Vom Wind geküsst

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Z serii: Windkind-Dilogie #1
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Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig. Ich wünschte mir, der Wind hätte mir nichts gesagt und ich dadurch auch nichts gewusst. Denn das Wissen darum, dass das Mädchen wirklich hier war, erdrückte mich.

Wenn diese Situation in einem Kampf endete und dabei jemand verletzt wurde, dann wäre ich schuld daran, weil ich nichts gesagt hatte.

»Es ist so«, setzte der Soldat nach, die Stimme ein wenig respektvoller. Er hatte also auch nicht vor, einen Streit zu provozieren. Sein Blick schweifte wachsam über die Gruppe. »Es ist nicht irgendein Mädchen«, sagte er endlich. »Sie ist die Tochter unseres Bürger­meisters. Da werdet ihr verstehen, dass wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen müssen, um sie zu finden«, betonte er, traf aber nicht auf Verständnis.

Die Feuerleute rührten sich nicht von der Stelle, nicht mal ein Wimpernzucken war zu sehen.

Mir glühte bereits der Kopf vor Anspannung. Jeder musste mir ansehen, dass ich etwas wusste.

Und da traf mich die Erkenntnis wie ein Stein am Kopf. Mir kam eine Erinnerung an blaue, goldbestickte Seide, ein zuckersüßes Kichern und zwei Gestalten, die in Marcs Wagen verschwanden. Das Mädchen, das wir zuvor im Hof des Stadtrats gesehen hatten.

Wind!, rief ich still und er kam unter meinem Haar hervor. Ist sie das Mädchen, das Marc heute Nacht bei sich hatte?

Ich konnte spüren, wie er kicherte. Das war dann wohl ein Ja. Kappadreck!

»Immer noch kein Grund, uns zu beschuldigen!« Kais Stimme war hart wie ein Fels.

Meine Lippen zuckten, doch die Worte wollten mir nicht über die Lippen. Dabei tat es mir so weh, weil ich wusste, dass er im Unrecht war.

Die Männer des Trupps sahen unsicher von einem zum anderen.

»Man behauptet, sie habe die Nacht in eurem Lager verbracht«, brachte der Soldat vor und umklammerte den Griff seines Schwertes fester.

Ich fuhr mir mit der Hand über meine schweißnasse Stirn, nahm mir vor, es zu sagen, sobald der Mann das Schwert ziehen sollte, und konnte nur hoffen, dass es dann nicht zu spät war.

Langsam müsste der Groschen doch auch bei den Feuerleuten fallen.

Und das tat er. Bei allen Winden! Ein Stein fiel mir vom Herzen, als sich plötzlich alle Köpfe zu Marc drehten.

Es war unter uns allgemein bekannt, was er in seinem Wagen so trieb. Meistens lachte man nur darüber oder hielt ihm vor, die Gefühle junger Mädchen nicht ernst zu nehmen. Manchmal bekam er auch eine Standpauke von seiner Mutter.

Aber heute war es anders.

»Marc?« Kai blickte ihn drohend an.

Marc zog den Kopf ein.

»Sie hat nicht gesagt, dass sie die Tochter eines Bürgermeisters ist. Und ich habe sie heute Morgen vor Sonnenaufgang nach Hause geschickt«, verteidigte er sich sofort und verschränkte reserviert die Arme vor der breiten Brust. Keiner sagte etwas, deshalb setzte er noch: »Ich schwör’s!«, hinzu.

Angu und Justus lösten sich aus der Reihe und liefen zum blauen Wagen hinüber. Justus riss die Tür auf und trat, dicht gefolgt von seinem Schwager, ein.

Es dauerte nur einen Augenblick, bis eine weibliche Stimme zu kreischen begann. »Lasst mich los, ihr ungehobelten Grobiane!«, schrie das Mädchen, das am Arm nach draußen gezerrt wurde.

Marcs Gesicht erbleichte und er wandte sich verschämt ab.

»Lady Elena!«, rief der Truppenführer und trat einen Schritt nach vorn.

Die Linie der Feuerleute löste sich auf und ließ ihn ungehindert durch.

»Nein, nein!«, klagte Elena wenig damenhaft und versuchte sich aus Justus’ Griff zu befreien.

»Ich habe nicht gewusst, dass sie da ist«, versicherte Marc uns immer wieder, doch er erntete nur böse Blicke.

