KHAOS

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4


40 ml

Lautes Dröhnen drang an meine Ohren. Es war so intensiv, dass mein ganzer Körper vibrierte.

Ich dämmerte dahin, nicht wach und nicht schlafend. Stimmengewirr beherrschte die Luft. Worte, die in meinen Kopf schlichen und wieder verpufften, ohne verstanden worden zu sein.

»Ist sie verletzt?«

»Sie ist krank!«, antwortete Boz. Seine grausame Stimme bohrte sich in meinen Schädel.

»Was?«

Dann erstarb das Dröhnen. Metall schabte über Metall und der Schutt unter mir rutschte ein Stück ab.

Ich wollte die Augen öffnen, doch jedes Mal, wenn ich es versuchte, stach mich helles Licht. Da war so wenig Luft. Alles brannte, alles tat weh.

Mein Körper bewegte sich ohne mein Zutun. Ich wurde hochgehoben, mein Kopf fiel in meinen Nacken und baumelte achtlos herunter.

»Was wollte sie da drüben?«

»Das werden wir gleich nachsehen. Erst mal muss sie auf die Kranken­station. Und dann wacht sie hoffentlich wieder auf, bevor Erikson verblutet ist. Unnützes Kind!«, schimpfte Boz und spuckte aus.

Mir stieg der metallische Geruch von Blut in die Nase, während sich die Stimmen langsam entfernten.

»Dummes Kind«, drang Cobals Stimme nahe an mein Ohr. Panzerschuppen stachen mir in die Wirbelsäule.

Eine Tür quietschte, etwas klackerte weit entfernt. Ich konnte kaum noch atmen.

»Daya«, hörte ich meinen Namen wie durch einen Nebel und wusste, dass er schon ein paarmal gesagt worden war. Ich bemühte mich, die Augen zu öffnen, meine Lider flackerten und doch brachte ich nicht die nötige Kraft auf. Mein Atem ging flach, kleine Atemzüge mit zu wenig Luft in meinen verkrampften Lungen.

»Wo sind deine Medikamente? Daya!«, ermahnte Cobal mich, und ich versuchte, meine Lippen zu überreden, sich zu bewegen. Wo waren meine Medikamente? Wusste ich es? Würde es mir rechtzeitig wieder einfallen?

In meinem Innern formte sich ein Bild. Eine Flasche mit gelber Flüssigkeit. Ich befahl meiner Stimme zu sprechen, brauchte drei, sogar vier Atemzüge, bis ich genug Luft für Töne zusammenhatte. »Regal … gelbe Flasche«, hauchte ich und schnappte erstickt nach Luft. »D34F … 40 ml.«

Mir wurde wieder schwummrig, mein Bewusstsein driftete ins Nichts ab und ich war mir auch nicht sicher, ob ich es überhaupt aufhalten wollte. Die Gleichgültigkeit nahm von meinem Geist Besitz, redete mir ein, wie sinnlos alles war und wie gut ich daran tun würde, es einfach hier und jetzt enden zu lassen.

Ich verlor den Mut, den Willen zu leben, und war bereit, mich endgültig zu lösen, als der Funke einer Seele in mir auftauchte. Nur dieser eine, weit unter mir, allein und gleichmütig. Ich wusste sofort, dass Er es war.

»Daya!«, drang lautes Brüllen an mein Ohr, das nichts Menschliches mehr an sich hatte, sondern nur noch zischenden Lauten glich. »Was mach ich damit?« Jemand schüttelte mich, riss mich vom Abgrund weg, über dem ich geschwebt und in den ich hinabgeblickt hatte.

Wieder zwei Atemzüge. »Haupt … Schlag … Ader«, glitten die Worte über meine Lippen und zerfielen in Partikel aus Bedeutungslosigkeit.

»Scheiße! Du … ach scheiße!«, fluchte Cobal. »Nimm da eine Spritze und tu in das Ding 40 ml rein!«

»Wie macht man das?«, beschwerte sich eine andere Stimme, aber bevor ich sie richtig zuordnen konnte, dämmerte ich weg. Weg von allem, weg von diesem Ort, der nicht mehr für mich hatte als Leid und Einsamkeit. Einfach weg.

Erst der Pikser in meinen Unterarm und das gurgelnde Brausen in meinem Körper holten mich zurück ins Bewusstsein. Erschrocken riss ich die Augen auf.

