Liebe Familie

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Ihr mitfühlendes Nicken forderte ihn sanft zum Weitersprechen auf. „Na – verglichen mit meiner Kindheit und deiner, Leo, wachsen deine Kinder in einer reinen Idylle auf. In einem Paradies. Mit Chancen, die ein Kind aus einem Waisenhaus nie hätte.“

„Das stimmt nicht. Es gibt Möglichkeiten. Auch für Kinder ohne Geld“, protestierte Zini: „Wenn meine Eltern es nicht finanzieren könnten, würde ich als Stipendiatin loslegen. Könnte ich locker.“ „Ein Kind aus den Slums von Los Angeles weiß nicht unbedingt von Stipendien, Zini. Ich habe meine erste Möglichkeit dennoch gefunden. Im United States Marine Corps.“

„Und du bist ein fantastischer Bodyguard für uns“, lobte Zini ihn sofort. Fred grinste etwas: „Liebes Mädchen, das weißt du doch gar nicht. Wir haben noch nie eine Situation erlebt, in der du einen Leibwächter gebraucht hättest.“ „Du hast aber geholfen, als dieser Spanier mich und Isa von der Seite angequakt hat. Und du hast den Arzt in Frankreich aufgetrieben – für Jace. Und so.“ „Ich werde dafür bezahlt“, seine kühle Ruhe blieb. „Aber du bist jetzt fast immer total lieb und nett zu uns“, brach es aus ihr heraus. Erschrocken hob sie wieder die Hand vor den Mund.

Leona kicherte, auch Fred amüsierte sich: „Ich?“ „Ja. Du. An dem Wochenende, wo ich euch besucht habe und wir tanzen waren und so viel Spaß hatten. Ich habe vorher nicht mal gewusst, wie wi…“ Sie stockte und kniff die Augen zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und guckte betreten.

„Wie witzig es sein kann mit mir? Danke“, das war pure Ironie, doch Zini gluckste erleichtert, weil Fred wieder einmal Humor bewies.

„Seit du Rena hast …“ „Oder seit du etwas erwachsener bist und so reagierst, wie ich es mir vorstelle“, zweifelte er. „Auch eine Möglichkeit. Was meinst du dazu, Mama?“ „Beides“, Leona blinzelte belustigt, äußerte sich aber nicht weiter.

Insgeheim überlegte sie, wie sehr sich Tom über diese Geschichte amüsieren würde, wenn sie ihm das später bei seinem Anruf aus Salzburg wiedergeben würde. Zini und Fred – eine interessante Freundschaft … so unerwartet, wie sie sich zusammen rauften.

***

Da Tom in diesem Jahr eine Oscar-Nominierung für eine Filmmusik erhalten hatte, musste er nach Los Angeles. Leona winkte ab – zu so einer Veranstaltung fehlten ihr die nötigen Nerven, behauptete sie, das sei viel zu viel Öffentlichkeit. Tom brachte zum Glück Verständnis für sie auf.

Gemeinsam überredeten sie Rena, seine Begleitung zu übernehmen, zumal Tom meinte, in der Woche danach beim Filmdreh, in dem er eine kleine Rolle habe als „Phil Williams himself“, könne sie auch noch als Statistin mitmachen. Außerdem hatte er längst Fred engagiert – auch das sprach für Renas Entscheidung.

***

Das Barock-Konzert gefiel Rena und Fred gut. Sie waren bereits zum zweiten Mal in ihrer Abonnementssaison im Großen Sendesaal. Diesmal ging es um Händel, Rebel und Telemann. Es sang die Sopranistin Simone Kermes – ihre großartige Arie weckte riesigen Jubel im Publikum.

Die komplette Heimfahrt über redete Rena über ihre Begeisterung für die 300 Jahre alte Musik. Fred, der bis zu diesem Abend nur ein einziges Mal auf einer von Renas CDs Händels Wassermusik gehört hatte, nickte gelassen dazu, obwohl er ähnlich begeistert wie sie war.

Während er die Haustür aufschloss, seufzte Rena noch einmal: „Ein toller Abend. Und jetzt ist es nur noch eine Woche bis zu unserer Reise nach L.A. – ich könnte glatt tanzen vor Freude“, sie setzte die Worte in die Tat um und wirbelte schwungvoll den Flur entlang mit übermütigen Walzerschritten. Fred sah ihr kopfschüttelnd zu, sagte aber nichts.