Es war einfach zu typisch. Wäre ich nicht so erleichtert, dass es nicht zu einem Kampf gekommen war, wäre ich sicher auch wütend auf ihn gewesen.

»Nehmt sie mit«, sagte Justus, als er den Soldaten erreichte, und schob das zappelnde Mädchen von sich.

»Mylady.« Der Truppenführer verbeugte sich knapp vor ihr und übernahm sie.

»Nein!«, schrie sie weiter aus vollem Hals, dass es in den Ohren wehtat, und stemmte die Füße in den Boden. »Ihr versteht das nicht! Ich gehöre hierher!«

Der Anführer seufzte. »Jaja, das hatten wir ja schon«, grummelte er, blickte einen Moment verzweifelt drein und warf sich dann die junge Frau ungalant über die Schulter wie ein Sack voll Mehl. »Verzeiht, Lady Elena«, murmelte er dabei nur und ging zu seinem Trupp zurück.

»Es ist Liebe! Wir lieben uns! Ich will nicht weg! Er liebt mich!« Elenas Kreischen erreichte eine neue Tonhöhe.

Marcs Gesicht glühte vor Scham und er sah nicht hin, als man das Mädchen auf das freie Pferd setzte.

Kai trat vor. »Meine aufrichtige Entschuldigung«, sagte er und rieb sich die Stirn. Es war offensichtlich, dass auch er sich für seinen Sohn schämte.

Der Truppenführer zuckte jedoch mit den Schultern. »Ja, wir entschuldigen uns ebenfalls«, erwiderte er bescheiden und wahrte damit Kais Stolz, was ich für eine sehr großzügige Geste hielt.

Kai runzelte die Stirn. Wir hatten alle eine andere Reaktion erwartet.

Der Mann schwang sich in den Sattel. »Macht euch keine Sorgen«, rief er Kai zu. »Das war nicht das erste Mal. Danke für die Kooperation.« Er nickte ihm zum Abschied zu und setzte sein Pferd in Bewegung.

»Marc! Marc!«, schluchzte Lady Elena, und dann ritten sie auch schon über den Feldweg davon.

»Du Vollidiot!«, brüllte Kai und schlug Marc mit der flachen Hand ins Gesicht.

Dieser zuckte nicht zurück. Er war sich bewusst, dass er es verdiente.

Doch mein schlechtes Gewissen nagte weiter an mir. Ich hatte das Mädchen zwar nicht in den Wagen geführt, aber auch nichts dafür getan, die Situation sanfter zu lösen.

»Hat dir ein Kappa in den Kopf geschissen?!«, fuhr Kai ihn weiter an. »Wie kannst du uns nur so beschämen und in so eine Gefahr bringen? Was, wenn sie uns angegriffen hätten? Oder uns vorgeworfen hätten, sie entführt zu haben?«

Marc antwortete nicht und ließ Kais Schimpftiraden über sich ergehen, bis diesem die Puste ausging.

Erschöpft sah er seinen jüngsten Sohn an und schüttelte den Kopf. »Wenn ich sehe, dass du wieder ein Mädchen abschleppst, werde ich dir Feuer unterm Hintern machen!«, drohte er ihm, bedachte ihn noch einmal mit einem stechenden Blick und ging zu seiner Frau, die ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

Der Vorfall fand ein Ende, die Spannung wich langsam und kurz darauf saßen alle beisammen und aßen.

Nur Marc war offensichtlich der Appetit vergangen. Er verkroch sich im Wagen und ließ sich nicht mehr blicken.

Und auch an mir ging es nicht spurlos vorbei.

Geheimnisse waren ein wichtiges Gut. Gerade die Feuerleute wussten das und Justus sagte mir auch ständig, ich solle besser darauf achten. Ihnen fiel das offensichtlich nicht so schwer wie mir. Doch das Feuervolk existierte aus diesem Grund ja auch noch, meins jedoch nicht.

Das verpasste mir den Dämpfer, den ich gebraucht hatte und der mein schlechtes Gewissen mit Angst überlagerte. Es war besser, dass ich nichts gesagt hatte.

Oder?

Ich machte es mir bei Juju und Sally bequem, die mir beim Würfel­spiel das Versprechen abgenommen hatten, mit ihnen zu essen. Mir war das nur recht, es lenkte mich ab. Sowohl von dem, was gerade passiert war, als auch von der Sache heute Morgen.

