KHAOS

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Neunzehn Kapseln

Ich schob mir ein Stück gezuckerte Mandarine aus der Dose zwischen die Zähne und legte den Kopf schräg. Bäuchlings lag ich auf einer der Kryokapseln und sah mir eine junge Frau an, deren Haar mich ungemein faszinierte. Es war lang und feuerrot. Die Person, die sie eingefroren hatte, musste eine ähnliche Faszination für diese Haare verspürt haben, denn sie waren kunstvoll um ihren Kopf drapiert und brachten so ihre langen Wimpern, die glatten Wangen und die vollen Lippen zur Geltung.

Sie war nicht die Erste, die ich mir heute ansah. Ich hatte den Krebstrolley benutzt und die Kapseln, die die Männer gestapelt hatten, auf der einen Seite des Raumes verteilt. Ich war von Kapsel zu Kapsel gegangen, hatte mit einem Stück Tuch die Scheiben sauber gewischt und sie mir alle angesehen.

Die Nacht war hereingebrochen, als ich erwacht war, und ich hatte mich hinuntergeschlichen, um mir unauffällig etwas zu essen zu holen. Zwischen all den Männern, die sich zur späten Stunde bedienten und sich für das bevorstehende Gemetzel in der Wüste bereit machten, war ich gar nicht weiter aufgefallen. Die meisten hatten nur den Angriff im Kopf, von Sorge bis Blutdurst war alles dabei, und ich versuchte, so wenig Leuten wie möglich in die Augen oder Seelen zu blicken. Ich überflog sie nur grob, hielt Ausschau nach akutem Gewaltdrang und füllte mir meine Schüssel mit Essen.

Ich hatte keine Ahnung, was der dampfende Brei eigentlich war, den ich vor mir hatte, aber als oberste Regel beim Essen galt, dass du es gar nicht wissen wolltest! Und daran hielt ich mich, genau wie alle anderen.

Khaos’ Seele zog mich wieder magnetisch an und meine Augen fanden ihn nur wenige Sekunden später. Er war die Ruhe selbst, behielt unauffällig den Überblick und löffelte aus einer Schüssel, die in seinen Händen viel kleiner aussah als in meinen. Er ekelte sich ein wenig vor dem Inhalt, verzog allerdings keine Miene. Man hatte ihm sicher befohlen zu essen und ich musste mir ein Lächeln verkneifen. Die anderen hielten alle einen gewissen Abstand zu Khaos und Ares, ihr Teil des Tisches war bis auf die beiden unbesetzt.

Seufzend wandte ich mich ab und verschwand zurück in meine Krankenstation. Ich war wirklich in Versuchung gewesen, mich zu ihm zu setzen, doch das hätte zu viel Aufmerksamkeit erzeugt, und ich musste Boz ja nicht noch mit der Nase daraufstoßen, dass wir uns womöglich verschworen hatten.

Also lief ich schweren Herzens zurück, aß brav mein Essen auf und wartete dann darauf, dass die anderen sich bereit machten, während ich die Zeit mit allen möglichen Kleinigkeiten füllte. Die Spannung stieg und ich wusste, dass sie ihren Höhepunkt erreichen würde, kurz bevor die Männer aufbrachen.

Ich versuchte mir nicht vorzustellen, was sie in der Wüste erwartete.

Ich selbst war noch nie draußen gewesen. Auch wenn man mir oft gesagt hatte, es wäre nicht einmal ein Bruchteil der Erde, von der meine Spezies stammte, erschien mir die Welt so wahnsinnig riesig. Es machte mir Angst, ohne den Schutz von Wänden und Türen zu sein.

Am Tag war es in der ewigen Wüste sengend heiß und Stürme peitschten einem den Sand um die Ohren, sodass man noch Wochen später Körnchen in jeder noch so kleinen Körperöffnung finden konnte. Die Nächte waren dagegen bitterkalt und so still, dass man nicht zu sprechen wagte.

Doch heute Nacht würde die Stille dort draußen zerbrechen wie splitterndes Eis. Und es würde Tote geben. Ich konnte nur hier sitzen und darauf warten, dass es geschah.