Plötzlich entdeckte sie seinen Ernst. „Was ist denn? Ich dachte, du reist gern?“ erkundigte sie sich vorsichtig. „Es ist ja nicht gerade ein Museumsbesuch auf eurem Dorf. Ich arbeite für Tom. Und für dich, um genau zu sein.“

Versonnen schaute sie ihn an. Inzwischen war er seit Jahren nicht mehr „daheim“ gewesen. Ihr Kalifornier mochte den Gedanken anscheinend gar nicht, seine Heimat zu sehen. Zum ersten Mal erkannte sie das deutlich.

Sie legte den Kopf schräg und überlegte genau, wie sie ihre Worte setzen konnte. Bisher hatte sich Fred weder zu dem Oscar-Abend noch zu ihrem inzwischen arrangierten Filmauftritt geäußert.

„Ich denke, es hat sich einiges geändert – seit du mit Tom zuletzt in deinem Job unterwegs warst“, fing sie sanft und langsam an. „Das hat nichts mit dir zu tun. Ich kann durchaus den Job für euch beide machen. Wie in Luzern“, erwiderte Fred ruhig.

Rena sah zur Zimmertür von Felix. Die war nur angelehnt, drinnen alles dunkel. Vermutlich war ihr Bruder nicht da. Dennoch sprach sie leise: „Wenn es ein normaler Job ist, was ist dann dein Problem? Ich bin nur ein paar Sekunden im Film – ich werd‘ nicht berühmt damit, wenn ich als Serviererin ein paar Stars Wasser einschenke.“

Als Fred nur mit den Schultern zuckte, versuchte sie mit einem Scherz, ihn zum Reden zu bringen: „Wirst du den Regisseur erschießen, wenn er mich anranzt? Das wird bestimmt lustig.“

Der ernste Mann ließ sich nicht provozieren. Er schwieg. Nach dem schönen Konzertabend wollte er sich nicht mit ihr streiten. Sie brauchte wohl Zeit und würde bald wieder freundlich sein wie immer. Besser, er ertrug ihren derzeitigen Ärger über seine Wortlosigkeit einfach.

Rena wartete vergeblich auf Widerworte. Sie bezweifelte, diesen Mann jemals zu durchschauen. Im Grunde hatte sie selten auch nur die geringste Ahnung, was er dachte. An seiner Liebe zweifelte sie keine Sekunde, aber perfekt aufeinander abgestimmt waren sie noch lange nicht.

Ob er nicht mehr für Tom und sie arbeiten wollte, weil sie nun seine Freundin war? Er konnte allerdings wirklich nicht von Luft und Liebe leben, und eigentlich ging er sehr vernünftig und gelassen mit allen Veränderungen um. Schon in der Schweiz hatte er beides miteinander vereinbaren können.

Während sie sich die Zähne putzte, überlegte sie weiter. Wo lag der Unterschied zwischen Luzern und Los Angeles? Sie würden Toms Schwester dort treffen. Ingrid Lorraine, genannt Lorry, lebte seit zehn Jahren in der Mega-City. Was war anders an Los Angeles?

Ihre Zahnbürste sank. Nach Janes Tod hatte Fred Los Angeles verlassen, zuerst nach San Diego, dann nach Deutschland. Inzwischen waren fünf Jahre vergangen seit dieser … Flucht?

Sie warf die Zahnbürste ins Waschbecken in einem Anfall von Eifersucht. Es klirrte laut. Das Geräusch brachte sie zur Vernunft. Sie hatte kein Recht darauf, böse zu werden. Fred brauchte ihr Verständnis.

Wie konnte sie ihm helfen, dieses Kapitel abzuschließen? Denn selbst das Wenige, was er ihr erzählt hatte, machte ihr klar, dass noch immer offene Wunden existierten, auch wenn er ihr kaum etwas darüber sagte.

Wieder einmal wünschte sie, erfahrener und älter zu sein, um zu wissen, wie sie mit dieser Situation umgehen sollte. Sie liebte ihn doch so sehr – sie musste es schaffen, ihm zu helfen. Zuerst musste sie den Streit beenden, den sie gerade angefangen hatte. Doch wie? Noch mal mit dem Film anfangen? Oder besser bis zum nächsten Morgen warten?

Fred war die Ruhe selbst. Gelassen und völlig normal wünschte er ihr eine gute Nacht und löschte das Licht, als sie ins Bett kam. „Gute Nacht“, murmelte Rena unglücklich und starrte in die Dunkelheit.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und setzte sich wieder auf: „Es ist ätzend. Soll ich die Klappe halten? Oder darf ich reden? Ich denke ja, wir müssen reden.“ Fred schaltete das Licht wieder an.

Sie sah auf ihn herunter und seufzte. Dieses Ende des schönen Barockmusik-Abends hatte sie sich nicht erträumt.