Justus sah immer wieder zu mir herüber und ich versuchte das geflissentlich zu übersehen.

Mein Herz zog sich jedes Mal zusammen, wenn ich seinen Blick auf mir spürte, und ich konnte nur mit Mühe verhindern, rot anzulaufen.

Juju nahm mich glücklicherweise voll in Beschlag. Wie ein kleines Wolfsjunges schlug sie ihre Zähnchen in einen Rebhuhnschenkel und verschmierte dabei Öl und Gewürze in ihrem ganzen Gesicht. Ihr zuzusehen brachte mich mehr als einmal zum Lachen, doch sie weigerte sich hartnäckig, sich beim Essen helfen zu lassen.

»Ich kann das allein«, sagte sie bockig und ihre ältere Schwester Sally kicherte vergnügt.

Ich löffelte ohne Appetit ein paar Linsen. In letzter Zeit bekam ich kaum etwas runter, ohne mich zu zwingen, und ich fürchtete, dass es an meiner verzwickten Verliebtheit lag.

Als Kai zum Aufbruch rief, hatte ich das großzügige Stück Rebhuhn, das auf meinem Teller lag, nicht mal angerührt.

6


Die Zeit verging im immer gleichen Trott.

Marc hatte nach dem misslichen Zwischenfall mit der Tochter des Bürgermeisters nicht gerade einen Stein im Brett. Doch die Lage normalisierte sich schnell wieder und kaum fünf Tage danach lachte und witzelte er mit Dante und Mei wie zuvor.

Nur Kai behielt an den Abenden ein wachsames Auge auf ihn. Marc war sich dessen nur zu gut bewusst und verhielt sich allen hübschen Dorfjungfern gegenüber nett, aber reserviert.

Ich für meinen Teil legte mich frühzeitig schlafen. Auf keinen Fall wollte ich wissen, was Justus tat. Auch dem Wind schärfte ich ein, nichts zu erzählen. Selbst wenn es mir unter den Nägeln brannte, es zu erfahren.

Noch immer ging ich Justus aus dem Weg und wir hatten seit unserer Auseinandersetzung im Wald auch kein Wort mehr gewechselt. Ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte, aber irgendwie schaffte ich es nicht, mich dazu zu überwinden, ihn einfach anzusprechen.

Wir hatten uns als Kinder nie viel gestritten und wenn doch, dann war damals alles so viel einfacher gewesen, weil unser größtes Problem darin bestand, dass ich mich weigerte, Schuhe zu tragen.

 

Schuhe trug ich immer noch nicht gern, aber alles andere hatte sich verändert. Wann hatten wir aufgehört, so zu sein wie früher?

Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte. Wahrscheinlich würde er erfahren wollen, was denn nun vorgefallen war. Aber es war mir unmöglich, ihm den wahren Grund zu nennen. Er durfte nicht wissen, wie sehr ich ihn mochte.

Da es nicht in seiner Natur lag, gegen meinen Willen auf mich zuzukommen, sagten wir weiterhin nichts.

Obwohl mir unser Schweigen sonst immer gefallen hatte, war diese Stille eine Qual. Es war eine andere Art von Schweigsamkeit. Eine, die uns nicht das Gefühl unserer eigenen kleinen Welt gab, sondern Distanz zwischen uns schaffte.

Und es tat weh.

Ich wusste nicht, wie er sich fühlte, aber mir ging es miserabel. Schließlich war ich nicht nur in ihn verliebt, er war auch mein bester Freund.

Sogar das Windspiel, sein Geschenk, musste ich in das weiche Tuch einwickeln und in meinem Fach verstauen, weil ich den Anblick nicht ertrug.

Auch den anderen fiel schnell auf, dass bei uns etwas nicht stimmte, da Justus und ich sonst so gut wie unzertrennlich gewesen waren. Fast wie Bruder und Schwester.

Mei sprach mich mehrere Male darauf an, doch ich wechselte immer das Thema, um nicht darüber reden zu müssen.

Es war der sechste Tag unserer Schweigsamkeit, als Justus auf die Idee kam, sich von Mei die Haare schneiden zu lassen. Es war ein ruhiger und sonniger Vormittag, an dem Hanna Perlenarbeiten knüpfte, Garan seiner fragwürdigen Leidenschaft fürs Kochen nachging und Fin auf der Suche nach Heilkräutern durch den Wald zog.

Mei hatte viele Talente, doch eine Schere zu handhaben war keines davon.

