Liebe Familie

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Über das Buch:

„Neue Wege“ schlagen Leona und Tom ein – und auch ihre Kinder und Freunde. Ein Schicksalsschlag ist die schwere Erkrankung von Toms Mutter. Im Hotel „Zum Sonnigen Garten“ steht ein neues Projekt an – Wellness ist das Gebot der Stunde. Samantha und Markus heiraten, Serena soll in New York zu Schule gehen – die Wege der Familie führen auseinander, unweigerlich …

Wie sie es schaffen, doch immer alle zusammen zu halten, beschreibt Ihnen Linda Fischer im 3. Teil der Roman-Reihe „Liebe Familie“.

Impressum:

Liebe Familie – Teil 3: Neue Wege

Linda Fischer

Copyright: © 2013 Linda Fischer

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-5753-3

Das Jahr 2003 begann mit Regen, dann folgten die Minusgrade – herunter bis minus 18, doch Schnee fiel nicht. Leona hätte gerade jede Menge Schnee mit Freuden begrüßt, nicht nur der Kinder wegen, sondern auch für die Hotelgäste. Aber dieses Glück hatten sie nicht, und sie ärgerte sich etwas darüber, auch wenn sie auf das Wetter keinen Einfluss nehmen konnte. Außerdem bestimmten die Nachrichten einen großen Teil der Gespräche in der Familie: Krieg gegen den Irak oder doch nicht?

Häufig brachten ihre Kinder das Thema wieder auf. Ihnen gefiel, wie die Eltern gegeneinander antraten in Sachen Krieg. Ihr alter Streit um den Umgang mit Terroristen, der seit dem 11. September 2001 wieder und wieder aufbrandete, setzte sich auch bei diesem Thema fort. Leona war dagegen, Tom dafür. Er war zum Soldaten erzogen worden, das wurde immer wieder deutlich.

Zwar meinte auch Tom, die Amerikaner sollten nur mit UN-Mandat gehen, aber er war fest davon überzeugt, nur ein militärischer Eingriff könne in dieser Situation helfen – so schnell wie möglich. Leona argumentierte, man solle Hans Blix und die UN-Kontrolleure ihre Arbeit machen lassen. Felix hörte oft zu, hielt sich aber heraus.

Die Emotionen kochten in der Waldvilla. Als dann auch noch der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vom „alten Europa“ sprach und das Wort „Problem“ im Zusammenhang mit Deutschland und Frankreich benutzte, schlugen die Wellen hoch. Leona lachte über die Diplomaten. Das wiederum regte Tom maßlos auf.

„Wir reden über Krieg, Leo, das ist nicht witzig.“ „Doch, Süßer … Altes Europa“, kicherte sie. „Europa ist alt, Liebste, und rückständig … und du bist …“ „Wenn du mich jetzt Deutsch nennst, mein lieber Mann, kriegst du die Salami an den Kopf“, warnte sie.

Rena kicherte. Jason prustete los. Sogar Tom lächelte. Zini und Felix aßen weiter und verdrehten beide die Augen wegen dieses Streits. Tessa betrachtete die Eltern neugierig. „Mama – sauer?“ „Nein, nicht sauer. Dein Vater, dieser offensichtlich leicht schwachsinnige Ami, ist auf der Seite dieses bekloppten Cowboys in Washington – und nennt mich rückständig. Ha!“

„Genau“, bestätigte Tom: „Ich habe nämlich gelernt, dass man für die Demokratie kämpfen muss. Gegen Diktatur. In deinem Land, das unter Hitler litt, meine liebe kleine Friedenstaube.“ „Europa hatte immer Krieg in den letzten 1000 Jahren. Es muss andere Wege geben als den Griff zu Waffen. Nehmt ihm sein Geld, nehmt ihm seine Macht, aber straft nicht Zivilisten. Und noch was, mein lieber Freund: Als sie Johanna von Orléans im Hundertjährigen Krieg auf den Scheiterhaufen führten, da saßen die Urahnen von Rumsfeld, Powell und Bush hier. Im alten Europa. Und deine Vorväter auch!“

„Wann war das?“ Keiner beantwortete Jasons Frage. Rena übernahm die Antwort schließlich: „Das war 1431. Bevor Kolumbus Amerika entdeckte. Er fuhr 1492.“ Tom warf ihr einen belustigten Seitenblick zu: „Da hatte deine Mutter ja Glück mit den Jahreszahlen.“ „Jedenfalls war die Mayflower mit den ersten Pilgern später dran“, behauptete Leona stur. Jason wandte sich prompt wieder Rena zu. „1620“, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. Tom schwieg. Er kannte die Geschichte der USA , die Zahl stimmte. Rena mit ihrem großen Geschichtsinteresse las alles, was ihr zu ihrem Lieblingsfach in die Hände fiel. Da machte ihr keiner etwas vor.