Ich würde mich ablenken so gut es ging, denn so oder so spürte ich es, wenn Seelen auf diesem Planeten erloschen.

Und jetzt lag ich hier, starrte in schlafende Seelen und versuchte zu verstehen, wie die Menschen waren, die ich hier vor mir hatte und die ich zweifellos früher oder später aufwecken würde.

Ich wusste jetzt schon, dass ich alles tun würde, um was Khaos mich bat. Töricht vielleicht, aber ich konnte nicht anders. Als hätte ein Sumpfsauger seine Stacheln in meinen Hirnstamm gebohrt, die meine Urteilsfähigkeit vollkommen lahmlegten. Nur dass da kein glitschiges Scheusal war und dass es nur Khaos möglich war, mich anzusehen, und ich zu einem kopflosen, dummen Ding wurde, das ihm all seine Geheimnisse preisgab.

Ich konnte nur hoffen, dass ihm diese Tatsache nicht zu schnell bewusst wurde, sonst musste ich fürchten, er würde mir alles nehmen, was ich hatte. Alles, sogar mein Herz und meine Seele.

Und ich hatte dem nichts entgegenzusetzen. Nicht mal ein bisschen.

Seufzend fischte ich ein weiteres Mandarinenstück aus der Dose. Die Frau in ihrem eisigen Schlaf war zu schön, als dass ich mich einfach hätte abwenden können. Doch gleichzeitig fühlte der Vergleich mit ihr sich wie ein Schlag in die Magengrube an.

Eigentlich hatte ich mich nie für hässlich gehalten, ein wenig zu dünn vielleicht und meine Haare waren immer ein heilloses Desaster, aber ansonsten konnte ich mich sehen lassen. Natürlich hatte ich es noch nie darauf angelegt, denn es war mir auch in meiner Situation immer wie ein Nachteil erschienen, annehmbar hübsch zu sein.

Doch einem Vergleich mit einem genveränderten Menschen hielt ich nicht stand. Wie auch? Schon die Männer waren ungewöhnlich schön, da war es kein Wunder, dass die Frauen die Latte nur noch höher legten.

Grob strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und entschloss mich, etwas Sinnvolles zu tun. Die Nacht war noch lang und ich hatte den ganzen Tag verschlafen, daher war ich jetzt nicht sonderlich müde. Ich bezweifelte auch, schlafen zu können, wenn ich doch wusste, dass Menschen da draußen möglicherweise ums Leben kamen.

Okay, nicht irgendwelche Menschen. Khaos vor allem.

Ich stemmte mich hoch und rutschte seitlich von der Kapsel. Meine Knie federten, als meine Füße den Boden berührten, und ich ächzte schmerzvoll. Man müsste meinen, ich hätte mich mittlerweile daran gewöhnt, doch auch wenn ich dieses Leiden schon seit Jahren mit mir herumschleppte und es stetig schlimmer wurde, war ich immer noch überrascht, wenn mir Stiche in die Glieder fuhren, meine Muskeln schmerzhaft pochten oder ich das Gefühl hatte, meine Knochen würden innerlich glühen.

Flüchtig sah ich auf die Uhr. Die Männer waren weg, die Station weitestgehend still, bis auf die wenigen, die hiergeblieben waren. Meine nächste Tablettendosis durfte ich erst in ein paar Stunden nehmen. Verdammt!

Mein Blick glitt durch den Raum und ich fragte mich, was ich noch tun konnte. Krungs Chaos hatte ich bereits beseitigt, hatte eine große Menge Kochsalzlösung bereitgestellt, nur für den Fall, dass wir sie bald brauchen würden, und sogar meine Wäsche hatte ich gewaschen und an einer Leine aufgehängt, die ich von meinem Loch bis zu einer Leiter an der hinteren Wand spannte.

Die Leiter hatte einst nach draußen geführt. Manchmal, wenn der Wind günstig wehte und die Sandschicht über dem Ausgang dünn hielt, konnte man von dort die Sonne oder selten sogar ein paar Sterne sehen. Die Klappe selbst war vom Sand zerfressen und ließ sich nicht mal mit Gewalt öffnen.