Justus hockte so unbeweglich wie möglich auf einem Baumstumpf, während Mei einige Strähnen kürzte.

Ich saß auf der Holztreppe vor meinem Wagen und sah heimlich zu, wobei ich vorgab, am Saum meines Kleides weiterzunähen.

Mei legte den Kopf schräg und fuhr ihrem Bruder mit der Hand durch das dichte Haar. Dann zog sie an mehreren Haarbüscheln und zupfte sie zurecht. Ab und zu schnitt sie etwas ab.

Ich stöhnte. Was das nur geben sollte?

Der Wind kicherte, zog ein paar Runden um mich herum und tanzte wieder davon.

Mei schnitt eine Stelle an der Seite etwas zu kurz und ich vergrub die Finger im Stoff meines Kleides, da ich am liebsten aufgesprungen wäre, um ihr die Schere aus der Hand zu reißen.

Sie setzte erneut an und Justus zuckte zurück.

»Willst du mir das Ohr abzuschneiden?«, rief er entrüstet und Mei zog die Schere schnell weg. Ihre Augenbrauen hatten sich zweifelnd zusammengezogen und nachdenkliche Falten bildeten sich auf ihrer Stirn.

Das war zu viel für mich. Schnell legte ich die Näharbeit wieder in den Korb, obwohl ich nicht mehr als ein paar Stiche geschafft hatte, erhob mich von der leise knarrenden Treppe und lief auf die beiden zu.

Ohne Vorwarnung nahm ich Mei die Schere aus der Hand. »Das ist ja nicht mit anzusehen!«, schimpfte ich empört.

Mei sprang erschrocken zur Seite, als ich mich hinter Justus drängte und anfing, ihm systematisch die Haare zu schneiden. Ich würde meine liebe Mühe haben, aus diesem Geschnipsel noch eine ordentliche Frisur zu machen.

»Na endlich.« Mei atmete sichtlich erleichtert auf.

Justus lachte. Er bedankte sich und wollte den Kopf zu mir drehen.

»Beweg dich nicht!«, befahl ich schroff und fuhr ihm mit einer Hand durch die seidig weichen Strähnen, um die Länge anzu­gleichen. Sein Haar fühlte sich wirklich wundervoll an.

Ich hatte ihn die letzten Tage so vermisst, dass ich von meinen Gefühlen geradezu überrollt wurde. Vor allem seine Stimme und seine Nähe.

Das war gar nicht gut. Ich musste damit aufhören.

»Ich hatte wirklich Angst, dass ich ein Ohr verliere«, brummte er und warf Mei einen Seitenblick zu.

Sie grinste und setzte sich neben uns ins Gras.

»Wieso fragst du auch Mei? Du bist selbst schuld, wenn du ihr eine Schere in die Hand drückst«, fuhr ich ihn an und Mei lachte verhalten. Das verwirrte mich.

Der Wind kehrte zu mir zurück und auch er kicherte wieder.

Abrupt hörte ich auf zu schneiden, sah erst zu Mei und dann zu Justus, der sich lächelnd zu mir drehte. »Fertig?« Seine Augen strahlten noch mehr als sein Lächeln.

Mein Herzschlag beschleunigte sich und mir wurde ganz flattrig im Bauch. Das fühlte sich so viel besser an als der harte Klumpen, der mir die letzten Tage Übelkeit bereitet hatte, und ich beschloss, dass alles besser war als Liebeskummer.

»Was geht hier vor?«, schaffte ich trotzdem misstrauisch zu fragen und stemmte sogar eine Hand in die Seiten.

»Was soll denn vorgehen?«, erwiderte Justus mit gespielter Unschuldsmiene und berührte seine Locken, die jetzt um einiges kürzer waren als zuvor. Obwohl er mir mit den Zotteln besser gefallen hatte, sah er auch jetzt verdammt gut aus.

Mei lachte noch lauter, was meine Vermutung bestätigte, dass die beiden irgendetwas ausgeheckt hatten.

Wahrscheinlich war es am Ende sogar, Meis Unvermögen mit der Schere zu nutzen, mich zu ärgern und von der Treppe zu ihnen zu locken. Zuzutrauen war ihnen alles.

»Dreh dich wieder um«, ordnete ich an und schüttelte den Kopf über Mei, die vor Lachen auf dem Boden lag, bis sie von Ayo gerufen wurde, um ihr bei den Ständen zu helfen. Die beiden tuschelten und kicherten.