„Und noch was, Tom. Dein Land hat Waffen an den Irak verhökert. Die sollten also genau wissen, was Saddam hat, oder?“ „Was?“ Zini schaute auf: „Amerika dem Irak?“ „Ja, vor 20 Jahren. Da waren sie gerade gegen den Iran. Und Irak-Freunde mit CIA-Unterstützung, nicht wahr, Tommylein? Mich erinnert das geradezu auffällig an den Schweinebucht-Skandal. – Ups, ich muss mich beeilen“, sie stopfte sich den letzten Schnipsel Toast in den Mund und ging dann kauend um den Tisch, um Abschiedsküsse an die ganze Familie zu verteilen.

Neben Tom blieb sie deutlich zögernd stehen. „Na, Leo?“ „Beißt du mich?“ „Nein, honey. So hungrig bin ich nicht“, er lachte und erwiderte ihren Kuss. Er war nicht böse auf sie. Außerdem waren alle ihre politischen Diskussionen nur wie ein Spiel. Damit zeigten sie ihren Kindern beispielhaft, wie wenig ihnen ihre unterschiedlichen Auffassungen ausmachten. Jedenfalls beeinträchtigten sie ihre Ehe in keiner Weise.

Echte Schwierigkeiten sahen sie eher in einer Begegnung mit ihrer Freundin Doris Röttger, die ihnen am späten Abend begegnete. Tom und Leona waren auf dem Weg nach Hause. Doris hatte einen Rucksack auf dem Rücken und stiefelte auf das Hotel zu. „Wo willst du denn hin?“ „Weg.“ Die knappe Antwort nützte nicht viel.

Doch dann erzählte ihnen Doris widerwillig, dass sie es gerade mit Michael nicht aushielt. Er interessiere sich nur noch für die Zeitung, nicht mehr für sie, behauptete sie unglücklich. Da sie bei ihrem spontanen Ausriss immerhin zwei Kinder zurück gelassen hatte, bot Tom ihr an, sie könne in sein Haus im Dorf ziehen, um denen nahe zu bleiben. Das nahm Doris gern an.

Am nächsten Vormittag stürmte der Journalist in das Hotelbüro. „Wo ist Doris?“ „Doris hat frei“, erwiderte Leona, ohne direkt auf seine Frage einzugehen: „Sie ist am Sonnabend wieder eingeteilt – Tom?“ Ihr Mann schaute auf dem Dienstplan im Computer nach und nickte. „Ja. Samstag. Wieso?“

Ihr Freund sah sie beide misstrauisch an. Dann überwand er sich und gestand ehrlich: „Sie war weg. Die ganze Nacht.“ „Sie hat aber keinen Abschiedsbrief hinterlassen?“ Michael wurde blass. „Was? Ich muss zur Polizei. Sofort. Oh Gott.“ „Nur die Ruhe. Sie ist bestimmt bei ihrem Vater. Oder einer Freundin“, sagte die Hotelsekretärin rasch: „Ihre Frau hat doch viele Freunde. Hat sie nichts mit? Was fehlte im Bad?“

Michael atmete auf. „Die Zahnbürste … und ihr Duschzeugs und so.“ „Dann ist sie nur verreist, das ist alles. Wo sind Ihre Kinder?“ „In der Schule. Die waren heute Morgen ganz normal und …“

Plötzlich fiel ihm auf, wie unnormal genau das war. Seine Kinder hatten keine einzige Frage nach der fehlenden Mutter gestellt. Auch die Gelassenheit von Leona und Tom erschien ihm seltsam: „Scheiße! Leo! Sie ist hier im Hotel!“ „Ist sie nicht.“ „Leona, wir sind seit 25 Jahren befreundet. Wo ist deine Loyalität? Meine Frau ist weg – wo versteckst du sie?“ brüllte er außer sich.

Leona zog zwar etwas den Kopf ein, antwortete ihm aber – ehrlich, wenn auch ausweichend: „Sie ist nicht hier. Und ich verstehe deine Frage auch noch, wenn du leiser sprichst.“ „Du weißt also nichts. Danke“, er starrte die Freundin an: „So viel zu deiner Freundschaft.“ Im nächsten Moment knallte die Tür hinter ihm zu.

Die Hotelchefin blieb stocksteif stehen, bis sie den Motor von Michaels Wagen aufjaulen hörte. Sie pustete ein „Poh!“ „Wir haben wenigstens nicht gelogen“, sagte Tom trocken.