Mit dem Hintern lehnte ich mich an die Kryokapsel der rothaarigen Göttin und dachte schon wieder an Khaos, auch wenn ich es mir eigentlich schon mehrere Male verboten hatte. Ich musste mich selbst dazu zwingen, meinen Sinn nicht nach draußen schweifen zu lassen, um festzustellen, ob es ihm gut ging. Es war eine weite Strecke und es erforderte viel Konzentration und noch mehr Kraft, die mein Körper im Moment aber nicht hergab.

Also begnügte ich mich mit den einundzwanzig Seelen, die ich hier vor mir hatte. Ich stockte, als mir etwas einfiel. Da war noch ein Punkt auf meiner To-do-Liste. Einundzwanzig Seelen, die aber laut Khaos vierzig Seelen hätten sein müssen. Wo waren also die restlichen Kapseln?

Ich horchte noch einmal in die Station, um festzustellen, wer noch hier war und wo sie sich aufhielten. Krung war zum Glück weg, doch Cobal bewegte sich mit Unruhe im Bauch durch sein Quartier. Es überraschte mich, dass er im Lager zurückgeblieben war, obwohl ich es mir eigentlich hätte denken können.

Echsoiden waren Kaltblüter. In der Nacht, draußen, war er so nützlich wie ein Spielzeug. Er war schwach, er war unglaublich langsam und möglicherweise würde er sogar erfrieren, ohne es selbst zu merken. Dafür konnte ihm die Sonne am Tag gar nicht heiß genug sein und er wurde zu einem gefährlichen Jäger, der im Sand sein zweites Zuhause gefunden hatte.

Erikson war hier, er schlief und es ging ihm schon ein bisschen besser. Neben ihm am Boden kämpfte Nefrot mit dem Schlaf und dachte an schmutzige Dinge, sodass ich mich erschrocken aus seinem Kopf zurückzog.

Auf der anderen Seite des Flügels befanden sich die Frauen und ausnahmsweise zählte ich sie durch und checkte ihr aktuelles Befinden. Sie waren zu acht und sie waren recht guter Laune, was wohl dem Umstand zu verdanken war, dass sie ihre Betten diese Nacht für sich allein hatten.

Sie hielten untereinander zusammen und stärkten sich gegenseitig, obwohl sie im Großen und Ganzen eher ein trauriger Haufen waren.

Ich hatte nie dazugehört. Nicht dass ich mich je um ihre Freundschaft bemüht hätte. Ihre Seelen waren zu geschändet, als dass ich es lange mit ihnen ausgehalten hätte.

Eigentlich bekam ich sie nur manchmal beim Essen zu sehen, oder wenn sich jemand verletzt hatte und meiner Hilfe bedurfte. Sie hielten sich aber meist von mir fern und das nicht, weil sie mich schützen wollten oder so. Sie mochten mich nicht, fühlten sich in meiner Gegenwart befangen und beobachtet und sagten mir nach, ich sei die Brut der Hölle.

 

Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber es schien nichts Gutes zu sein, denn die Palette an Empfindungen, die sie mir entgegenbrachten, reichte von Angst über Hass bis hin zur Abscheu.

Mir war klar, dass der Vergleich hinkte, aber in einer gewissen Weise war es mit ihnen wie mit den Tieren. Keiner traute sich an mich ran.

Nur Männer schienen zu unsensibel zu sein, um zu spüren, dass ich irgendwie anders war.

Neunzehn vermisste Kisten, dachte ich bei mir und holte meine Tasche aus meinem Loch in der Wand. Wenn sie hier auf dem Planeten waren, dann in dieser Station. Etwas anderes wäre nicht logisch gewesen.

Dennoch nahm ich mir vor, meinen Sinn so weit auszudehnen wie ich konnte, um so viel wie möglich vom Planeten zu sehen.