Ich lächelte nur. Ob meine Vermutung nun stimmte oder nicht, war nicht wichtig. Justus und ich redeten wieder miteinander und das machte mich sehr glücklich. Leider.

Zügig schnitt ich die restlichen Haare und kontrollierte noch einmal, ob ich auch wirklich nichts vergessen hatte. Dann ließ ich einen kurzen kräftigen Windstoß die abgeschnittenen Reste wegpusten.

Um sie Mei nicht zurückzugeben, steckte ich die Schere in die Tasche meiner Rockschürze. Justus saß immer noch da und ich legte die Hände auf seine Schultern und senkte aus einem Impuls heraus die Stirn auf seinen Kopf.

Eigentlich sollte ich so etwas nicht tun, aber ich wollte ihm einfach nah sein nach all den Tagen, die ich es nicht gewesen war. »Fertig«, flüsterte ich.

»Danke«, sagte er und schob zu meiner Überraschung seine Hände über meine. Sie waren so warm. Mein Herz pochte wie verrückt. Ich hatte vergessen, dass Justus so warm war.

Er lachte und hob den Kopf. Ich wich ein Stück zurück, damit er zu mir aufsehen konnte. Seine Augen wirkten dunkler als sonst und glühend wie gebrannte Maronen. »Was hältst du davon, Wachteln jagen zu gehen?«, wollte er wissen.

»Hier im Wald gibt es Wachteln?«, entgegnete ich skeptisch und befreite unauffällig meine Hände. Justus bemerkte es nicht oder tat zumindest so.

»Klar. Ich habe heute früh eine Menge gesehen.« Er stand auf und marschierte los, um seinen Bogen und Pfeile zu holen.

»Ich habe noch keine gesehen«, rief ich verwundert und lief ihm nach.

»Da, wo du geschlafen hast, sind ja auch keine gewesen.« Seine Stimme klang gedämpft, als er seinen Wagen betrat.

Ich zog irritiert die Augenbrauen nach oben. »Woher weißt du denn, wo ich geschlafen habe?«, platzte es aus mir heraus, obwohl ich die Frage eigentlich nicht hatte stellen wollen.

Justus schwang sich aus der Tür und grinste. Ein Grinsen, das ich bisher nur an Marc gesehen hatte: das Wolfsgrinsen.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich nicht immer ein Auge darauf habe, wo du grade steckst?«, behauptete er und eine kleine Flamme sprang aus der Glut in meinem Herzen.

Wachteln sahen wir nur wenige, obwohl Justus steif und fest behauptete, am Morgen mindestens zwei Dutzend beobachtet zu haben.

Aber dafür lachten wir viel, alberten herum und zu meiner Erleichterung führte das Gespräch nie zu unserer Auseinandersetzung der letzten Woche.

Selbst das Feuerspektakel an diesem Abend machte mir mehr Spaß als die vorigen und auch Justus wirkte viel gelöster.

Seit meinem Ausraster hatte ich mich gehütet, zu genau auf ihn zu achten, doch bei den Feuerspielen war er mir trotzdem sehr zurückhaltend vorgekommen.

Nach dem großen Finale, als der Applaus langsam abebbte, servierten einige Dorfbewohner ihr kleines bescheidenes Gebäck.

Diesmal floh ich nicht in den angrenzenden Wald, um mich schlafen zu legen. Ich blieb und nahm mir ein einfach geformtes Zuckerbrötchen. Es war köstlich, noch viel besser als die Nussschnecke, die ich bei meinem letzten Fest gegessen hatte. Ich probierte gleich ein zweites, das mit rotem Kompott gefüllt war. Herrlich! Hefegebäck war einfach mein Lieblingsessen.

Justus stand mit Marc und drei jungen Männern aus dem Dorf zusammen. Sie plauderten über die diesjährige Ernte und den Weg, den wir mit den Wagen noch zurücklegen würden, bevor der Winter uns nach Hause rief.

»Achtet gut auf euch«, sagte der eine von ihnen. »Die Unruhen hier in den Grenzgebieten werden immer schlimmer.«

»Sind die Fürsten immer noch im Zwist? Haben die nicht langsam genug, sich gegenseitig Spione auf den Hals zu hetzen?«, schnaubte Marc laut und nippte an einem Becher.