„Bitte, Fred, rede mit mir.“ „Worüber?“ „Was du denkst. Denkst du, Tom spielt den Filmstar und behandelt dich schlecht? Das hielte ich nicht aus.“ „Ich auch nicht.“ „Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Na, mir ist schon klar, dass ich allein mit Tom zum Oscar-Abend gehe. Also, was heißt allein – ohne dich eben. Aber … denkst du, ich werde dann übermütig? Mit den vielen Filmstars? Dass ich es mag, mit den Schönen und Reichen und Berühmten zusammen zu sein? Mehr als mit dir?“

Nicht alles traf auf den Punkt, doch ein Teil passte. Er kam aus einer der dunkelsten Ecken von Los Angeles – und sie würde nur die Glanzseiten sehen. Für ihn wurden die sozialen Unterschiede deutlicher. Andererseits wusste er, wie bescheiden Serena stets auftrat. Sie strebte nicht nach Ruhm, seine angehende Lehrerin …

„Wir warten besser ab, was passiert, während du in der großen Welt der Filmstars unterwegs sein wirst.“ „Nein. Du musst doch wissen, dass ich nicht über die Stränge schlage. So überspannt bin ich nicht. War ich nie. Und eine Oscar-Nacht mit meinem Stiefvater ändert nix.“ „Es wird dir gefallen.“ „Ja, klar. Aber es heißt nicht, dass ich dich eintausche gegen … Brad Pitt oder Leonardo di Caprio oder … Ich nicht. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Das tue ich“, er musste etwas lächeln, weil sie mit den Händen redete, während sie ihre Filmstars aufzählte.

Diese Spur eines Lächelns genügte dem Mädchen. Sie beugte sich vor und küsste ihn leicht: „Das findest du wirklich witzig, oder, du verrückter Mann? – Was ist es dann, was dich stört?“ „Nicht so wichtig. Für dich nicht, Serena.“ „Du bist mir wichtig.“

Sie schmiegte sich an ihn und zog seine Decke zum Teil über sich: „Was ist es nur?“ „Nichts weiter“, er machte das Licht aus und schloss sie in die Arme: „Nichts, das für dich wichtig sein könnte.“ Für den Moment gab sie auf. Irgendwann erzählte er ihr vielleicht, was ihm wichtig war – und ihr nicht wichtig sein sollte.

***

Sie zogen ins Beverley Wilshire Hotel. Rena gefiel es sofort. Ihr Kleid für den Oscar-Abend wurde in die Suite geliefert. Begeistert betrachtete sie das Kleid, das sie in Absprache mit Tom im Internet bestellt hatte: eine Donna Karan-Kreation in Dunkelblau mit einem durchsichtig weißen Einsatz im sehr tiefen Ausschnitt.

 

„Das probiere ich sofort an“, rief sie in reiner Freude und zog an Freds Arm: „Komm, guck es gleich mit an.“ Er wehrte ab und schaute ihr dann doch etwas unglücklich nach, als die Tür hinter ihr ins Schloss klickte. Tom fing den Blick auf und musste lachen.

„Denkst du, ich trenne euch hier? Dein Job sollte nicht mit Gefühlen kollidieren? Ich meine, deine Arbeit ist leichter, wenn ich mich allein amüsiere.“ „Ich tue, was du für richtig hältst, Sir.“ „Ich halte für richtig, wenn meine Stieftochter glücklich ist – und du bist meine Garantie dafür.“

Darauf ging Fred Myers gar nicht erst ein: „Ich fahre euch zur Verleihung am Sonntag.“ „Nicht nötig, das ist schon organisiert. Ist es okay für dich, wenn ich Rena zur Party schleife hinterher?“ „Selbstverständlich.“

Rena führte ihnen ihr neues Kleid vor und drehte sich schnell, so dass der Stoff um ihren Körper flatterte. Tom lobte ihre Wahl heiter, Fred nickte anerkennend. Sie freute sich darüber.

„Und jetzt springe ich in Jeans, und wir fahren ans Meer, ja?“ „Ohne mich. Ich rufe bei Mama an – dann kann ich auch noch mit den Kindern reden, bevor sie ins Bett müssen. Macht mal allein, ihr zwei.“ „Aber wir sollten …“, fing Fred sofort an. Rena umarmte ihn: „Nein, bitte. Nur ans Meer, ja? Ein kleiner Spaziergang am Strand von Santa Monica, ja?“

Sie spürte es deutlich. So ganz er selbst schien ihr Liebster nicht zu sein. Hatte Jane das Meer womöglich geliebt? Waren das Erinnerungen an eine gute Zeit? Oder konnte er sich nicht entspannen nach dem langen Flug? Nach seiner langen Krankheit im Vorjahr? Ganz fit war er nicht, obwohl er seit Wochen neben der Krankengymnastik auch sein Training wieder aufgenommen hatte.