Die Muskelrelaxantien lösten meine Verspannungen wie Blitze in der Nacht, meine Lunge weitete sich so sehr, dass ich fürchtete, sie könnte meinen Brustkorb sprengen, und mein Herz setzte zu einem holprigen Galopp an, bevor es seinen Rhythmus wiederfand.

Cobal stand direkt neben mir, verhinderte, dass ich durch mein plötzliches Zusammenzucken von der Behandlungsliege fiel und beobachtete mich mit seinen gelben Echsenaugen.

Nefrot zog die Nadel aus meinem Arm und sah ein wenig erschrocken aus.

Nefrot war noch jung, das Leben hatte ihn noch nicht vollkommen abgehärtet. Ich mochte ihn eigentlich, auch wenn ich seine Sucht nach Anerkennung bei den Großen unseres Clans armselig und abstoßend fand.

»Daya?«, sprach Cobal mich wiederholt an, und ich blinzelte verstört. Ich wandte ihm den Kopf zu und spürte jeden Muskel, jede Sehne, die sich bei dieser Bewegung spannte, bis hinunter zu den Ellenbogen.

Verdammt, so schlecht hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

»Wir brauchen dich!«, beschwor der Echsoide mich und trat zur Seite, sodass ich zur anderen Liege sehen konnte, die keine zwei Meter von mir entfernt stand.

Zum Glück hatte ich bereits gestern damit begonnen, meine Kranken­station von Krungs Verwüstung zu befreien.

Es war Erikson, der dort lag, ein armlanges Rohr in der Seite steckend. Er rührte sich nicht und auch sein Brustkorb hob und senkte sich kaum noch.

Doch seine Seele war noch da, wenn auch nur noch schwach. Das Leben sickerte aus ihm heraus und mir würden höchstens Minuten bleiben, um etwas zu unternehmen, das ihn möglicherweise retten konnte.

»Hilf mir auf«, bat ich Cobal und er reagierte sofort. Er zog mich hoch, half mir, die Beine über den Rand der Liege zu schieben, und hob mich dann runter auf den Boden.

Ich versuchte Halt zu finden, doch meine Füße gehorchten mir kaum und meine Knie knickten immer wieder ein.

Nefrot eilte an meine andere Seite und schob mir seinen starken Arm um die Taille. Es war mir unangenehm, von ihm berührt zu werden, doch ich hatte im Moment keine Wahl, wenn ich vorhatte, Erikson zu retten.

Sie halfen mir hinüber und stützten mich, während ich mir eine Schere reichen ließ und begann, seine Kleider um die Wunde herum aufzuschneiden.

Das Rohr musste raus. Doch damit würde er nur noch mehr Blut verlieren und das bedeutete in diesem Stadium ganz sicher seinen Tod.

Verzweifelt kniff ich die Augenlider zusammen, ignorierte den Schmerz meiner Knochen, meiner Muskeln. Schmerz, der meine Gedanken zähflüssig machte, auch wenn die Medikamente in meinem Blut meinen Zustand von Sekunde zu Sekunde verbesserten.

Blut war das Problem und die Lösung.

»Er ist Avecianer«, sagte ich zu mir selbst, damit mein Kopf es auch begriff. Die riesigen wellenförmigen Ohren und die bei ihm besonders ausgeprägte Knochenerhebung in der Stirn waren Hinweis genug.

Er war allerdings der Einzige seiner Spezies, den wir hier auf dem Planeten hatten, also brauchte ich einen anderen, dessen Blut mit dem seinen kompatibel war.

Angestrengt dachte ich nach, doch meine Gedanken waren klebrig wie Gelee. Eriksons Blut hatte eine gräulich-grüne Färbung. Wessen Blut hatte die gleichen Bestandteile?

»Schakalianer«, kam es mir endlich in den Sinn und eine unangenehme Gänsehaut zog sich über meine Haut. »Ich brauche Krung!«, sagte ich lauter und Cobal sah mich mit großen Augen an. Keine Ahnung, was er im Moment dachte, aber ich wollte es besser nicht wissen. »Ich brauche ihn als Blutspender! Hol ihn her, bevor Erikson tot ist!«

Cobal ließ mich los, um eilig den Raum zu verlassen.

Schwach kippte ich gegen Nefrot, der seinen zweiten Arm um mich schlang, sodass ich an seine Brust gepresst wurde.