Allerdings erst, wenn ich meine Medikamente wieder genommen und jemanden bei mir hatte, der mir im Fall der Fälle eine Injektion geben konnte.

Ich hielt die Augen offen, begann in den oberen Stockwerken und bewegte mich dann langsam nach unten, immer darauf bedacht, schimmernde Lichtpunkte aufzufangen, wenn sie mir begegneten. Doch die einzigen, die mir begegneten, waren ein paar größere Tiere, die sich in den Wänden versteckten, und eine satte Veko-Spinne, die auf dem Dach saß.

Als ich die Stelle im Gang erreichte, die in den unteren Teil des Gefängnisses führte und die der Schutt zuvor versperrt hatte, war ich ziemlich überrascht über die Gründlichkeit, mit der die Männer den Gang geräumt hatten. Natürlich klaffte ein gewaltiges Loch in der Decke, durch das ich in die oberen Stockwerke sehen konnte, aber so etwas gab es hier häufiger. Meist umging ich diese Gänge, weil ich meinem Körper nicht mehr zutraute, über die Abgründe hinwegzuspringen.

Der Gang führte weiter nach unten, doch spürte ich diesmal nicht mehr die Befangenheit, die ich sonst empfunden hatte. Ich folgte ihm bis zum kreisrunden See, der dunkel vor mir lag und in dem ich die unzähligen Lichter der Bewohner spüren konnte. Mit geschlossenen Augen tastete ich nach ihnen, sah sie mir an, wie sie ihre stillen Runden zogen, und war wie immer erstaunt über die Tiefe des Sees. Doch wenn ich gehofft hatte, am Grund etwas zu finden, dann wurde ich enttäuscht. Keine schlafenden Seelen.

Meine Füße trugen mich zurück in den Raum, in dem ich Khaos gefunden hatte. Der Gang vor der Abstellkammer war schmutziger als letztes Mal. Überall lagen kleinere Schutthaufen.

Der Raum selbst hatte sich um das Doppelte vergrößert. Die Männer hatten den eingestürzten Teil freigeschaufelt, um alle Kapseln zu bergen, und Boz hatte es sie gründlich machen lassen.

Ich setzte mich auf den staubigen Boden, schloss die Augen und sah Khaos’ Gesicht vor mir, wie er in seiner Kapsel gelegen hatte und wie fasziniert ich von ihm gewesen war. Jetzt kam es mir vor, als sei es Ewigkeiten her, obwohl seitdem vielleicht ein paar Tage vergangen waren.

Doch es hatte sich so viel verändert. Mein Inneres hatte sich völlig verdreht. Ich schürfte Hoffnung, wo vorher Mutlosigkeit gewesen war, verspürte Gefühle, wo mich vorher Einsamkeit und Leere gefüllt hatten. Und auch wenn meine Umstände eigentlich nicht anders waren als zuvor, fühlte ich mich doch besser und mein Leben hatte eine gewisse Richtung bekommen, ein Zentrum, um das ich mich drehen konnte.

Ich scheuchte die Gedanken beiseite, konzentrierte mich auf das Wesentliche und dehnte meine Sinne aus. Langsam tastete ich mich durch den Raum, in die angrenzenden und in die unter mir. Ich nahm mich zusammen, sammelte Kraft und spannte mich über das ganze untere Stockwerk, tief in den Boden, in die Wurzeln der Station, in denen nur noch Energiereserven und anderer zerfallener, technischer Schnickschnack sein mussten.

Natürlich fand ich nichts. Wäre wohl auch zu einfach gewesen.

Die neunzehn Vermissten waren also nicht auf dieser Station. Dessen konnte ich mir schon mal sicher sein.

Ich klopfte mir die dunkle Hose ab, verließ den Raum, um hinauf in das bewohnte Areal zu steigen, und kam an einem der unzähligen Terminals vorbei, die überall an den Wänden angebracht waren. So wie bei fast allen, waren auch hier die Kabel aus der Wand gerissen und die blanken Drähte zeigten wie mahnende Stachel zur Decke.

