Auf Wiedersehen, Kinder!

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

3.
Lene und die Liebe

Wie an den meisten Abenden machte sich Ernst Papanek von Sandleiten aus auf den Weg Richtung Alsergrund. Von der Alser Straße bog er in die Lazarettgasse und ging an einer Reihe großbürgerlicher Privatkliniken vorbei bis zur Nummer 20. »Fango-Klinik« stand in schwarzen Lettern auf dem imposanten Eckhaus. Papanek grüßte den Portier, dann stieg er in den zweiten Stock in die Privatgemächer der Familie Goldstern hinauf, wo ein Dienstmädchen gerade den Tisch deckte. In betuchter Umgebung speiste Papanek mit seiner zukünftigen Frau Lene, deren Geschwistern und Eltern zu Abend. Ein ungewohntes Ambiente für den Arbeitersohn aus Rudolfsheim.

Ernst und Lene trennten Welten. Während er als Kind neben der Schule Semmeln ausgefahren hatte, um den Familienhaushalt aufzubessern, hatte Lene Klavier- und Französischunterricht bei Privatlehrern genossen. Was beide zusammenbrachte war – wie konnte es anders sein – die Sozialdemokratie.

***

Glückliche Familienidylle: Ernst Papanek präsentiert sich 1926 mit seiner Frau Lene und seinem Erstgeborenen Gustav Fritz – benannt nach Gustav Mahler und Fritz Adler.

Helene, genannt Lene, kam am 10. Juni 1901 als zweites Kind von Samuel und Manja (Marie) Goldstern auf die Welt. Die Goldsterns waren eine wohlhabende jüdische Familie, die ursprünglich aus Lemberg in Galizien, in der heutigen Westukraine, kam. Über Generationen hinweg zählten sie zu den reichsten und einflussreichsten Lemberger Familien und brachten eine hohe Anzahl an Bankiers und Rabbinern hervor. Die Goldsterns galten als »Kohanim«, als direkte Nachfahren des biblischen Aaron, und gehörten damit zur religiös privilegierten Priesterkaste.59 Später siedelten sich einige Goldsterns in Odessa an, wo 1865 Samuel als Sohn eines Getreidegroßhändlers geboren wurde. Wegen revolutionärer Umtriebe musste Samuel Goldstern mit zwanzig Jahren aus Russland fliehen und kam nach Wien.

Lenes Mutter Manja, eine geborene Bernstein, stammte aus einer reichen jüdischen Familie im ukrainischen Winnyzja und kam aus Russland zum Studieren nach Wien. Nach nur einem Semester wurde sie allerdings von ihrer Tante mit Dr. Samuel Goldstern verkuppelt, der nach seiner Ausweisung aus Russland in Wien sein Medizinstudium beendet hatte.60 Nach der Hochzeit kaufte das Ehepaar gemeinsam die Fango-Heilanstalt, ein Sanatorium, das sich auf die heilende Wirkung von vulkanischem Fango-Schlamm aus Italien spezialisiert hatte. Neben der Klinik, in der jährlich über vierzig Tonnen Heilschlamm verwendet wurden, gehörten Samuel und Manja auch noch zwei Miethäuser, die zum Familieneinkommen beitrugen.61

Ihre Kindheit verbrachten Lene und ihre drei Geschwister Lucie, Alexander und Claire umgeben von Gouvernanten, Dienstmädchen und Privatlehrern. Die Wohnung der Goldsterns hatte keine Küche, alle Mahlzeiten wurden aus der Klinikküche geliefert. Weil es in der Lazarettgasse auch keine Geschäfte gab, war Lene ganze zehn Jahre alt, als sie das erste Mal ein rohes Ei sah.62

Obwohl Samuel Goldstern aus einer religiösen Familie stammte, spielte das Judentum in Lenes assimiliertem Elternhaus keine Rolle. Ganz im Gegenteil: Jedes Jahr um die Weihnachtszeit ließen die Goldsterns einen großen Christbaum in der Fango-Klinik aufstellen und die Kinder verteilten Geschenke an die vielen Mitarbeiter.