Nefrot räusperte sich verlegen und half mir dabei, mich wieder auf die Liege zu setzen, während er betreten überall hinsah, nur nicht zu mir.

Seine Seele war aufgewühlt, seine Lenden machten sich bemerkbar und ich konnte die hormongetränkten Emotionen in seiner Seele beobachten, die für einen Mann so normal zu sein schienen wie Essen und der Gang aufs Klo.

Und das, obwohl Erikson gerade im Sterben lag. Doch der Tod lauerte hier sowieso an jeder Ecke. Warum wunderte ich mich eigentlich noch über die Gleichgültigkeit der Leute.

»Wie alt bist du eigentlich, Daya?«, fragte er mich plötzlich und immer noch ohne mich anzusehen.

Erstaunt konnte ich in seinem Innern dabei zusehen, wie er fast schon ehrenhaft die körperliche Anziehung, die er zu mir empfand, niederzukämpfen versuchte und den Aufruhr seiner Seele mit Gewalt unterdrückte.

Ich ging trotzdem nicht auf seine Frage ein. Bisher hatte er mich immer lil’Pid genannt, wie die anderen auch, und es gefiel mir nicht, dass sich das geändert hatte.

»Hol die Flasche mit dem Desinfektionsmittel dort vorne vom Schrank. Die Kiste mit dem Verbandszeug und die Schublade mit dem chirurgischen Besteck.« Ich zeigte in die jeweilige Richtung und Nefrot beeilte sich, meiner Aufforderung nachzukommen.

Krung betrat den Raum mit einem so breiten Grinsen auf dem Gesicht, dass mir ganz schlecht wurde bei seinem Anblick.

»Du brauchst mein Blut?«, wollte er von mir wissen und verschlang mich mit seinen Augen. Er fühlte sich mächtig, weil er etwas hatte, das ich brauchte, und weil er dachte, er könnte einen Handel für sich rausschlagen.

Aber so würde es sicher nicht laufen!

»Erikson braucht es. Krempel deinen Ärmel hoch«, sagte ich ohne jegliche Emotion und schob Krung den Eimer hin, damit er sich setzte.

»Du weißt, was ich dafür haben will?«, deutete er an und Nefrot schienen beinahe die Augen aus den Höhlen zu fallen. Ich drehte beiden den Rücken zu und kramte eine Braunüle und ein Stück Gummischlauch aus der Kiste mit Verbandszeug, die ich noch nicht geschafft hatte, wieder in Ordnung zu bringen.

 

Mittlerweile stand ich wieder von allein auf meinen Füßen und musste lediglich mit übereilten Bewegungen aufpassen, damit der Schmerz nicht zu stark wurde oder ich ins Wanken geriet.

»Ewige Dankbarkeit von Erikson und einen warmen Schulterklopfer von Boz. Und jetzt setz dich!«, befahl ich leise, aber in scharfem Ton.

Krungs Lächeln erstarb. Er setzte sich und schlug sogar seinen Ärmel hoch, als Cobal ihm einen düsteren Blick zuwarf. Zum Glück war der Echsenmann geblieben.

»Ich krieg dich, du Schlampe. Und dann werde ich deinen jungfräulichen Körper zu dem meinen machen!«, knurrte mir der Schakalianer verbissen ins Ohr, als ich mich ihm näherte, den Gummischlauch um seinen Oberarm festzog und dann mit einem sterilen Tuch den Unterarm desinfizierte. Nicht besonders sanft stieß ich ihm die Nadel ins Fleisch und klebte dann grob ein Pflaster darüber.

Mein Körper begann leicht zu zittern unter der schrecklichen Vorstellung, die meine Fantasie produzierte, aber ich riss mich zusammen.

Wenn mich eine Situation lehrte, dass ich doch am längeren Hebel saß, dann doch wohl diese. Ich hielt mich oft für so klein und schwach. Aber mir fehlte nur ein wenig Selbstbewusstsein und ein Funke Erkenntnis. Denn da rammte einem einer ein Eisenrohr zwischen die Rippen und ich wurde zu einem Menschen, der über Leben und Tod entschied. Ohne mich wäre Erikson so gut wie tot. Und viele der anderen Männer auch.

Vielleicht hatte man mich bisher gar nicht unbehelligt gelassen, weil man mich für zu jung hielt, sondern weil ich die mit dem Skalpell war.

Ein ganz neuer Gedanke, doch eingängig und gut zu handhaben. Und einer, der mir neue Kraft gab.