Sekretärin Karin Thoresen schnappte nach Luft. „Sie ist doch hier?“ „Nein.“ „Aber Sie wissen, wo sie ist?“ „Jepp. Wir können schweigen“, zwinkerte der Mann und blieb völlig gelassen. „Sollen wir sie anrufen – warnen?“ „Nein, Leo. Gönn ihr ein paar Tage für sich selbst. Vielleicht finden sie dann wieder zueinander. Besser, wir halten uns raus.“

Isabell und Michael Dennis Röttger wussten längst, wo ihre Mutter war. Sie hatte ihnen das per SMS knapp erklärt und sie zum Mittagessen eingeladen, um das Problem zu besprechen. Während sie Nudeln futterten, verdeutlichte ihnen Doris, weshalb etwas Abstand gerade nötig war. So ganz verstehen konnten ihre Kinder das nicht. Es kam zu überraschend. Doch sie akzeptierten die Wünsche ihrer Mutter und waren sich einig, das Schweigen dem Vater gegenüber zu wahren.

Da Isabell die Situation unmöglich fand, erzählte sie selbstverständlich alles ihrer Busenfreundin – Zini. „Aber du darfst nix zu deiner Familie sagen“, bat sie. „Isa, deine Mutter wohnt in Toms Haus. Die wissen das.“ „Ja. Aber … ach, ich weiß nicht. Dein Vater … äh … Tom ist ganz anders als Papa. Tom streichelt deine Mutter. Er sieht sie an, und ich weiß, wie lieb er sie hat.“ „Ja, vor allem, wenn sie sich wegen des Iraks zoffen.“ „Auch dann.“ „Ich weiß. Und bei euch ist es anders. Blöd.“ „Ja, aber die hören nicht auf uns.“ „Leider. Macht deine Mutter Pizza heute? Kann ich mit?“ „Klar.“

***

Auch Leonas Eltern, Winfried und Monika Sebald, erlebten die andauernde Diskussion um den Irak. Am 1. Februar saßen alle zusammen im Hotelrestaurant. „Immer Krieg. Frieden ist gerade ein Fremdwort bei euch“, schmunzelte Monika. Tom lachte leise. „Tja, eure Tochter ist eine harte Nuss. Im Moment ohne Süßes drin.“ „Blödmann“, Leona kicherte. „Leute, ihr vergesst, dass ich mitten auf dem Stützpunkt aufgewachsen bin. Ich würde kämpfen.“ „Ein Sänger mit Waffen und Gewalt – danke, aber rede nur“, maulte Leona.

Ihr Mann seufzte. „Du Nervzwerg. Ich versuche ja, mit dir sanfter zu reden. Aber was den Irak angeht, kommen wir auf keinen gemeinsamen Nenner.“ „Die Zeit wird’s zeigen.“ „Ich will auch nicht, dass Bush allein geht. Mit UN-Mandat ja, nicht ohne.“ „Ist mir egal. Du willst Krieg. Das ist ätzend. Wo ist mein lieber, weicher Mann?“ jammerte sie. „Willst du mich so weich haben? Ist ja ganz was Neues.“

 

Zuerst verstand sie diese Rückfrage nicht. Dann, während sie ihn noch fragend anschaute, erinnerte sie sich an die vergangene Nacht – nun ja – weich war da nichts gewesen. Sie wurde knallrot und suchte nach Worten. Monika beobachtete sie: „Redet ihr noch vom Krieg?“ „Nein – den halten wir aus unserem Bett raus“, erwiderte Tom offen. „Thomas!“ keuchte Leona entsetzt.

Alle anderen lachten über den vermeintlichen Witz. Tom rettete sie schnell: „Aber ich zanke mich einfach manchmal gern, gerade mit dir. Du hast oft so komische … außergewöhnliche Ideen. Als alter Eheknochen tut mir jede Überraschung gut.“ „Ja, in eurer Ehe wird es sicher nicht langweilig“, lachte Winfried.

Sylvia Hauke kam an den Tisch: „Ihr solltet Nachrichten sehen. Irgendwas ist mit dem Space Shuttle Columbia passiert. Die sagen, es … sind … Teile über Texas.“

Es war das schwerste Unglück seit der Challanger-Katastrophe vor fast 17 Jahren, am 28. Januar 1986. Wieder starben sieben Astronauten.

„Jeder, der dort arbeitet, weiß, wie gefährlich es ist“, sagte Tom ruhig und umfasste Zini und Jace gleichzeitig. „Zum Glück passieren solche Dinge so schnell, dass die Menschen es nicht mehr merken. Denkt an das Concorde-Unglück zum Beispiel, im Sommer 2000 – eine Kleinigkeit ging schief, 100 Tote. Am 11. September starben dann sogar 3000 Menschen bei den Terroranschlägen. – Wer für die NASA arbeitet, arbeitet für unsere Zukunft. Und weiß, dass ein Astronaut sein Leben riskiert. Wenn es gut geht, werden vielleicht Mittel gegen Krankheiten gefunden. Wie Krebs. Oder Diabetes.“

Seine Ruhe und Vernunft halfen allen. Die Argumente bezeugten, wie gründlich er die Lage durchdacht hatte. Leona nickte ihm dankbar zu. „Danke“, sagte Monika plötzlich: „Danke, dass du hier bist. So lieb von dir, du hilfst uns damit …“ „Ich kann nicht immer helfen.“

Leona wusste, wovon er sprach. Doris wohnte noch immer in seinem Haus. Sie wollte derzeit nicht mal mit Michael sprechen. Das war nicht besonders angenehm.