Sie waren in ihr eigenes Verderben gelaufen, dachte ich bei mir und seufzte. So gut wie jeder Computer war von den Männern zerstört worden, als sie vor fünfzehn Jahren die Station übernommen hatten. Doch damit hatten sie sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Und zwar auf diesem Planeten, von dem es ohne Raumschiff kein Entkommen gab. Keine Computer, keine Sendefunktion. Keine Sendefunktion, kein Kontakt zur Außenwelt. Natürlich hatten sie sich für schlau gehalten, die Wärter und alle anderen Offiziellen dadurch an einem Hilferuf zu hindern. Doch eigentlich hatten sie sich damit selbst ein Grab geschaufelt.

Nicht alle Terminals waren so zerstört wie dieses. Vielleicht könnte ich eines davon in Gang bekommen, um wenigstens auf die internen Daten zugreifen zu können. Lieferscheine, Gefangenenübergabeprotokolle. Wenn ich sehen könnte, was über die Kryokapseln dokumentiert war, wüsste ich vielleicht auch, wie viele es ursprünglich gewesen waren.

Doch mein technisches Verständnis war leider sehr eingeschränkt und ich kannte nur wenige, die davon wirklich Ahnung hatten. Die meisten von ihnen würden mir sowieso nicht helfen wollen.

Außer vielleicht … Hatte Erikson nicht vor seiner Zeit als Häftling als technischer Offizier auf einer Militärbasis gedient? Er hatte auch schon einige Dinge repariert. Kleinigkeiten meistens, wie in der Küche etwas auszubessern, Stromleitungen zu überprüfen, zu kitten – und einmal hatte er einen Wackelkontakt in meiner Wärmekammer behoben.

Schnellen Schrittes machte ich mich auf den Weg zu ihm. Obwohl es mitten in der Nacht war, konnte ich dem Drang einfach nicht widerstehen. Ich würde es als Krankenbesuch tarnen. Mit größter Wahrscheinlichkeit war der Mann sowieso nicht bei Bewusstsein, aber nachschauen kostete nichts.

Leise klopfte ich an Eriksons Tür und wartete. Drinnen erspürte ich zwei Personen. Erikson schlief und auch wenn sein Zustand besser geworden war, würde ich ihn wohl kaum wecken können. Mist!

Nefrots Seele zeigte mir, dass er noch wach war und lauschte. Ich spürte Unsicherheit und Unglauben. Er war sich nicht sicher, das Klopfen wirklich gehört zu haben. Ich klopfte noch einmal und jetzt kam Leben in ihn. Nur ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür.

Nefrot schien nicht überrascht zu sein, mich vorzufinden. Wer sollte sonst mitten in der Nacht durch die Gänge schleichen?

Für einen Moment starrte er geschockt auf den tief lilafarbenen Bluterguss auf meiner Wange, sagte aber nichts dazu.

»Ich hab das Gefühl, es geht ihm besser«, teilte Nefrot mir mit, während er zur Seite trat, um mich durchzulassen. Er sah ziemlich zerwühlt aus, als ob er schon eine Weile wach gelegen und sich herumgewälzt hätte. Sein Haar stand in alle Richtungen ab und unter seinen Augen befanden sich dunkle Ringe. Ich konnte sein Lager aus einer Matratze und ein paar Decken neben der Wand ausmachen.

Ich trat näher an Eriksons Bett, legte dem Mann die Hand auf die Stirn und warf einen prüfenden Blick auf den Verband um seine Mitte herum. Es war nicht unbedingt notwendig für mich, solche Gesten auszuführen. Doch andere wurden schnell misstrauisch, wenn ich Diagnosen stellte, ohne mir die Leute richtig angesehen zu haben.

»Ich denke, du hast recht«, gab ich zurück und kaute auf meiner Unterlippe. Ich musste mich richtig überwinden, Nefrot anzusprechen. Selten war ich diejenige, die ein Gespräch begann. Meistens war ich froh, wenn man mich in Ruhe ließ.