»Wirst du nicht«, behauptete ich daher geradeheraus und zog einen der Schläuche, die aus dem Blutreinigungsgerät ragten, zu mir heran, um ihn an der Nadel festzumachen. Ich nahm die Kappe von der Braunüle und steckte den Schlauch an.

»Ach ja, da …« begann Krung etwas lauter, doch ich schnitt ihm sofort das Wort ab, indem ich das Gerät einschaltete und es Blut aus seinen Adern zu ziehen begann, was ihn nach Luft schnappen ließ.

»Ja. Denn früher oder später wirst du hier auf dieser Liege liegen. Und dann wirst du dir wünschen, dass du dich gut mit mir gestellt hättest«, flüsterte ich, während ich die Werte auf der Anzeige kontrollierte, bevor ich das Blut freigab, damit es in Eriksons Venen fließen konnte. Das Gerät spülte das Blut durch, passte es minimal an, damit es keine Komplikationen mit dem Rhesusfaktor gab, dann drückte ich einen weiteren Knopf.

Ich konnte nur hoffen, dass das tatsächlich so funktionierte, wie ich mir das vorstellte.

Krung hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengekniffen und hielt still. Wenigstens ein kleiner Erfolg.

Ich desinfizierte mir die Hände erneut, griff nach meinem Wagen mit dem Nähzeug und dem anderen Wundbehandlungsbesteck und machte mich bereit.

Alles war hergerichtet. Cobal mein Aufpasser, Nefrot mein Laufbursche. Und ich packte das Rohr mit beiden Händen.

5


Ideenreichtum

Gerade wusch ich mir die Hände und hängte meine OP-Schürze an einen Haken an der Wand, da wurde die Tür aufgeschoben. Zwei Männer kamen herein, die eine längliche Metallkiste zwischen sich trugen.

Ich erkannte sie sofort. Es war eine der Kryokapseln aus dem Lagerraum hinter dem verschütteten Gang. Der Schock fuhr mir in die Glieder und ich stockte beim Versuch, mich über den Lärm zu beschweren.

Die Entfernung des Rohres war mittelmäßig gut verlaufen, aber ich konnte zumindest vorweisen, dass Erikson noch am Leben war.

Krung hatte ich bereits weggeschickt und Cobal und Nefrot waren gerade gegangen, um Eriksons Zimmer für seine Genesung herzurichten.

Doch der Gedanke an das schöne Gesicht, den Mann im Eis, ließ mich alles andere vergessen. Wie konnten sie die Kapseln bloß entdeckt haben?

Boz trat mit stolzgeschwellter Brust ein und freute sich diebisch über seinen Fund.

Sie hatten bei dem Versuch, mich zu retten, wohl die Wände durchbrochen und sich so einen Zugang in die unteren Ebenen geschaffen. Ich allein war also schuld an ihrer Entdeckung. Was hatte ich mir auch dabei gedacht, durch eine Schlacht zu rennen und in einem Spalt in der Wand zu verschwinden?

Zwei andere von Boz’ Männern kamen mit einer weiteren Kapsel herein und meine Gabe bestätigte mir nur noch einmal, was ich bereits befürchtet hatte: Sie hatten sie alle gefunden und schafften sie jetzt hoch.

»Boz?«, sprach ich ihn etwas verwirrt an und trat langsam auf ihn zu. »Was tust du?«, erkundigte ich mich vorsichtig und wusste gleich, dass ich sicher besser daran tat, die Ahnungslose zu spielen. Wenn er wüsste, dass ich von diesen Kapseln gewusst hatte, ebenso wie von all den anderen Schätzen im unteren Teil des Gefängnisses, dann würde ich mir sicher nur Ärger einhandeln.

»Hast du eine Ahnung, was das ist?«, schmetterte er heraus und schmiss sich dramatisch in Pose.

Ich ging näher ran, wobei ich so tat, als sähe ich die Kapseln zum ersten Mal, und beugte mich über das verstaubte Glas. Flüchtig wischte ich es sauber und war beinahe enttäuscht, als ich dahinter nicht Ihn zu Gesicht bekam.

Es war zwar ebenfalls ein Mann, doch seine Züge waren im Vergleich eher grob, auch wenn die Ebenmäßigkeit mich zum wiederholten Male erstaunte.

»Tiefgefrorene Menschen?«, versuchte ich es mit dem Offensichtlichsten, was mir im Moment einfiel.