Auch Rena kam mit der häuslichen Situation bei ihren Freunden nicht gut klar. Sie musste bereits am Donnerstag zur Musikhochschule reisen und dort einen Test mitmachen. Da Felix am Freitag lange schlief, nutzte sie die Gelegenheit, ihren Hauswirt allein beim Frühstück zu treffen, ihn um Rat zu fragen in Sachen „Röttger“.

„Ich kenne sie kaum, Serena.“ „Aber du hast sie doch garantiert überprüft, oder? Ich denke, du überprüfst alle, die wir kennen. Wegen Tom“, wunderte sie sich. „Nicht die alten Freunde deiner Eltern.“ „Die nicht? – Aber meine Freunde? Und Zinis? Und die von Felix?“ Er zuckte mit den Schultern. Rena starrte ihn an. Doch er sagte nichts weiter und wartete nur mit ausdruckslosem Gesicht auf ihre nächste Frage.

„Fred?“ drängte sie. „Was ich mache, geht dich nichts an.“ Sie seufzte. „Mann, und ich sage noch zu Felix, dass du mehr im Kopf hast als er. Du bist total vernünftig und … wie andere mit 55. Ich würde doch keinem was sagen. Nie. Ich kann Geheimnisse bewahren. Nicht wie Zini und Isa, die über alles quasseln. Ich würde so gern mehr über deine Arbeit wissen. Es ist so spannend. Aber du sagst nie was.“

Auch darauf reagierte er nicht, griff zur Kaffeetasse und nahm einen Schluck. „Du musst doch irgendwas über die Röttgers denken? Doris wohnt in Toms Haus. Sie sind getrennt. Das ist Scheiße für ein Kind, verdammte Scheiße für Isa und Michi. Und ich … wieso lachst du?“ „Nur über deine Ausdrucksweise: Verdammte Scheiße für Isa und Michi“, wiederholte er.

Rena entschuldigte sich, musste aber kichern: „Tessa hört es ja nicht. Das wär‘ auf ihrer Böse-Wörter-Liste, weiß ich doch. Zini sagt, dass Doris es richtig macht. Felix hat nämlich neulich zu Michi gesagt, dass denen was im Bett fehlt. Du weißt schon. Mama und Tom haben das. Ein heißes Bett. Aber bei Doris und Michael ist es also … was ist jetzt schon wieder?“

Sie wusste nicht, welche Reaktion sie gerade ausgelöst hatte – doch in seinen Augen stand ein Ausdruck, der sehr befremdlich auf sie wirkte. „Wie kommst du auf die … sehr seltsame Idee, dass ich – ohne jede Familie – solche Dinge kompetent und für eine Person in deinem Alter verständlich kommentieren könnte?“ Sein Akzent klang viel stärker mit, und Rena lächelte. In ihren Augen glitzerte es: „Das ist echt witzig. Wo lernst du solche komplizierten Sätze?“ „Militär-Akademie. Serena, wir können bitte nicht …“ Er musste Worte finden, die sie nicht verschreckten, und das wurde bei diesem Thema immer schwieriger.

„Was denn?“ „Wir können und dürfen nicht die Bett-Verhältnisse des Ehepaars Röttger besprechen.“ „Wieso nicht? Denkst du, Michael ist schon zu alt dafür? Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Tom ist ja noch ein paar Jahre älter. Hm. Wie lange können Männer denn …“

Er holte tief Luft und stellte die Kaffeetasse ab: „Serena, Schluss mit diesem Thema.“ „Aber es interessiert mich. Ihr Erwachsenen. Immer heißt es: Wir Kinder müssen fragen. Aber ich kann ja nun nicht Tom fragen, ob das in seinem Alter im Bett noch gut klappt und wie lange wohl noch. Und im Biologiebuch steht das nicht. Mama würde es peinlich finden. Und Zini rennt zu Isa, und dann kichern die nur, weil ich es wissen will. Vielleicht muss ich mal ins Internet …“ „Serena, es reicht. Wir diskutieren nicht über Familie Röttger.“ „Aber es ist voll blöd, wenn sich ihre Eltern scheiden lassen. Du weißt mehr über Menschen als alle, die ich kenne. Ich will nicht, dass Isa und Michi im Heim landen, nur weil ihre Eltern vielleicht das nicht hinkriegen.“