„Dein schönes Kleid knittert“, sagte er nur tonlos. „Nein, das geht schon. Außerdem haben wir hier auch ein Bügeleisen. Wie geht es dir? Nach dem langen Flug?“

Sie schaute aufmerksam in sein ernstes Gesicht. Ihre besorgte Frage durchbrach die Mauer aus Eis. Er drückte sie an sich: „Mir geht es gut trotz des langen Flugs, Spatz. Das macht mir nichts aus. – Eine Tour an den Strand klingt … gut.“

„Gönnt euch unterwegs einen Restaurantbesuch. Ich bestelle mir hier einen Salat“, empfahl Tom freundlich. „Du willst länger allein sein? Für eine Telefonkonferenz mit Mama“, Renas Lächeln und Zwinkern waren fast schon anzüglich.

Tom lachte und kniff ebenfalls ein Auge zu: „Klar. Telefonsex ist besser als nichts. Haut ab, ihr frechen Gören.“ Kichernd verzog sich Rena mit einer letzten Ermahnung zum Umziehen: „Grüß aber von uns!“ „Okay, wenn es sein muss.“

Fred redete kaum während des Spaziergangs in Santa Monica. Doch er hielt Renas Hand und wirkte gelassen und wesentlich lockerer als zu Beginn ihrer kleinen Tour.

Die Wellen schlugen sachte an den Strand. Sie genossen den Sonnenuntergang und entschieden, den langen Tag zeitig zu beenden, um die immerhin neun Stunden Zeitverschiebung gut zu verkraften.

Ihr Mittagessen am nächsten Tag nahmen sie mit einigen Leuten vom Filmteam ein. Tom bekam das veränderte Drehbuch ausgehändigt. Zudem besprachen sie die Rollen.

Als sie wieder allein in der Suite saßen, schmunzelte Tom: „Mädchen, du hast wirklich viel von deinem Vater. Auch wenn du manchmal wie deine Mama aussiehst, aber dein Charakter ähnelt eher dem von Dennis.“

Rena grinste etwas schief. Die Rührung über dieses Lob traf sie sehr, und der Stiefvater umarmte sie schnell: „Schatz, nicht weinen, bitte.“ „Nein … nur … das wusste ich nicht. Dass ich bin wie er und …“

Kopfschüttelnd klärte Tom sie darüber auf, was er längst wusste: „Du und Zini, ihr seid manchmal komplett wie er. Wenn du immer wieder in die Rolle unserer überaus diplomatischen Madame Balance schlüpfst, um eine Situation zu retten, dann ist das mehr als nur eindeutig ein Charakterzug deines kompetenten Vaters … Das hat deine eher … zündelnde Mama nämlich in der Form gar nicht drauf.“ „Dann … darf ich darauf stolz sein?“ „Das musst du sogar, Liebling.“

Fred stand am anderen Ende des Raumes und sah ihnen zu, ohne sich zu bewegen. Im Alter von 11 Jahren hatte Rena ihren Vater verloren. Sie bewahrte viele schöne Erinnerungen – und hatte ein Grab, das sie besuchen konnte.

Ihr leises, liebevolles Gespräch mit Tom bezeugte einmal mehr, was sie besaß – viel mehr als er. Ohne jedes Wort verließ er das Zimmer. Sie sollten Ruhe für ihren Austausch haben, und er selbst war schließlich ein Fremdkörper in der Familie.

„Hier bist du. Tom ist verabredet. Allison kommt zum Abendessen. Sie fliegt für ein paar Tage her.“ „Aha.“ „Und er braucht uns nicht, falls wir ausgehen wollen. Sagt er. Ich glaube, er will Grandma Ally für sich allein haben. Wir können sie dann zum Frühstück treffen, wenn du magst.“

Sie erwartete, dass er sich zu ihr umdrehte. Doch Fred nickte nur und sah aus dem Fenster. Etwas in seiner Haltung sprach von Einsamkeit. Sie trat näher und umfasste ihn.

„Willst du nicht mit mir reden, Fred? Ich merke doch, wie du dich im Moment mit irgendwas quälst.“ „Ich hasse diese Stadt“, antwortete er kurz und zwang sich zur Ruhe.

„Und? Was noch? Ist es meine Schuld? Mach‘ ich was falsch?“ Besorgt wartete sie auf die Antwort. Er schüttelte nur den Kopf.