Boz lachte auf. »Ja! Tiefgefrorene Menschen. Aber nicht irgendwelche«, prahlte er und ich wurde hellhörig. Boz wusste also etwas über diese Leute, das ich noch nicht wusste, und ich war begierig, es zu erfahren.

»Das hier sind Beta-Humanoide! Genetisch gezüchtete Kampfmaschinen aus der Zeit vor den Abkommens-Kriegen. Übermenschen, wenn man es so will«, begann er zu erzählen und seine Stimme wurde dabei immer lauter.

Für ihn waren diese Kryokapseln der Jahrhundertfund und ich spürte arglistige Freude von ihm ausgehen, auch wenn ich nicht einmal wirklich hinsah.

»Sie waren so gefährlich, dass man sie kaum kontrollieren konnte. Irgendwann hat man sie alle umgebracht und die Genlabore geschlossen«, berichtete er weiter.

Ich versuchte mir das alles vorzustellen. Schaffte es aber nicht. Ich wusste weder etwas über die Abkommens-Kriege noch hatte mir jemals jemand von Genlaboren erzählt.

»Wenn man sie alle umgebracht hat, warum leben die hier dann noch?«, fragte ich ganz leise und sprach eigentlich eher mit mir selbst, als dass ich eine Antwort von Boz darauf erwartete.

Mir schwirrte jedenfalls der Kopf. Die Vorstellung, dass es gezüchtete Menschen waren, verstörte mich und machte mir im nächsten Moment klar, warum ihr Aussehen beinahe Perfektion erreicht hatte.

»Wer weiß. Aber das Schicksal tut uns damit einen großen Gefallen. Diese Soldaten sind unsere Chance und du wirst sie für mich auftauen!«

Ich blinzelte mich verwirrt aus meinen Gedanken. »Was? Ich kann sie nicht auftauen!«, rief ich erschrocken und wich von der Kryokapsel zurück, nur um mit dem Rücken gegen eine weitere zu stoßen, die man hereingetragen hatte.

Und durch die Tür kamen noch mehr.

»Ich hab die Geräte dafür gar nicht und …«, versuchte ich abzuwehren und konnte mir selbst nicht erklären, warum ich solche Angst davor hatte, den Mann mit dem perfekten Gesicht zurück ins Leben zu holen.

Doch Boz schnitt mir sofort das Wort ab. »Dann lass dir was einfallen! Ich will diese Soldaten für meine neue Armee und dann werden wir diese Pest von Wüsten-Clans ein für alle Mal erledigen und uns ihr Zeug unter den Nagel reißen!«, brüllte er seinen Kampfschrei hinaus und seine Männer, die noch mehr Kapseln brachten, johlten ihm zu. »Das war ein Schlag zu viel, Männer! Sie haben sich hier reingetraut und wir haben ihnen den Garaus gemacht. Doch wir lassen sie für diese Unverschämtheit büßen!«

Weiteres Gejohle.

Erikson stöhnte auf seiner Liege.

Ich löste meinen Blick von den Kryokapseln und versuchte, zu ihm zu gelangen, was bei all den Kisten nicht so einfach war. Ich prüfte seinen Puls, maß Fieber und beobachtete für ein paar Momente seine schimmernde Seele, die sich von dem kritischen Zustand noch nicht erholt hatte. Es lenkte mich von meinen Gedanken an die Kriegermenschen ab und brachte mir gleichzeitig neue Sorgen.

Ich musste Erikson hier rausschaffen, wenn Boz vorhatte, in meiner Krankenstation eine ganze Versammlung zu veranstalten.

Es gelang mir, Timothy und Jet auf mich aufmerksam zu machen und sie zu bitten, Erikson nach unten in sein Zimmer zu tragen. Dann folgte ich ihnen und entfloh so dem ganzen Tumult, der sich in meinem Reich immer mehr verdichtete.

Cobal und Nefrot waren beinahe so weit mit den Vorbereitungen, um die ich sie gebeten hatte, und Nefrot erklärte sich dazu bereit, bei Erikson zu bleiben. Ich dankte ihm, gab weitere Anweisungen zu den Schmerzmitteln, die ich ihm überließ, und sagte ihm, er solle mich holen, wenn sich Eriksons Zustand verschlechterte. Ich würde morgen wieder nach ihm sehen.

Denn es gab jetzt größere Probleme, denen ich mich stellen musste.