Ihre Begründung für diese unerwartete Neugier auf „Bett-Verhältnisse“ war völlig anders als erwartet. Allerdings wollte er trotzdem nichts damit zu tun haben. „Du bist sicher eine gute Freundin für deine Freundin. Aber es ist besser, wenn du dich heraus hältst. Hast du das verstanden? Es geht weder dich noch mich etwas an, wie sich das Ehepaar Röttger entscheidet. Wenn du da bist, wenn Isabell dich braucht, dann genügt das.“

Sie seufzte. Manchmal gab er nach, doch nicht jetzt, das spürte sie deutlich. „Kann ich eine Mandarine essen?“ „Sicher.“ „Kannst du sie bitte für mich pellen? Ich mag das nicht unter meinen Fingern, wenn ich gleich Geige spielen muss“, bat sie freundlich. „Ja, meinetwegen. Und ich glaubte, du seist ein paar Tage älter als Tessa“, spöttelte er. „Nee, so früh am Morgen nicht.“ Sie legte den Kopf schräg und lächelte ihn breit an.

Ein paar Sekunden betrachtete er sie wortlos, dann blitzte ein jähes Lächeln auf: „Und was tust du im Gegenzug für mich, Kind?“ „Ich backe Kuchen. Heute Abend. Magst du getrocknete Ohren?“ In den blaugrünen Augen funkelte es jäh vor Vergnügen: „Wem müssen wir Ohren abschneiden?“ „Das heißt doch nur so. Ich kaufe die.“ „Wo? Im Schweineteil-Kühlschrank im Asien-Laden?“ „Nein. Das sind Aprikosen, Mann.“ Er lachte laut heraus. Rena kicherte. „Keine Schweineohren?“ Er lachte noch mehr.

Felix, noch im Schlafanzug, tauchte an der Tür auf: „Was ist so witzig?“ „Deine Schwester will Kuchen backen – mit getrockneten Ohren.“ „Ich verstehe den Witz nicht.“ „Ich dachte an Schweineohren,“ verdeutlichte Fred belustigt. „Nee. Aprikosen. Haben wir schon früher in die Schule mitgenommen“, der junge Mann gähnte: „Wenn du bis Sonntag bleibst, Rena, können wir zusammen nach Hause fahren. Aber ich bin heute und morgen weg.“ „Darf ich, Fred?“ „Wenn du willst. Ich bin auch weg. Ich habe einen Job und komme erst am Samstag gegen Abend nach Hause. Aber du kommst sicher gut klar. Du kannst ja deine Schulfreundinnen einladen und deinen Kuchen anbieten“, schlug der Hauswirt gelassen vor. „Super. Cool.“

Allein in dem großen Haus zu sein, fand sie dann nicht mehr so „cool“. Es war inzwischen wärmer geworden. Überall tröpfelte das Schmelzwasser, vom Dach und den Bäumen. Schneereste klatschten aufs Fensterbrett.

Das Mädchen saß im Bett, starr vor Schreck. Die ungewohnten Geräusche machten ihr Angst. Es war dunkel vor ihrem Fenster. Sie dachte an das rote Gesicht des Mannes, der einst im Sommer herein geschaut hatte. Diesmal war sie allein – niemand konnte sie retten. Gegen Mitternacht kauerte sie immer noch in Panik auf dem Bett, in ihre Bettdecke gehüllt, und ließ das Fenster nicht aus dem Blick. Dabei hing die Gardine völlig still – sie bildete sich die leichte Bewegung nur ein. Das wusste sie sogar, doch nicht mal das beruhigte Rena.

Am Ende schnappte sie sich ihren Wecker und rannte die Treppe hinauf, schloss die Tür, drehte den Schlüssel um und sprang in das schlichte Feldbett, wo sie sich Freds Decke über den Kopf zog. Dieses Schlafzimmerfenster wies zum Garten, nicht zur Straße wie ihres. Niemand konnte sie hier oben finden, hoffte sie. Keiner konnte in diesen Raum kommen.

Am Morgen waren die nächtlichen Ängste vergessen. Sie fragte sich selbst, weshalb sie so verschreckt reagiert hatte. Das durfte sie weder Felix noch Fred jemals gestehen.