»Weswegen streiten sie sich denn?«, erkundigte ich mich und die Männer sahen erstaunt auf. Sie hatten anscheinend gar nicht bemerkt, dass ich zu ihnen getreten war. Mir war es selbst kaum aufgefallen, doch plötzlich stand ich neben ihnen, um mich an dem Gespräch zu beteiligen.

Justus warf mir einen erschrockenen Blick zu und sah dann warnend zu den anderen. Fast hatte ich das Gefühl, er wollte, dass sie mir nicht antworteten.

»Sie streiten sich um Land«, sagte einer der Dörfler etwas verunsichert und sah von mir zu Justus und wieder zurück.

»Um welches? Ich dachte, die Grenze der Meeresgebiete wäre durch den Nordfluss klar abgesteckt?«

Justus seufzte tief.

»Cate, wie ist das Gebäck?«, fragte er mich unvermittelt und ich sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle beisammen. Was sollte das denn für eine plumpe Art sein, das Thema zu wechseln? Wieso wollte er nicht, dass ich Antworten auf meine Fragen bekam?

»Sehr gut, besonders die Zuckerbrötchen sind die besten, die ich je gegessen habe.« Mit ausgestrecktem Finger zeigte ich auf die Platte, auf der ich sie gefunden hatte, wandte mich aber sofort wieder an den Dörfler und schaute ihn auffordernd an.

Er sah noch irritierter aus. Sicher wusste er nicht recht, was er von Justus’ Kommentar halten sollte. Ich wusste es ja auch nicht.

»Und?«, forderte ich ihn auf, damit er mir seine Aufmerksamkeit schenkte, und er blinzelte zu mir herunter.

»Sie kämpfen um die Landesspitze«, brachte er etwas unsicher heraus und schob die Hände in die Hosentaschen. »Die Windküste.«

Ich verschluckte mich beinahe an dem Bissen, den ich gerade im Mund hatte.

»Es liegt nicht auf eurer Route, aber es ist ein wunderschöner Landstreifen. Mein Vater und ich waren letzten Herbst einmal dort. Ich habe noch nie so einen wundervollen Strand gesehen«, fuhr er fort und ich vergaß zu atmen.

Ich wusste, dass die Fürsten von Albahr und Mari seit Jahren in einem Konflikt standen. Doch ich hatte mich nie viel für Politik interessiert. Doch zu hören, dass sie um die Windküste stritten, versetzte mir einen Schlag.

Meine Heimat, schoss es mir durch den Kopf. Ich kannte den Strand und die seichten Wellen, die um die nackten Knöchel schäumten und sich sanft wieder zurückzogen. Die Sonnenuntergänge, die hellen Laubwälder, die flachen Steppenländer, durchzogen von Flussläufen. Oft träumte ich davon, sehnte mich danach, wusste, dass mir dieser Ort ins Herz geschrieben war.

Es war die Heimat meines Volkes gewesen, bevor die Menschen es ausgerottet hatten. Jetzt, da es kein Windvolk mehr gab, gehörte es niemandem.

Außer vielleicht mir. Aber ich konnte schlecht einen Anspruch geltend machen, ohne mich zu verraten. Und das würde mich in Lebensgefahr bringen.

Justus nahm sanft meine Hand und holte mich aus meinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück.

Ich schluckte umständlich und sah in die Gesichter der Anwesenden, die alle ein wenig verwundert dreinblickten. Die Dörfler glaubten sicher, ich wäre ein wenig verrückt.

»Ich hole mir noch ein Zuckerbrötchen«, stammelte ich, obwohl ich noch ein halbes in Händen hielt, und wandte mich schnell ab.

Justus drückte ein letztes Mal meine Finger und ließ mich dann widerwillig gehen.

 

Ohne wirklich darauf zu achten, lief ich zu den Platten und stand ratlos davor. Der Appetit war mir vergangen.

Laila trat lächelnd neben mich und stupste mich mit der Schulter an. »Na, alles in Ordnung?«, fragte sie leichthin und nahm sich ein Gebäck.

Ich nickte und schaffte es sogar, ihr ebenfalls ein Lächeln zu schenken. Doch es gefror mir im Gesicht, als ich hinter ihr einen jungen Mann entdeckte, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er war schlank, etwas schlaksig und beobachtete mich. Seine blonden Locken tanzten in einem leichten Lüftchen.

Bei allen Winden, es war wieder der Kerl aus der Stadt, in der wir die Briefe am Haus des Stadtrates abgegeben hatten.