Boz stand immer noch in der Krankenstation, ein überlegenes Grinsen auf den Lippen, während weiterhin Kisten reingetragen wurden, die sie hinten an der Wand stapelten.

Boz war groß, größer als seine Kumpane und hatte ein Kreuz so breit wie ein ganzer Sternengleiter. So kam es mir zumindest vor. Sein Gesicht war markant, sein eckiges Kinn ragte weit nach vorne und mehrere Narben verunstalteten seine Haut und schnitten Schneisen in seinen Bart. Es war beinahe erstaunlich, dass ein Mensch eine solche Brutalität ausstrahlen konnte und so seine Männer unter Kontrolle brachte. Es war kein Respekt, wegen dem sie ihm folgten, sondern Furcht. Zwar hatte er sich mir gegenüber nie gemein oder angsteinflößend verhalten, aber ich wusste, was getuschelt wurde. Und nicht wenige Knochenbrüche, die ich behandelt hatte, waren durch die bloßen Hände unseres Clanchefs verursacht worden.

Ich persönlich war keine Bedrohung für Boz und hatte mich auch nie als eine gegeben, weshalb er mich für gewöhnlich in Ruhe ließ.

Doch heute bekam ich Angst vor ihm. Er verlangte, dass ich die Leute in den Kapseln aufweckte, und ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wie ich das anstellen sollte.

Aber Boz schien entschlossen. Seine Seele befand sich in Höhen, die ich bei ihm noch nie gesehen hatte und die mich ahnen ließen, dass er ein »Ich kann nicht« nicht akzeptieren würde.

Als er mich an der Seite stehen sah, winkte er mich zu sich und ich wäre gerne geflohen. Doch wenn sie die Wand geöffnet hatten, dann war auch diese Zuflucht für mich nicht mehr vorhanden.

Ich musste mich stark überwinden, zu ihm zu gehen, und ignorierte all die Männer, die raus- und reinliefen. Boz hatte den ganzen Clan mobilisiert und das, nachdem sie die ganze Nacht gekämpft hatten. Nicht nur ich war müde und hatte Schmerzen. So ziemlich jeder schien angeschlagen zu sein von dem nächtlichen Angriff des feindlichen Clans. Doch alle verrichteten ihre Arbeit, keiner machte auch nur einen Mucks des Unwillens, der in ihnen allen herrschte.

»Ich gebe dir drei Tage, dann will ich, dass du eine Möglichkeit gefunden hast, mir diese Soldaten aufzutauen«, raunte Boz, sein Blick aus grauen Augen lag schwer auf mir. Er sagte es nicht, aber ich wusste, er würde mir wehtun, wenn ich es nicht schaffen sollte. Er hegte einen Unmut gegen mich, auch wenn ich nicht verstehen konnte, wo der so plötzlich hergekommen war. Bisher hatte er in meiner Gegenwart immer nur Gleichgültigkeit empfunden.

»Den da will ich zuerst«, informierte er mich mit klaren Worten und zeigte auf die Kapsel, die ganz vorne lag. »Und noch irgendeinen anderen. Aber nur Männer. Die Frauen kannst du lassen, wo sie sind. Die machen einem nur Ärger.« Das Grinsen kehrte auf seine grausam verzogenen Lippen zurück. »Und gib mir Bescheid, wenn sie so weit sind, dann können wir sie mit Sumpfsaugern infizieren.«

 

Erschrocken riss ich die Augen auf. Ich hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie Boz es wohl anstellen wollte, diese genetisch hochgezüchteten Menschen für seine Zwecke zu nutzen, wo sie doch nach seinen Angaben nicht zu kontrollieren waren. Doch dass er vorhatte, ihnen einfach ihren freien Willen zu nehmen, schockierte mich.

Sumpfsauger waren eine der wenigen Tierarten, die es auf diesem Planeten gab. Sie lebten in den schwefeligen Sumpflöchern, die man in den unterirdischen Höhlen fand. Glibberig, von der Größe eines Fingers und mit stacheligen Tentakeln am vorderen Ende, fristeten sie blind und taub ihr Dasein und waren doch der Grund, wieso es für die Wüstenclans so schwer war, an Wasser zu gelangen. Denn mit diesen Monstern wollte man nicht in Kontakt kommen. Einmal an der Haut festgesaugt, war es beinahe unmöglich, sie wieder loszuwerden. Sie krochen einem über den Körper und setzten sich an die Hauptschlagadern, um einem ihre Tentakeln ins Fleisch zu graben und dadurch zu vergiften.