Als sie für ihre Mädchen-Runde am späten Nachmittag die zweite Kanne Tee aus der Küche holte, kam Fred gerade zurück. Er sah müde aus, lächelte aber, als er das Gelächter aus dem Wohnzimmer hörte: „Deine Tee-Gesellschaft?“ „Ja. Möchtest du Kuchen? Ich habe ein paar Stücke für Fix und dich gerettet.“ „Nein. Danke. Ich brauche erst mal Schlaf. Das war eine sehr lange Nacht. Ist es lustig?“ „Sehr. Hörst du ja. Wie ein Gänsestall – schnatter, schnatter, schnatter“, machte sie. „Aha. Gänse. Ist das der richtige Ausdruck für junge Damen?“ „Wir sind zu laut, wenn du schlafen willst. Ich sage ihnen sofort Bescheid – wir sind leiser. Gute Nacht“, wünschte sie freundlich. Fred winkte und verschwand nach oben.

Er hörte das Gelächter noch eine Weile, schlief aber bald ein. Doch nach zwei Stunden erwachte er aus einem wirren, ziemlich erotischen Traum. Für einen Augenblick wusste er nicht, wo er war. Es war dunkel, und die Fantasien verschwanden nicht so schnell. Bald fand er heraus, was diesen Traum ausgelöst hatte – das Kopfkissen duftete nach lieblichem Shampoo und zartem Parfum … Serena!

In aufflammendem Zorn riss er die Bezüge vom Bett, nahm sich frische aus dem Schrank und bezog das Bett neu. Mit den benutzten Stücken marschierte er nach unten. Das musste gewaschen werden – sofort!

Rena trug gerade das Porzellan aus dem Wohnzimmer in die Küche. „Hei. Waren wir doch zu laut? Jetzt sind sie weg. Tut mir echt …“ „Serena“, er erinnerte sich jäh an den ersten Harry-Potter-Film, den er kürzlich mit Jason angesehen hatte: Professor Snape, der von Zaubertränken erzählte, die den Kopf verhexten, Nebel ins Gehirn schickten … Irgend ein Hexengebräu musste aus Hogwarts in sein Bett gekommen sein. Witzig war das jedoch nicht.

Ohne jedes Wort, kochend vor Wut schaute er auf das Mädchen herunter, das nach der Anrede abwartete. Da er schon ziemlich lange schwieg, sprach sie weiter: „Wieso schleppst du dein Bettzeug rum? Fix sagt, ihr habt erst Mittwoch gewaschen?“ „Hatten wir. Bis du gekommen bist“, und im nächsten Moment explodierte er.

Serena verstand Englisch gut, auf jeden Fall gut genug, um das Meiste zu verstehen und vorsichtig zu flüstern: „Ich tu’s nicht wieder …“ Ihre Entschuldigung überhörte Fred, zerpflückte weiter ihren Charakter, hielt ihr ihre Schwäche in drastischen Worten vor, und sie zuckte zurück vor diesem maßlosen Zorn.

Sie zitterte, obwohl sie wusste, dass er sie nur abkanzelte wie einen dummen Soldaten und nicht zuschlagen würde. Bebend vor Aufregung fragte sie sich, was sie tun konnte, um die Flut der Anschuldigungen zu mildern. Sie hatte gute Gründe für ihren Umzug gehabt und fühlte sich nicht sonderlich schuldig. Allerdings sah sie ein, was ihr Widerspruch einbringen würde – noch mehr Ärger.

Mit einem ergebenen, unglücklichen Seufzer wartete sie auf das Ende des Donnerwetters. Nach und nach ließ seine Wut nach – er fühlte mehr Zorn auf sich selbst als auf das unschuldige Mädchen. Er sah ihr Zurückweichen und ihr Erschrecken – sie verteidigte sich nicht.

„Geh in dein Zimmer. Ich will dich heute nicht mehr sehen. Ich weiß nicht, was ich tue, wenn du hier noch länger herum schleichst“, fuhr er sie heftig an. Serena nickte und beeilte sich. An diesem Abend saß sie ganz still auf ihrem Bett und wagte nicht mal, noch Geige zu üben. Sie wünschte sich ihren großen Bruder herbei – dann könnten sie gleich nach Hause fahren. Doch er kam sehr spät – da schlief sie bereits.

An diesem Sonntag war das gemeinsame Frühstück eine eher unangenehme Angelegenheit. Felix musterte die Kontrahenten und sagte trocken zu Fred: „Du siehst genauso angestockt aus wie Rena. Was ist los?“ „Nichts.“ „Aha. Der falsche Fuß.“ „Wie bitte?“ „Ein deutscher Spruch. Wenn du mit dem falschen Fuß aus dem Bett kommst, geht der ganze Tag den Bach runter.“ „Ich war nicht im Bett. Also passt dein Spruch nicht“, erwiderte Fred eisig.

 

Rena hatte am Vortag genug gehört über das Thema Tapferkeit, Ehrlichkeit und Vernunft – all das hatte sie nicht bewiesen. Also senkte sie den Kopf und schwieg bedrückt.