Er war mir gänzlich entfallen nach der Sache mit Justus und diesem Mädchen.

Warum war er hier? War es Zufall? Es musste Zufall sein.

Oder hatte Mei am Ende recht gehabt? Er hatte sich Hals über Kopf in mich verliebt und folgte uns nun von Dorf zu Dorf.

Blödsinn! So etwas passierte nur in Geschichten und nicht in der Wirklichkeit. Und vor allem nicht mir.

Der junge Mann fing kurz meinen Blick auf, lächelte wieder dieses besondere Lächeln und verschwand dann mit schnellen Schritten in der Dunkelheit.

Ich fröstelte, obwohl es nicht wirklich kalt war, und fühlte mich einen Moment lang so schrecklich einsam, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

Heute Nacht wollte ich auf keinen Fall allein sein. Ich war von einer Nervosität befallen, die sich nicht abschütteln ließ. Besonders, weil der Wind schon wieder verschwunden war.

Keine Ahnung, was zurzeit mit ihm los war, aber es trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Im Gegenteil.

Ich floh zwischen den Dörflern hindurch zu meinem Wagen. Immer noch spürte ich die Beklemmung in meiner Brust, rief den Wind noch einmal und hängte schnell das Windspiel wieder auf. Nur zur Sicherheit. Schließlich hatte ich den Wind die Male zuvor immer wieder dort vorgefunden. Doch diesmal blieb er weiterhin fern.

Doch obwohl der Fremde verschwunden war, hielt ich mich den restlichen Abend in der Nähe der anderen, um zu keinem Zeitpunkt ganz allein zu sein.

Es war noch nicht sehr spät, als die letzte Gruppe Dörfler den Weg nach Hause antrat. Das gefiel mir an den kleinen Dörfern. Es war alles viel familiärer, nicht so große Menschenmassen, und man kam früher ins Bett.

Als ich wieder zu meinem Wagen lief, fand ich dort auch endlich den Wind in gleichmäßigen Bahnen um die Muscheln kreisen. Er summte wieder dieses Lied, unterstützt von den leisen Klängen der silbernen Röhren.

Was ist nur los mit dir?, fragte ich ihn wie jedes Mal besorgt.

Erneut trug er mir nichts als tiefe Erschöpfung entgegen. Keine Erklärung. Doch zumindest war er da.

Liebevoll berührte ich ihn und er schmiegte sich müde an meine Hand.

Als ich wieder hinausging, folgte er mir und zog träge an meinem losen Haar.

Die Dörfler waren gegangen und viele von uns schon in ihren Betten verschwunden.

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. Unmöglich konnte ich heute Nacht in einem stickigen Wagen schlafen, in dem Ayo schnarchte und Mei im Traum redete. Allein im Wald wollte ich allerdings genauso wenig sein.

Zum ersten Mal wünschte ich mir, dass Marc ein Mädchen mitgenommen hätte, damit Justus gezwungen wäre, bei mir zu sein.

Ich konnte ihn ja kaum darum bitten, bei mir zu bleiben. Oder etwa doch? Früher hätte ich es einfach gemacht, doch seit unserem Streit und all den Gefühlen, die in mir tobten, fühlte ich mich unsicher, fahrig und unwürdig.

Leise, damit ich die anderen nicht störte, holte ich mein Schlafbündel aus dem Wagen und trat wieder raus in die Dunkelheit der Nacht. Der Himmel war klar, der Mond warf Schatten auf die Lichtung und die Sterne funkelten wie Millionen Glühwürmchen.

Nicht weit entfernt hörte ich eins der Kappa muhen.

»Du bist noch wach?«, fragte Justus überrascht und ich schreckte zusammen. Er kam die Stufen seines Wagens hinunter und auf mich zu. »Ich dachte, du wärst schon schlafen gegangen. Ich wollte grade schauen, wo du dich in den Wald geschlagen hast.« Er gähnte und ließ die muskulösen Schultern kreisen, um sie zu lockern.

Ich seufzte still und wünschte mir, er würde mich auf der Stelle in die Arme schließen, mir übers Haar streichen und sagen, dass alles in Ordnung war. »Justus?«

Er sah mich fragend an.

Ich öffnete den Mund und stockte. Es war so schwer, mich zu überwinden und meine Gedanken in Worte zu fassen.