Sie schob sich um ihn herum und blickte zu ihm auf. Seine Anspannung war unübersehbar. Doch er schwieg weiter. Sie war seiner Meinung nach viel zu jung, um sich mit seinen Problemen zu belasten. Außerdem musste sie ihr Drehbuch lesen und ihre Rolle lernen, wie klein sie auch war. Manches wollte er ihr nicht zumuten.

Ein halbes Dutzend angstvoller Fragen brannten ihr auf den Lippen, doch sie wagte nicht, sie zu stellen. Vermisste er Jane so sehr, dass er sie jetzt darüber vergaß?

Trotz ihrer Nähe trennte sie im Augenblick sehr viel – Rena fühlte es deutlich. Er hatte sie lange nicht mehr derart konsequent auf Abstand gehalten mit solcher Schweigsamkeit. Ihre Angst wuchs, es könne sich auf ihre Beziehung auswirken, wenn er nicht mit ihr sprach über das, was ihn quälte. Insistieren mochte sie dennoch nicht.

„Fred“, Tom blieb an der Tür stehen und schmunzelte: „Aha. Keine Zeit fürs Training, ich sehe es. Dann laufe ich allein.“ „Nein. Ich komme mit“, Fred schob Rena sanft von sich ohne jedes Zögern.

Sie ließ es sich gespielt ruhig gefallen: „Ich muss dieses Lied noch eine Weile üben. Gut, wenn ihr derweil lauft“, sagte sie freundlich und verriet nicht, wie sehr es schmerzte, wenn Fred sie einfach so stehen ließ, ohne mit ihr zu reden. Ihm fiel es anscheinend leicht, sie auszuschließen von dem, was ihn belastete.

Auch Tom erkannte die kaum spürbare Verwerfung und zog instinktiv den richtigen Rückschluss, als sie unterwegs waren: „Du magst diese Stadt überhaupt nicht, oder? Und dass wir drei hier zusammen sind, noch weniger?“ „Bin ich so unbeherrscht?“ „Nein. Nur zu kühl.“ „Müsst ihr ständig alles und alle analysieren? Wie schön für euch, wenn dann auch noch Allison zu eurer Unterstützung eintrifft.“

Die ernste Stimme klang nicht mehr freundlich, doch sein Laufpartner zuckte nur mit den Schultern. Er überhörte den Sarkasmus. Das reichte aus, Fred fand wieder zu mehr Gelassenheit.

„Sorry. Das war …“ „Ungerecht? Übertrieben? Endlich zeigst du mal wahres Gefühl. Und mit mir musst du nicht reden. Dein Mädel sollte allerdings langsam mal wissen, weshalb du es hasst, hier zu sein.“ Fred antwortete nicht darauf, sondern begann mit einer neuen Übung.

Erst auf dem Rückweg zum Hotel startete Tom einen neuen Versuch. „Wenn du alte Freunde treffen willst – allein – oder das Grab deiner Frau besuchen, dann geh doch einfach nach einem kurzen Wort zu Rena. Sie akzeptiert das sicher.“ Eine Antwort bekam er auch darauf nicht.

Allison wollte mit ihnen allen essen. Strahlend erzählte sie vom Weingut und erkundigte sich nach ihrer Familie in Deutschland. Rena musste ihr von der Uni und der Musikhochschule erzählen. Daran hatte das Mädchen Spaß und quasselte munter drauflos. Tom half ihr lachend, als sie stecken blieb in einer Geschichte, nur Fred saß schweigend dabei.

„Und wie kommst du als Studentin mit deinem großen Bruder und deinem Hauswirt klar?“ neckte Ally. Rena fasste nach Freds Hand: „Er passt auf mich auf. Fix ist ja manchmal so frech. Und jetzt habe ich meinen Beschützer – gegen ihn, wenn’s sein muss.“

Ihre Stiefgroßmutter brach in schallendes Gelächter aus: „Was – Verbündete?“ „Klar. Wir sind uns meistens gegen Felix einig, wenn ich’s brauche, nicht, Fred?“ „Ja, ist schon vorgekommen“, er erwiderte ihr Lächeln. Rena lachte ihn glücklich an und kniff ein Auge zu in vertrauter Komplizenschaft.

