrt. Der restliche Saal hatte gelacht.

»Das hat sie verdient«, »Tja das war es mit der Familienehre« und »Ich wusste gar nicht, dass man für nichts gut genug sein konnte«, waren noch die netteren Beleidigungen, die im Raum ertönt waren.

Doch die Stimmen verklangen erst, als mein Dad bei mir ankam, den Stein von meinem Hals riss und mit seiner freien Hand zuschlug. Ich hörte das Klatschen, bevor ein Kribbeln meine Wange durchzog und der Schmerz einsetzte. Trotz des Brennens meiner linken Gesichtshälfte hatte ich noch einige Augenblicke gebraucht, um zu realisieren, dass mein Dad mich nach siebzehn Jahren meines Lebens zum ersten Mal geschlagen hatte. Davor war ich immer seine Kleine gewesen.

Doch seit diesem Tag war jedes nette Wort, das er an mich richtete, eine Besonderheit. Konnte Silvania nicht verstehen, dass ich deshalb so hart arbeiten musste? Mit etwas Glück würden sie mir doch noch eine andere Aufgabe zuteilen, um meine Talente nicht zu vergeuden, wenn ich als Jahrgangsbeste abschloss. Sonst war das mein Schicksal. Ich würde die Beschützerin vom letzten Sohn des Teufels sein, den es gar nicht gab, und würde für die körperliche Unversehrtheit von jemandem zuständig sein, der nicht existierte. Ich durfte zwar in der Hölle bleiben, hatte aber keinen Nutzen.

»Dafür gibt es uns auch«, murmelte ich und versuchte, die Erinnerungen an diesen Tag abzuschütteln. Es reichte, wenn alle anderen mir immer wieder vor Augen führten, dass ich eine Schande war, da musste ich mich nicht auch noch selbst geißeln.

»Wenn nur das unser Lebensinhalt ist, kann mir die Ewigkeit gestohlen bleiben«, sagte Sil ernst und griff nach meiner Hand, damit ich sie ansah.

Die Atmosphäre schlug um. Bis jetzt war es nur ein Gespräch zwischen Freundinnen gewesen. Spontan, leicht, wenn auch nicht immer schmerzfrei. Doch plötzlich schien es viel mehr zu sein. Der Ausdruck auf Silvanias Gesicht passte nicht zu ihrem fröhlichen Wesen. Sie wirkte bedrückt, als würde sie etwas beschäftigen, und sie schaute mich mit tränengefüllten Augen an. Ob sie sich Sorgen um mich machte?

»Wir sollten uns auf die bevorstehende Prüfung konzentrieren«, murmelte ich, entzog ihr meine Hand und blickte starr geradeaus, um sie nicht ansehen zu müssen. Sil und ich sprachen immer über unsere Probleme, aber noch nie zuvor hatte ich den Verdacht, dass sie etwas zurückhielt, um mich mit ihren Worten nicht zu verletzen. Hatte ich mich so stark verändert, dass es besorgniserregend war? Sicher, ich hatte mich in den letzten Monaten zu einer Stubenhockerin entwickelt, die ihre Zeit in der Bibliothek oder ihrem Zimmer verbrachte. Aber ich dachte nicht, dass sich mein Charakter ebenfalls von früher unterschied.

Nachdenklich senkte ich den Kopf und betrachtete meine Hände, die auf der Tischplatte lagen. Vielleicht hatte Sil Recht und ich musste wirklich wieder mehr auf mich achten. Meine Haut war durch die Hitze in der Hölle ausgetrocknet, weil ich sie nicht mehr pflegte, und meine Fingernägel waren so weit abgekaut, dass ich stellenweise Blut sah. Sie waren nicht lackiert, während Sil richtige Muster auf ihren Nägeln hatte. Ihre blauen Haare fielen ihr geglättet über die Schultern und eine Spange, auf der eine schwarze Rose angebracht war, hielt ihre Stirnfransen aus ihrem Gesicht. Meine Haare hingen wirr und zerzaust an mir herunter. Ich hatte sie gestern gewaschen, doch seitdem war keine Bürste mehr in ihre Nähe gekommen. Ich seufzte deprimiert. Mir sollte es nichts ausmachen, keinen Schönheitswettbewerb gewinnen zu können, aber leider tat es das doch.

»Es ist schon ziemlich spät. Vielleicht hat er die Prüfung vergessen«, sagte Silvania und erlöste mich damit von meinen elendigen, sinnlosen Gedanken. Ich würde mich nicht schminken oder früher aufstehen, um mich aufzutakeln. Das war das Einzige, das mir an meinem neuen Leben gefiel.

»Eigenartig. Ich könnte mich nicht erinnern, dass Meister Asmodäus jemals zu spät gekommen wäre«, erwiderte ich und starrte auf das Gestell aus abgetrennten menschlichen Fingern, das eine Uhr darstellen sollte. Unpünktlichkeit passte nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. Selbst nach dem Angriff der Engel hatte er am nächsten Tag zur normalen Zeit den Unterricht gestartet und dabei war seine Frau während des Kampfes ums Leben gekommen. Er war sogar so streng gewesen, dass er trotz der Katastrophe Schüler von der Lerneinheit ausgeschlossen hatte, weil sie nicht rechtzeitig gekommen waren oder angefangen hatten zu weinen. Und nun kam er an einem Tag wie jedem anderen zu spät?