„Na, Rena – so mucksmäuschenstill? War deine Tee-Nummer nicht nett?“ „Doch.“ Sie dachte eher an den Schluss – der war nicht nett. Felix war ausnahmsweise mal aufmerksam. „Ihr habt also gestritten.“ „Nein“, sagte Fred knapp, doch Rena nickte bedrückt. „Was stimmt denn nun?“ Felix unterdrückte ein Grinsen.

„Deine kleine Schwester ist sehr naiv. Und ihre Freundinnen ein Gänsestall.“ „Ich bin feige und mutlos und unehrenhaft und … a wretched twit … ich weiß nicht mal, was das auf Deutsch heißt, aber …“ Sie kam längst nicht auf alles, was Fred über sie und zu ihr gesagt hatte.

„A wretched twit? Twit ist … Dummkopf“, Felix kämpfte gegen das Lachen an: „Hast du die Gänse abserviert, Fred? Ich dachte, sie hätte deine Erlaubnis …“ „Was sie getan hat, ist unzulässig. Und dich geht es nichts an, Felix. Wretched ist … elend, Serena. Du bist schlimmer als das. Du musst lernen, den Kopf oben zu behalten und nicht unterzukriechen wie ein feiges Kind … Das ist so …“ Fred gingen die Worte aus, und Serena wusste, dass sie nur deshalb einer weiteren Predigt entging.

Felix wedelte mit einem Stück Brot zwischen ihnen, um den Streit zu beenden, und erkundigte sich: „Was hat sie denn gemacht? Wir können doch wohl über alles reden, denke ich.“ „Nein, können wir nicht!“ Fred knallte die Tasse auf den Tisch. Rena zuckte empfindlich zusammen. „Mensch, Fred, sie ist meine Schwester – und wenn …“ „Ich weiß, wer sie ist“, knirschte Fred zornig. Mehr sagte er nicht. Rena atmete zittrig, war aber dankbar, als Felix nun schwieg.

Doch der lange Weg nach Hause gab ihm noch Gelegenheit genug, sie auszufragen. Am Ende erzählte ihm Rena, was sie angestellt hatte. Felix prustete los. „Ja, aber er sagt, keiner kann einen Feigling nach New York schicken. Und ich bin eine elende Vollidiotin.“ Felix lachte schallend. Wie Rena bemerkte auch er nicht, wie weit Ursache und Wirkung auseinander klafften.

„Bisschen feige war’s schon, Rena, echt. Und du kennst ihn doch und seine schroffe Art.“ „Ja. Mir war so unheimlich. Aber bin ich Soldat?“ „Nein, nur ein kleines Mädchen. Trotzdem – er hat schon einige Wahrheiten gesagt. Wenn du nach New York gehst, musst du mehr Mut haben. Das ist wichtig.“ „Ich versuche es. Nur … es war total gruselig. Diese Geräusche … Erzähl es keinem, Fix, bitte!“ „Nein, ich schwör’s“, versprach ihr Bruder: „Aber du brauchst echt mehr Selbstbewusstsein, das hat Fred erkannt. Du bist zu lieb, Rena. Du musst lernen, eine Situation völlig zu kontrollieren. Auftreten, als ob du wüsstest, was du tust.“

„Ich versuch’s“, nickte sie. „Aber es ist voll schwer, wenn man eigentlich weglaufen will. Ob ich mir die Gefahren nur einbilde oder nicht.“ „Ja, du bist eben nur ein Mädchen. Das vergisst Fred, wenn er die Kompanie kommandiert und dich wie einen einfachen Soldaten scheucht.“ Rena nickte wieder und seufzte traurig.

Felix griff in ihre langen Haare: „Vielleicht müssen wir die absäbeln. Wenn die blonde Mähne verschwindet, wirst du ein mutiger kleiner Soldat“, neckte er. „Du bist fies“, rief Rena aus und lachte: „Ich mag meine Haare lang über den Rücken. Papa Tom sagt, dass das zu einer jungen Violinistin passt.“ „Du gewinnst aber keinen Wettbewerb mit deinen Haaren.“ „Ach? Danke für die Information“, kicherte das Mädchen. Ihre Stimmung heiterte sich auf.

Zu Hause hörten sie als erstes, dass Doris und Michael sich lautstark gestritten hatten. Alle anderen Ereignisse gerieten in Vergessenheit. „Lassen sie sich jetzt scheiden“, fragte Rena besorgt. „Nein, Spatz. Es war nur ein sehr ernster Streit. Sie brauchen Zeit, um ihren Alltag in den Griff zu kriegen. Mach dir keine Sorgen.“

***

Der 14. Februar war ihr Hochzeitstag. Leona hatte allenfalls Blumen erwartet, wie immer. Nun war sie etwas überrascht, wie Tom geschickt ihre Kinder „weggespielt“ hatte, um mit ihr in die Stadt zu fahren. Er chauffierte sie nach Hannover. Gespannt wartete sie auf die Überraschung. Serena hütete Tessa, so hatten die Eltern ausreichend Freizeit und konnten sich einige Stunden für sich selbst gönnen.