„Ja, ja, so jung möchte ich auch noch mal sein … Ich würde neben deinem hübschen Bodyguard auch strahlen, Kindchen. Aber sei vorsichtig, sonst lässt er dich bei deinen Spielereien auflaufen.“ „Spielereien? Ach …“, Rena kiekste vergnügt: „Das ist kein Spiel, Oma Ally, das ist alles echt. Hat dir Onkel Simon nicht von uns erzählt?“ „Erzählt? Was denn … oh, wow, gibt es echte Neuigkeiten aus dem alten Europa?“

Als ihr aufging, was Rena meinte, zwinkerte Allison sofort heiter: „Ich finde, ihr seid ein sehr hübsches Paar. Apropos … Tom: Gibt es nichts von Sam und Markus?“ „Du meinst, ob ich Großvater werde? Nein. Aber sie ist ja auch erst 25.“

Später am Abend, in der Ruhe ihres eigenen Schlafzimmers, wieder einmal im Schutz der Dunkelheit, presste Rena die Frage hervor, über die sie inzwischen lange nachdachte: „Willst du … an ihr Grab?“ Eine Weile blieb es still.

Rena atmete hastig und nervös. Die Stille und die Dunkelheit wirkten für Sekunden bedrohlich. Sie hätte schreien mögen und kämpfte gegen Tränen an.

Fred tastete zur Lampe, schaltete sie ein und sah sie prüfend an. Es rührte ihn, wie sie mit tränennassen Augen noch immer bemüht war, gefasst zu sein. Er konnte keine abweisende Bemerkung auf sie abfeuern, nicht noch einmal sagen, es ginge sie nichts an.

Ihre Finger in seiner Hand zitterten. Ihr war längst klar, wie weit sie die Grenze überschritt zu einem Gebiet, wo er ungeduldig reagierte und keinen Menschen haben wollte.

„Selbst wenn ich es wünschte, Serena, ich weiß nicht, wo das Grab ist. Erinnerst du dich?“ „Aber … du findest es doch heraus. Du kennst ihren Geburtstag, ihren Todestag und so.“

Ihre Tränen rannen ins Kissen. Sie weinte um ihn und die ihr unbekannte Jane. Sie litt sichtlich unter den Verhältnissen, seinem Hass auf die Stadt und auch unter dem, was ihn peinigte. Es war sein Schweigen, das sie ängstigte. Jäh erkannte er es und atmete tief durch. Er schuldete ihr die Wahrheit.

„Janes Eltern werden schon dafür gesorgt haben, dass ich nichts herausfinde.“ Rena nickte traurig. „Das ist so gemein“, sie weinte in den Armen ihres Liebsten.

Ihre Trauer und ihr Mitgefühl, dass er sie nun trösten musste, das alles half ihm mehr als sein einsamer Kampf gegen Gefühle, die er nicht haben wollte. Ihre Tränen lösten seinen Schmerz, mehr als jedes Wort. Er streichelte sie zärtlich und liebte sie auch dafür, dass sie das mit ihm teilte.

Plötzlich hob sie das Gesicht von seiner Brust: „Und wenn ich anrufe? Ich könnte behaupten, ich sei eine alte Schulfreundin, die einige Jahre in New York gelebt hat.“ „Du willst amerikanische Ämter anrufen? Serena, von amerikanischem Recht hast du keine Ahnung.“ „Ich hätte ja auf einer Schule mit euch sein können. Und dann sind meine Eltern nach New York gezogen … Und ich … Fred, ich will was tun. Es ist so gemein, dass sie dir deinen Abschied nicht gönnen. Ich hatte die Erlaubnis, Papa zu sehen …“

Der Vergleich bezeugte eindeutig, wie sehr sie mit ihm fühlte. Sie sah keine Feindin in Jane. Dazu war sie viel zu großherzig. Sie sah nur den unausgesprochenen Kummer des geliebten Mannes und wollte ihm ohne jeden Vorbehalt helfen.

„Hör erst mal auf zu weinen. Sonst fange ich auch noch an“, seine Stimme klang weich. Rena umarmte ihn verzweifelt: „Warum darf ich das nicht machen?“ „Beruhige dich“, flüsterte er und küsste sie. Rena fiepst etwas, reagierte aber schnell darauf. „Morgen mache ich dir eine Liste.“ „Was?“ „Die Namen der Lehrer solltest du wissen, bevor du deine Telefonaktion startest.“

Zum Frühstück an diesem Freitag kam Rena verspätet. Sie hatte einen Zettel in der Hand, wies auf den Blumenstrauß auf dem Tisch am Fenster und sagte: „Die Blumen nehmen wir mit. Auch wenn die von der Filmcrew sind.“ „Für deine liebe Tante Lorry?“ fragte Tom heiter. Auch ihn hatte die üppige Blumengabe für die Statistin erstaunt.