»Würdest du mir Bescheid sagen, wenn er aufwacht? Ich brauche seinen technischen Rat«, kamen die Worte ganz beklommen aus meinem Mund geschlichen und Nefrot hob die Augenbrauen.

»Technischer Rat?«, wiederholte er und zuckte mit den Schultern. »Ist was kaputt? Soll ich’s mir mal ansehen?«, bot er an und ich blinzelte überrascht. Seine Seele strotzte vor Stolz und Überzeugung, der Aufgabe gewachsen zu sein. Vielleicht rührte daher auch die bestehende Wechselbeziehung zwischen ihm und Erikson. Vielleicht fühlte es sich nicht nur an wie eine Schüler-Lehrer-Beziehung, vielleicht war es eine.

»Äh, nein«, sagte ich, obwohl ich eigentlich etwas ganz anderes meinte. »Ich meine: ja«, verbesserte ich mich hastig und war mir im Klaren darüber, dass ich das besser erklären müsste. »Es ist nicht direkt etwas kaputt. Aber …« Hoffentlich konnte ich das fragen, ohne dass ein langer Rattenschwanz an Fragen hinterhergezogen wurde.

Nefrot sah mich erwartungsvoll an. Er war ganz übermütig bei dem Gedanken, sich selbst zu beweisen. Vielleicht konnte ich das für mich nutzen.

»Ich müsste an einen Terminal. Interne Daten, weißt du. So medizinisches Zeug … Lieferungen, Standorte … oder so«, brachte ich wenig überzeugend hervor. »Und du kannst so was auch?«, fragte ich vorsichtig nach und versuchte, meiner Stimme eine gewisse Bewunderung zu verleihen.

Nefrot grinste und seine Gefühle zeigten mir, dass ich ihn schon im Sack hatte. »Ich lern’s grad. Und sich’s mal anzuschauen, kostet ja nix, oder?«, behauptete er lässig und schob sich die Hände in die Gesäßtaschen. Doch seine Seele verriet mir, dass er es aus Unsicherheit tat und dass er krampfhaft versuchte, cool auf mich zu wirken.

Das konnte er von mir haben, wenn er wollte, solange er keine weiteren neugierigen Fragen stellte. »Okay. Unten im alten Gefängnistrakt sind noch welche, die nicht so zerfranst sind wie die hier oben«, erzählte ich, lächelte schüchtern und strich mir sogar eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Nefrot wurde immer aufgeregter und ich beschloss, dass ich genug Entgegenkommen gezeigt hatte.

»Na, dann los! Ich hol das Werkzeug und wir treffen uns am … na ja, nicht mehr Schutthaufen«, sagte er und lachte, um seine Unsicherheit zu überspielen.

Allein mit einem jungen Mann in die Katakomben des Gefängnisses vorzudringen, machte mich nervös und ängstlich. Ich versuchte mich mit der Tatsache zu trösten, dass ich wahrscheinlich schon vor ihm wusste, wenn er vorhaben sollte, mich zu überfallen.

Allerdings hatte ich bei ihm solche Gefühlsausbrüche noch nie gesehen. Im Großen und Ganzen schien Nefrot zu den Männern zu gehören, die noch idealisierte Vorstellungen vom Leben hatten; die etwas durch Können erreichen wollten, nicht durch Gewalt.

Doch ich hatte schon einige Male gesehen, wie schnell sich Meinungen ändern konnten, wie schnell Prinzipien zerbröckelten.

In die Seelen der Leute sehen zu können, zeigte mir, wer sie wirklich waren, die hellen und die dunklen Seiten. Man konnte mich nicht belügen. Und auch wenn ich es benutzte, um mich selbst zu schützen, wünschte ich mir manchmal, einfach wie alle anderen zu sein und in Unwissenheit einen gewissen Frieden zu finden.

Wir liefen an der Balustrade entlang, die einmal um den See führte, den Nefrot mit erschrockenen Empfindungen betrachtete. Als eines der größeren Tiere sich aus dem Wasser hob und uns die spitzen, stachelartigen Schuppen auf seinem Rücken zeigte, zuckte er sogar zusammen.