Und wenn man wirklich Pech hatte, dann fanden sie ihren Weg in den Nacken und schoben einem ihre grässlichen Nadeln in den Hirnstamm. Jeder, dem so etwas passierte, verlor als Erstes die Fähigkeit, frei zu denken und Dinge selbst zu entscheiden. Man wurde leicht zu beeinflussen, doch diese Möglichkeit der Kontrolle war nicht von langer Dauer.

Die Sumpfsauger ernährten sich von den Hirnsäften und pumpten dafür ihr Gift in den Organismus zurück. Sie verursachten Wahnsinn, Schmerzen und töteten ihren Wirt schlussendlich, wenn dieser das in seiner Verzweiflung nicht selbst schon vorher übernahm.

Ich hatte gesehen, was das mit einer Seele anstellte. Der Wahnsinn riss sie in Stücke, teilte sie so grausam, dass ich mich damals beim Zusehen hatte übergeben müssen. Es war die schlimmste Art zu sterben, die ich je hatte mit ansehen müssen. Eine Folter bis zum letzten Augenblick.

Ich schluckte hart, riss mich jedoch zusammen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Nickend senkte ich den Blick zu Boden, entfernte mich von Boz und ging zu der Kryokapsel, auf die er gezeigt hatte.

Darin befand sich ein Mann. Blondes kurzes Haar, einen grimmigen Zug auf den schmalen Lippen. Sein Kiefer war breit, seine Stirn kurz, mit ausdrucksstarken Augenbrauen. Sein Hals war dick und sehnig und ging in muskelbepackte Schultern über. Kein Wunder, dass Boz ihn haben wollte. Er sah aus wie ein skrupelloser Schlächter. Und doch zeigten seine gerade Nase und seine makellose Haut einen königlichen Stolz. Er würde sich niemals freiwillig jemandem wie Boz unterwerfen.

Ich zog mich in mein Loch in der Wand zurück, wickelte mich in eine Decke ein und wartete darauf, dass das Kommen und Gehen der Männer draußen endete.

Boz lachte laut, verkündete, dass dies ihren Schlüssel zum Sieg bedeutete und dass es ein Glück war, dass ich mich wie ein feiges Gaq’krl benahm, das sich in Löchern verkroch und ihnen so den direkten Weg ins Eldorado gezeigt hatte.

Ich hatte keine Ahnung, was Eldorado bedeuten sollte. Aber es schien etwas Wertvolles zu sein. Und ich ärgerte mich, dass ich an alldem schuld war.

Drei Tage hatte Boz mir gegeben und ich wusste nicht weiter. Zum einen, weil ich keine Geräte hatte, zum anderen, weil ich nicht gewillt war, diese Menschen einem so grausamen Schicksal zuzuführen. Es wäre besser für sie, in Gleichgültigkeit zu vegetieren, als an einer zerfetzten Seele zu sterben.

Obwohl ich todmüde war, konnte ich nicht einschlafen. Die glimmenden Funken so nah bei mir zu haben, machte mich nervös und meine Gedanken hörten nicht auf, sich zu drehen. Ich zählte die Seelen durch, überprüfte die Zahl zweimal und kam auf dreiundzwanzig. Dreiundzwanzig schlafende Seelen.

Ich seufzte. Eine kurze Kontrolle ins untere Stockwerk zeigte mir, dass man beschlossen hatte, etwas zu essen und sich beinahe alle unten im Speisesaal versammelten.

Es fehlten nur wenige. Erikson und Nefrot zum Beispiel. Und noch vier weitere, die draußen patrouillierten.

Auch wenn ich wusste, dass es wahrscheinlich dumm war, schnappte ich mir mein Waschtuch, ein Stück Seife und ein paar saubere Kleidungsstücke und schlich mich in die Waschräume.

Ich beeilte mich, obwohl das wüstenwarme Wasser wie Balsam für meine überspannten Muskeln war, und eilte mit nassen Locken zurück in meine Krankenstation. Kurz schreckte ich zusammen, als mir dreiundzwanzig glimmende Seelen entgegenblinzelten.

Nachdem ich mein Zeug ins Loch in der Wand gestopft hatte, lehnte ich mich daneben an und starrte auf die Kapseln. Mein Leben hing wahrscheinlich davon ab, diese Menschen in den Tod zu führen.