Ab ihrem zehnten Lebensjahr besuchte die blondgelockte Lene ein Realgymnasium in der Josefstadt, eine der wenigen Schulen Wiens, die damals Mädchen auf die Matura vorbereitete. Die aufgeweckte Lene, die zuhause oft im Schatten ihrer älteren Schwester Lucie stand, genoss die Schulzeit sehr. In den stürmischen Zeiten gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Klassenbeste von ihren Mitschülerinnen als Vertreterin für ein neues Schülerparlament gewählt – und hier kreuzten sich die Wege der reichen Bürgerstochter und des Arbeitersohnes.

Ernst Papanek, der Vertreter seines Gymnasiums, hatte eine Führungsrolle in der sozialistischen Mittelschülerbewegung und es dauerte nicht lange, bis er und Lene sich anfreundeten. Rasch formte sich eine Clique sozialistischer Jugendlicher, zu der auch Alexandra Adler, die Tochter Alfred Adlers, gehörte. Man traf sich in Dirndlkleid und Lederhosen zum Wandern, zum Volkstanz und vor allem zum Diskutieren politischer Theorien. Lene las Marx und Engels, ging in die Arbeiterbezirke Wiens, um Mitgliedsbeiträge für die SDAP einzusammeln, und demonstrierte für die Freilassung Fritz Adlers. »Ich werde nie die Begeisterung vergessen, die mich dazu gebracht hat, in einer Menschenmenge zu marschieren«, erinnerte sie sich später.

Außer Lene war Mutter Manja Goldstern die Einzige in der Familie, die sich für Politik interessierte. Während sich Vater Samuel Goldstern ganz auf die Klinik konzentrierte, hatte Manja kein Problem damit, wenn ihre junge Tochter an Demonstrationen teilnahm. Manja ließ ihren Kindern viele Freiheiten und betonte weltoffene Werte wie Aufrichtigkeit, Toleranz und Respekt, obwohl sie zugleich sehr strenge Moralvorstellungen hatte. Sie war es auch, die alle ihre Töchter darin unterstützte, zu studieren – keine Selbstverständlichkeit für die Zeit.

Samuel Goldstern verlangte, dass zumindest eines seiner Kinder Medizin studierte, um später die Klinik zu übernehmen. Der Familienpatriarch setzte alle seine Hoffnungen auf den einzigen Sohn Alexander, doch der stellte schon als junger Bub klar, dass er daran kein Interesse hatte. Also begann Lene 1919 Medizin zu studieren und gewann dadurch in den Augen ihres Vaters an Achtung. »Er war sehr von meinem Bruder Alex enttäuscht und nannte mich jetzt seinen Sohn«, erklärte sie Jahrzehnte später.

Während ihres Studiums engagierte sich Lene Goldstern gemeinsam mit Ernst Papanek bei der Greisenhilfe und den Spielkameraden, unter anderem inszenierte sie Theaterstücke mit den Straßenkindern: »Ich war sehr begeistert davon, an all diesen sozialen Aktivitäten beteiligt zu sein und Menschen zu helfen, und eine Sozialistin zu sein.«

Für die ersten ein, zwei Jahre ihrer Freundschaft blieben Ernst und Lene nur das: Freunde. Ernst Papanek hatte wie erwähnt eine ganze Reihe an Verehrerinnen und eigentlich war er mit Lenes bester Freundin Bertl zusammen. Eines Tages gestand er Lene jedoch, dass er Bertl gar nicht wirklich mochte und nur nicht wusste, wie er die Beziehung beenden sollte. Sie überzeugte ihn, dass Ehrlichkeit die beste Methode sei, er sprach mit Bertl, und kurz darauf waren Lene und Ernst ein Paar. So sehr man als Unverheiratete im bürgerlichen Wien eben ein Paar sein konnte. In späteren Jahren sprach Lene Papanek immer von einer »Affäre«.