 

„Nein. Fred, wenn du gestattest …“ Sie wollte die Frühstückslaune nicht verderben, atmete tief durch und sagte offen: „Ich habe die Adresse. Ich … habe mit Janes Mutter geredet. Behauptet, ich sei mit ihr in die Schule …wollte an ihrem Grab ein Gebet sprechen und … Entschuldigung, ich bin ganz außer mir. Gott, und ich heule schon wieder, wie dumm …“

Sie hüpfte von ihrem Stuhl hoch, doch Fred fing sie ein: „Bleib hier. Es ist alles in Ordnung.“

„Moment mal. Rena hat Janes Mutter angerufen? Und will diese Blumen auf das Grab deiner Frau stellen? Habe ich das richtig verstanden?“ mischte Tom sich ein. „Ja. Janes Eltern haben das Grab verlegen lassen.“ „Wieso das denn?“ „Das ist nicht so einfach zu erklären, Tom.“

Sein Arbeitgeber sah ihn einfach nur ernst an. Notgedrungen sprach Fred weiter: „Sie hassen mich. Ich habe ihre Tochter entführt und in eine Ehe getrieben. Zwei Jahre später starb sie, also … geben sie mir die Schuld … und …“

Er suchte nach den richtigen Worten. Doch Tom kapierte schnell: „Was für ein Schwachsinn. Und in dieses Chaos ziehst du Rena?“ „Es war meine Idee“, schluchzte seine Stieftochter und klammerte sich an Fred.

Tom musterte sie. Die junge Frau löste sich in Tränen auf, und Freds Ruhe war wohl auch nur gespielt. Dieser kleine Zusammenbruch war ein deutliches Zeichen dafür, wie sie zusammen hielten.

„Einer trage des anderen Last“, zitierte er. „Okay, da ich noch eine Verabredung habe, die euch nicht interessiert …“ „Du bezahlst mich für einen Job.“ „Ja, aber das, was ihr beide heute machen wollt, ist ein bisschen wichtiger. Ich gebe dir frei“, entschied Tom ruhig.

„Du hast gesagt, Dienst und Schnaps dürften wir nicht mischen.“ „Keine Regel ohne Ausnahme. Wir essen jetzt. Dann trennen sich unsere Wege.“ Tom nickte aufmunternd.

Rena ging mit Fred über den Friedhof. Sie schwiegen beide. Urplötzlich blieb Rena wie angewurzelt stehen. Fred schaute sie fragend an.

Nach einem sichtlich schweren Schlucken brachte sie es fertig, ihren Gedanken in Worte zu fassen. „Meinst du nicht, es sei … anmaßend … Dass ich … mich aufdränge … und … Willst du mich wirklich dabei haben? Ich verstehe, wenn du lieber allein …“ stotterte sie aufgeregt.

„Wir gehen zusammen weiter. Du musst doch deine Blumen abliefern. Danach … Ich weiß es noch nicht“, antwortete er langsam.

Seine Gefühle konnte er nicht beschreiben. Doch Serena stand ihm tapfer zur Seite und verließ sich offensichtlich blind auf seine Entscheidung, die sie garantiert für richtig hielt. Er wollte sie mitnehmen. Ihren Mut, diesen gemeinsamen Gang zum Grab seiner Frau auf sich zu nehmen, bewunderte er sehr.

Dieser besondere Weg war extrem schwer für ihn, führte zurück zu Erinnerungen, die er gern vergessen hätte – Janes letzte Tage, der Abgrund an Einsamkeit, wie wenig er hatte tun können, der Hass ihrer Eltern, die ihn von ihrem letzten Weg fern gehalten hatten. Nur die Rechnungen strömten damals ein …

Es glitzerte kalt in den Gletscheraugen, als er auf den Grabstein sah. Wieder fühlte er den ohnmächtigen Zorn und die Verzweiflung jener Tage.

Rena hockte sich hin und arrangierte die Blumen. Nach einer Weile erst registrierte Fred ihre Anwesenheit, wie sie dort saß und die Blumen sachte zurecht zupfte.

Das Gefühl blinden Hasses und abgrundtiefer Wut schwand bei diesem Anblick. Er verstand sich selbst nicht mehr – weshalb hatte er sich vor diesem Weg gegraut? Warum hatten die Erinnerungen an das längst Vergangene so lange alles überschattet?

Für ihn bedeutete sie Licht und Freiheit, die blonde junge Frau mit ihren ruhigen Bewegungen und der sanften Art. Voller Zärtlichkeit sah er sie an, und dann schickte er sie für einige Minuten weg. Rena nickte verständnisvoll und zog sich zurück, nachdem sie noch einmal liebevoll über seinen Arm gestreichelt hatte.