Ich musste nicht einmal wirklich danach suchen, sondern erkannte seine Seele sofort. Selbst wenn sie genauso gleichmütig war wie die der anderen.

Seine Kapsel stand weiter vorne, obenauf, und ich kletterte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, über die anderen hinweg, um zu ihm zu gelangen.

Die feinen Züge seines Gesichtes trafen mich wieder wie eine Schockwelle und ich legte mich vorsichtig auf den Deckel, das Kinn in die Hände gestützt. Wieder betrachtete ich ihn und genoss die eigenartigen Gefühle, die sich dabei in meinem Bauch bildeten.

Welche Augenfarbe er wohl hatte? Und wie es wohl wäre, in seine Seele zu schauen?

Sofort schloss ich die Augen und konzentrierte mich ganz auf ihn. Ich blendete alle Funken um mich herum aus, strengte mich an, die äußere glimmende Schicht zu durchdringen, um mich zur nächsten vorzutasten.

Die Ruhe, die mich empfing, war beinahe so vollkommen, dass es mir Mühe bereitete, überhaupt irgendeine Regung zu finden.

Langsam tastete ich mich weiter in die Tiefe, ließ mich selbst ein wenig mehr los und öffnete den Blick für das Innere eines anderen. Denn auch im Kryoschlaf blieb ein Mensch der Mensch, der er nun einmal war, auch wenn es keine nennenswerten Gehirnaktivitäten gab.

Das Innerste war das Wichtigste, der Kern einer Persönlichkeit, die Parameter, die das Handeln bestimmten.

Ich fand zwei Dinge im Innersten des Mannes mit dem schönen Gesicht: abgrundtiefen Hass und überwältigende Liebe.

Erschrocken zuckte ich nach hinten, schnellte in meinen eigenen Körper zurück und fiel keuchend vom Deckel der Kapsel. Schweiß stand mir auf der Stirn und mein Puls raste. Wenn ich nicht aufpasste, wäre der nächste Anfall nicht weit.

Doch vielmehr beschäftigte mich, was ich gesehen hatte. Hass und Liebe. Das war ungewöhnlich. In den meisten Menschen, bei denen ich mich bisher getraut hatte, in ihr Innerstes zu sehen, war das Streben nach Macht am häufigsten vorgekommen. Geltungssucht hatte ich gesehen, die Freude an Grausamkeit und auch Hass.

Doch nur in meiner Mutter hatte ich Liebe gesehen. Für mich.

Beides zusammen in dieser Kombination war mir noch nicht untergekommen. Vor allem nicht so stark vertreten, dass es mich wie ein Schlag getroffen hatte.

Wem galt all der Hass? Und diese Liebe? Die Neugierde packte mich und ich wusste, dass ich, so wie es gerade stand, leider nicht mehr herausfinden konnte. Außer ich schaffte es, die Gefühle weiter an die Oberfläche zu locken. Was nur möglich war, wenn ich ihn aufweckte.

Ächzend zog ich mich wieder auf die Füße.

Hatte ich überhaupt eine Wahl, außer zu tun, was Boz mir befohlen hatte? Na ja, außer zu sterben natürlich. Ich wollte nicht wirklich umgebracht werden, aber ich wollte genauso wenig daran schuld sein, dass jemand mit einem Sumpfsauger infiziert wurde.

Laut seufzend wuschelte ich mir durch die Haare und versuchte, beides miteinander zu vereinen.

Was, wenn ich sie aufweckte und ihnen dann erzählte, was Boz mit ihnen vorhatte? Vielleicht würden sie sich auch so auf seine Seite schlagen. Vielleicht aber auch nicht, und ich hätte nicht nur Verrat begangen, sondern würde auch noch eine riesige Katastrophe auslösen. Oder unser aller Tod riskieren.

Doch meiner lag ohnehin nicht mehr weit entfernt. Ob es nun meine Krankheit war, Boz oder die Fremden in den Kryokapseln. Und um die meisten anderen, die hier hausten, würde es mir auch nicht unbedingt leidtun. Redete ich mir zumindest ein.

Aber ich machte mir bloß Sorgen über Dinge, die ich nicht wusste. Schlussendlich konnte ich ja noch nicht einmal sagen, ob ich überhaupt eine Möglichkeit finden würde, sie aufzuwecken.