»Sind die gefährlich?«, fragte er leise, weil er es nicht wagte, mehr Krach zu machen als nötig, um die Tiere unter uns nicht aufzuschrecken.

»Ja«, antwortete ich ihm schlicht und lächelte leicht. »Aber sie sind im Wasser. Und sie kommen da auch nicht raus.«

Nefrot nickte und ich zeigte ihm das Terminal am Ende der Runde, die in einer steil nach oben verlaufenden Wand endete. Etwa vierzig Fuß über uns mündete sie in einer Kuppel, die den See und den restlichen Zellentrakt überspannte. Es war beeindruckend und beängstigend zugleich. Und Nefrot empfand es genauso.

Er öffnete seine Tasche und zog verschiedene Werkzeuge heraus, um das Terminal zu öffnen. Ich setzte mich ans Geländer, steckte die Füße zwischen den Stäben hindurch und ließ sie über dem See baumeln, auf dessen schwarzer Oberfläche ich mich ölig spiegelte.

Nefrots Empfindungen waren ganz auf seine Arbeit konzentriert und ich schweifte mit den Gedanken ab. Erschöpft legte ich meine Stirn an die kühlen Stäbe und merkte erst jetzt, dass ich wieder Kopfschmerzen hatte. Ich trank einen Schluck Wasser aus einer Flasche, die ich in meiner Tasche hatte, und bot Nefrot auch welches an, selbst wenn ich schon vorher wusste, dass er es ablehnen würde.

 

Aber so ging das Spiel nun mal. Ich musste so handeln, wie ich es tun würde, wenn ich nicht wüsste, was in den Köpfen der Leute passierte. Das fiel mir schwer und nicht immer gelang es mir. Vor allem dann nicht, wenn ich in Gefahr war. Doch da ich allgemein von den meisten für ein bisschen verrückt gehalten wurde, machte ein weiteres seltsames Verhalten auch nichts mehr aus.

Triumphgefühle wehten zu mir herüber und Nefrot stieß ein »JA!« aus. Ich wandte mich ihm zu und sah, dass das Display sanft zu leuchten begann.

»Du hast es hingekriegt!«, rief ich freudig aus und kämpfte mich auf die Füße, darum bemüht, mir meine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Doch Nefrot war sowieso gerade viel zu stolz auf sich selbst, als dass er Augen für mich gehabt hätte.

»Mal schauen, wie weit wir kommen«, verkündete er mir und begann auf dem Display herumzudrücken. »So, wir haben hier eine Verbrecherkartei, Zellenbelegung, Rationen …« Sein Mut sank ein wenig. »Für alles andere brauchen wir wahrscheinlich ein Passwort oder dergleichen«, gab er niedergeschlagen zu und sah mich ein wenig enttäuscht an. Er hatte gehofft, allein die große Leistung zu vollbringen, mit der er sich rühmen konnte. Doch stattdessen scheiterte er an einem Passwort.

Es kostete mich große Überwindung, doch ich legte ihm zögerlich die Hand auf den Arm. »Du hast es zum Laufen gebracht. Das ist eine große Leistung«, sagte ich ihm genau das, was er hören wollte und er seufzte, gefangen zwischen gegensätzlichen Gefühlen von Stolz und Versagen.

»Ich glaube, wir brauchen einen Transponderschlüssel«, erklärte er mir bereitwillig und zeigte auf ein Symbol auf dem Display. Es kam mir augenblicklich bekannt vor. Genau so ein Ding baumelte in meinem Loch von der Decke. Ich hatte es mal aus dem Schutt gezogen und mich am glänzenden Metall erfreut, das mit seinen Verzierungen, die sich für mich später als Schriftzeichen herausgestellt hatten, in verschiedenen Farben glänzte, sobald das Licht darauf fiel.

»Ich … ich hab so was«, gab ich Nefrot meine Information preis und das Lächeln, das sich diesmal auf meine Lippen stahl, war ein echtes.

Da sprühten plötzlich Funken aus dem Terminal und für einen Moment ging auf der ganzen Station das Licht aus.

Na toll.

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