Obwohl ich all meinen Mut zusammennahm, schaffte ich es trotzdem nicht, ihm in die Augen zu sehen. »Kannst du … ich möchte nicht … wäre es möglich, dass du …«, stammelte ich, krallte die Finger in das Schlafbündel und versuchte schnell noch einmal darüber nachzudenken, wie ich es am besten formulierte.

»Was ist los? Du bist ja blass wie ein Gespenst«, sagte er und Sorge trat an die Stelle der Müdigkeit, die vorher seine Züge gezeichnet hatte.

»Ich bin doch immer blass«, wollte ich mich rausreden, doch Justus streckte seine große, warme Hand nach mir aus und berührte meine Wange.

»Aber nicht so blass. Wenn du so vor dich hin stotterst, bist du normalerweise so leuchtend rot wie ein Signalfeuer.«

Er machte sich immer so viele Gedanken um mich. Der beste große Bruder der Welt, wenn ich ihn nur länger als solchen betrachten könnte.

»Es ist nichts. Vergiss es lieber.« Ich wand mich aus seiner beschützenden Hand, drückte mein Schlafbündel fester an die Brust und wandte mich dem Wald zu.

»Cate?«

Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. Wenn ich es tat, würde ich nur schwach werden.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mir so davonkommst.« Justus war mit wenigen Schritten bei mir, packte mich an den Schultern und drehte mich zu sich.

Ich bemühte mich, im Dunkeln meine Zehen zu erkennen.

»Ich verspreche, ich sage nichts zu deinem Verhalten der letzten Tage. Aber wenn es dir nicht gut geht oder etwas ist, bei dem ich dir helfen kann, dann lass mich dir helfen.« Seine Stimme war dunkel und weich wie die Nacht selbst.

Wenn du nur wüsstest, dachte ich bei mir, und wie ich es mir selbst prophezeit hatte, brannte meine Gegenwehr nieder wie ein Haus aus Stroh.

Ich gab dem übermächtigen Drang nach, lehnte mich vor und drückte meine Stirn gegen Justus’ breite Brust. Er strahlte in der kühlen Nachtluft eine unglaubliche Wärme aus. Wärme, die ich jetzt wirklich gut gebrauchen konnte.

Justus seufzte tief und strich mir übers Haar, genau wie ich es mir kurz zuvor ausgemalt hatte.

Doch es fühlte sich anders an. Ich hatte geglaubt, es müsse wunder­schön sein. Aber zu wissen, dass er in mir eine kleine Schwester sah, die es zu beschützen galt, vergiftete den Moment mit einer Bitterkeit. Außerdem würde ich ihn, egal wie, niemals für mich gewinnen können.

Tränen quollen aus meinen Augen und liefen über. Ich konnte nicht mehr. Die Gefühle für Justus raubten mir Appetit, Kraft und Verstand. Der Blick dieses blonden Fremden jagte mir plötzlich noch mehr Angst ein. Und der Wind war, aus mir unerfindlichen Gründen, krank geworden.

»Es ist alles zu viel«, schluchzte ich und begann zu zittern. Wie armselig ich aussehen musste. Das war der Tiefpunkt.

Ich schalt mich selbst für mein feiges Selbstmitleid und versuchte, mich schnell wieder zusammenzureißen. Der Wind, dem es besser zu gehen schien, strich mir an den Händen entlang und flüsterte Ermutigungen.

Justus legte die Arme um mich, zog mich ganz nah an sich und ich wurde von einer Geborgenheit überwältigt, die mir den Atem raubte. Es kam mir vor, als wurde Justus immer wärmer.

Angestrengt versuchte ich das Schluchzen zu unterdrücken. Denn der nun erreichte Tiefstand gab mir neuen Mut. Oder war es Verzweiflung?

»Ich möchte nicht allein im Wald schlafen«, brachte ich atemlos heraus und spürte, wie Justus nickte.

Vorsichtig ließ er mich los und gebot mir mit einer Geste, kurz auf ihn zu warten. Er ging zu seinem Wagen und zog aus dem Fach unter dem Kutschbock sein Schlafbündel hervor.

Keine Fragen, kein Zögern. Justus kam meiner Bitte nach.

Schweigend machten wir uns auf, meine Hand in seiner, um ein geeignetes Baumpaar zu suchen. Er half mir, die Hängematte zwischen die beiden Stämme zu spannen, und blickte mich dabei immer wieder an.