Allein stand er am Grab – und war nicht mehr einsam. Die winzige Geste wärmte noch immer, und er war sich bewusst, welchen Schatz er gewonnen hatte – in dieser blutjungen Frau, die geduldig auf ihn wartete und zu ihm hielt, was immer er tat.

Während er seine Ehe mit Jane rekapitulierte, wusste er genau, wo Rena stand – süß, geduldig und voller Liebe und Verständnis. Ihre Liebe vertrieb selbst seine Schuldgefühle ihr gegenüber. Rena verließ sich auf ihn, vertraute ihm aus reiner Liebe und baute darauf, gemeinsam mit ihm alles zu schaffen. Das hatte er noch nie erlebt – sie war in jeder Hinsicht erwachsener, als Jane es jemals gewesen war.

Als er langsam zu ihr zurück zum Hauptweg ging, sah sie sein Lächeln. Überrascht lächelte sie zurück und fühlte sich erleichtert. In den vergangenen Tagen hatte er sich das kaum abringen können.

Den ganzen Weg über, an diese Stätte seiner Vergangenheit, hatte sie sich Sorgen gemacht, doch nun wirkte er entspannt und nicht länger alten Erinnerungen hingegeben, die vielleicht besser waren als ihr Leben jetzt.

„Vielen Dank, Serena.“ „Ich habe doch fast nichts gemacht. Nur telefoniert.“ „Du kennst den richtigen Weg.“

Sie schaute skeptisch zu ihm auf. Normalerweise betrachtete er ihre „jungen Ideen“ eher mit einiger Nachsicht, doch nun sagte er freundlich: „Ich denke, dieser … Besuch war wichtig.“ „Ja. Ich weiß. Aber sehr schwer für dich“, sie seufzte und fürchtete einmal mehr, ihn an seine Erinnerungen zu verlieren. „Ich würde sagen, für dich war es schlimmer. Du wagst viel“, antwortete er leise.

Rena wäre noch ganz andere Wege mit ihm gegangen, weitaus schwierigere. Doch sie überlegte sich genau, was sie durfte und was sie besser ließ. Es war garantiert ein Fehler, ihm mitten auf dem Friedhof zu versichern, was ihre Liebe alles ertrug – und die Formulierung aus der Kirche über die guten und bösen Tage erschien ihr extrem unpassend.

Nur ihre Augen verrieten ihm ihre Unsicherheit, als sie den Blick scheu abwandte und sich fragte, ob Fred sich insgeheim wohl Jane zurück wünschte?

„Rede, Serena. Was hast du?“ „Ich … hab‘ nur … Angst. Dass du … Denkst du nicht, es wäre schön, wenn du Jane noch hättest … wenn sie leben würde … gesund wäre … und … und …“ Hilflos brach sie ab.

Fred packte sie an beiden Armen, erschreckt von dieser Fantasie, die er selbst schon lange nicht mehr hatte. „Serena, mein liebes Mädchen, was malst du dir da aus?“

„Ich … du … Du sagst doch immer, ich bin zu jung. Sie hätte das richtige Alter für dich. Sie wäre …“ „Du denkst, ich würde Jane wählen, wenn ich könnte?“ fragte er verblüfft und sah sie ungläubig an.

Rena nickte traurig. „Ja. Ich bin erst 19. Sie wäre jetzt 26. Sie wäre … älter und klüger, vernünftiger, und ich …“ sprudelte sie hastig hervor. Fred schüttelte den Kopf, doch das bremste sie nicht. Also küsste er sie. Das sagte mehr als alle Worte, er fühlte es deutlich.

Sie lehnten aneinander und schauten sich an. In Renas Augen leuchtete es wieder. „Wow“, sagte sie verblüfft. Fred lachte und hielt sie noch fester.

„Fred, auf dem Friedhof, das ist sicher nicht …“ „Glaub mir, du bist die Frau, die ich will. Mit dieser Vergangenheit, die ich nicht ungeschehen machen kann und die leider immer so existieren wird, wie sie nun mal war.“ „Es ist eben so. Ich lerne das schon.“ „Du kannst es. Besser als ich.“ Er zog ihre Hand durch seinen Arm: „Komm, wir gehen jetzt.“

Am späten Sonntagnachmittag begann Rena damit, sich für die Oscar-Nacht zurecht zu machen. Sie bat Fred, sie beim Schminken ins Bad zu begleiten und gleich zu beurteilen, ob sie alles richtig anstellte. Trotz aller Übung vor Zinis kritischen Augen fühlte sie sich noch unsicher und meinte, sie brauche dringend einen Beobachter.