Da Leona in Hannover geboren war, musste Tom sie nach dem günstigsten Parkplatz fragen. „Kommt drauf an, wo du hin möchtest. Was Bestimmtes?“ „Nein. Sagen wir … Lister Meile?“ „Dann hinter dem Bahnhof unter der Hochstraße“, schlug sie vor und überlegte, was alles sie rund um die Lister Meile an Besonderheiten wusste. Massenweise Läden aller Art, vielleicht auch ein kleines Theater oder Kabarett mit Nachmittagsvorstellung? Doch nein, das war eher das GOP in der Nähe der Oper. Dann würde er kaum zur Lister Meile wollen.

„Wohin willst du genau?“ „Abwarten, Liebste, abwarten“, er schmunzelte und verriet ihr rein gar nichts.

Als er sie in einen ganz normalen Hauseingang zog, guckte sie überrascht. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier erwartete. Mit geheimnisvollem Lächeln schob er sie auf die Treppe zu. Eine Etage höher entdeckte sie das Schild zu einem Laden, der Pelze verkaufte. Leona schnappte nach Luft. Tom zwinkerte und zog sie in das Geschäft.

Sie probierte Jacken und Mäntel an, auch einen wunderbaren, schwingenden Mantel mit Pelzbesatz. Den lehnte sie trotz seiner Schönheit ab und probierte noch andere, sehr beredet und kritisch mit ihrem Spiegelbild. Doch als sie wieder auf die Straße gingen, wusste sie gar nicht mehr, was sie sagen sollte. Am kommenden Freitag würde Tom ihren neuen Mantel abholen – einen echten Nerz! So einen Mantel hatte sie noch nie besessen – aus Nerzpfotenpelzen angefertigt in einem feinen Muster, mit hohem Kragen, sehr leicht und zart und kuschelig weich.

„Gott“, sie schluckte: „Das ist viel zu viel!“ „Ist unser Hochzeitstag.“ „Ja, und ich hatte nur dieses Buch …“ „Aus einem Antiquariat. Ich wusste nicht mal mehr, wo ich das damals geliehen hatte, und du treibst es nach 25 Jahren auf, damit ich es noch mal lesen kann“, er konnte sich gut vorstellen, wie lange sie gesucht hatte, um ihm dieses ganz besondere Buch zu schenken.

Als sie den Parkschein bezahlte, sah sie, dass sie gerade mal 53 Minuten unterwegs gewesen waren. Sie warf die 2 € in die Kasse und seufzte. Tom registrierte es mit einem Lächeln. Ihre stumme Begeisterung rührte ihn sehr. Sie hätte sich auch über Blumen oder Schokolade gefreut. Sie erwartete nie etwas – und war unglaublich bescheiden.

Noch im Fahrstuhl sah sie schweigend zu Boden, völlig überwältigt. Dieses Geschenk zum Hochzeitstag war unglaublich. Doch urplötzlich, auf dem Weg zum Auto, begann sie zu kichern und rief etwas heiser „Hurra!“ „Na – lässt der Schock nach?“ neckte Tom sie.

Leona lachte und umarmte ihn: „Ja, ein bisschen. Du bist unmöglich, Tom. Wie kommst du auf solche Ideen?“ „Es ist kalt“, er drückte sie an sich und küsste sie auf ihre Nase – die auch ziemlich kalt war. Leona fror erbärmlich in ihrem recht dünnen Parker.

„Du, Tom.“ „Hm?“ „Hier sind so viele Leute – und wir haben schon bezahlt, wir müssen hier raus.“ „Leider. Aber vielleicht hältst du irgendwo unterwegs noch mal an für ein bisschen Knutschen“, er amüsierte sich wie immer. Leona kicherte über den Vorschlag.

Auch Felix hatte neuartige Ideen. Er meinte, sie sollten sich endlich auch im Hotel auf die Wellness-Welle einstellen. Leona brach beim ersten Hören in Gelächter aus: „Sag jetzt nicht, ich soll Masseure einstellen.“ „Nein. Noch nicht. Wir sollten erst anbauen.“ „Fix, bitte! Wir haben dermaßen viele Denkmalschutz-Auflagen – wir können nicht einfach anbauen.“ „Dann müssen wir was Altes kaufen, was zum Stil passt und …“ „Was? Das müsste wo anders abgerissen werden, hier aufgebaut, völlig entkernt werden, den modernsten Standard erhalten … Du weißt doch genau, wie die Banken zu solchen Einfällen stehen. Dafür geben die mir keinen einzigen Cent.“