Fast jeden Abend aß Ernst bei den Goldsterns, danach nahm Lene ihn mit auf ihr Zimmer. Er hatte ihr ein Buch von Paolo Mantegazza, einem frühen Pionier der Sexualwissenschaft, geschenkt und es war oft bereits spät in der Nacht, wenn er die Fango-Klinik verließ. »Ich wusste nicht, was sich meine viktorianische Mutter dabei dachte«, erinnerte sich Lene Papanek später. »Ich wollte sie nicht verletzen, also erzählte ich ihr nichts, und sie fragte nicht.«

Nach seiner Hochzeit lebt das junge Ehepaar erst in der Fango-Klinik, die von Lenes Vater Samuel Goldstern geleitet wird, dann zieht es an den Flötzersteig.


Oft trifft sich hier nun die Familie in unterschiedlichen Konstellationen, vor allem um die Buben Gustav und Georg zu besuchen.


Die Großmütter Manja Goldstern und Rosa Papanek haben den kleinen Gustl in ihrer Mitte, rechts auf der Bank sitzt Lene Papanek.


Ernst Papaneks Geschwister mit ihren Ehepartnern, Lene und Rosa halten die Buben auf dem Schoß.

Lene und Ernst hatten gleichzeitig mit dem Medizinstudium begonnen, Lene aber nahm es wesentlich ernster. Ernsts schlechte Noten und der fehlende Studieneifer störten sie nicht, ein Problem gab es jedoch: »Ich bewunderte ihn sehr, mit einer Ausnahme. Ich konnte Kahlheit nicht aushalten und Ernst bekam eine Glatze. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich immer gesagt hatte, es ist mir egal, wie ein Mann aussieht, wenn er nur sich selbst treu bleibt.«

***

Es ist nicht ganz einfach, sich auf die Spur von Lene Papanek zu begeben. In Erinnerungen von Weggefährten überstrahlt der charismatischere Ernst sie meistens, nach Lene muss man richtiggehend suchen. Einen besseren Einblick erhält man nur in autobiografischen Fragmenten, die sie gegen Ende ihres Lebens zusammen mit mehreren Ghostwritern geschrieben hat. Und im Gespräch mit Gus, dem ältesten Sohn der Papaneks.

Im Oktober 2019 besuche ich Gus Papanek in Brookhaven, einer luxuriösen Seniorenwohnanlage in Lexington. Die Stadt im Bundesstaat Massachusetts liegt eine halbe Stunde von Boston entfernt und ist in Amerika berühmt, weil hier 1775 der erste Schuss im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg fiel.

Gustav (Gus) Papanek war lange Zeit Wirtschaftsprofessor an der renommierten Harvard University und reist noch heute – mit über 90 Jahren – durch die Welt, um Regierungen zu wirtschaftspolitischen Themen zu beraten. Das Wochenende meines Besuches ist etwas stressig, weil Gus gemeinsam mit seinem Sohn Tom dabei ist, das Haus zu verkaufen, in dem er jahrzehntelang mit seiner verstorbenen Frau gelebt hat. Trotzdem nimmt er sich einige Stunden Zeit, um mir aus dem Leben seiner Familie zu erzählen. Der ältere Herr freut sich, dass ich ein Buch über seinen Vater schreibe. »Wir alle haben Ernst sehr bewundert und möchten, dass alles getan wird, damit an ihn erinnert wird«, erklärt er mir lächelnd, während wir Lunch bestellen.

 

Bei dreierlei Burgern und Cobb Salad erzählt mir Gus lebhaft von seiner Kindheit im sozialdemokratischen Wien, beim Cheesecake mit Vanilleeis sind wir in Frankreich angelangt, wo der Dreizehnjährige gemeinsam mit den anderen Flüchtlingskindern im Heim lebte. Nach Kaffee und Tee ziehen wir uns in seine gemütliche neue Wohnung zurück und Gus berichtet mir von der abenteuerlichen Flucht der Familie nach Amerika. Beim Sprechen stützt der 93-Jährige oft seinen Kopf auf eine Hand. Sonst verraten nur ein Spazierstock und ein Computerbildschirm mit Extra-Zoom in Größe eines Fernsehers das Alter des Nationalökonomen. Gegenüber seinem Schreibtisch stehen dutzende Familienfotos, die ganze Wohnung schmücken eindrucksvolle Kunstgegenstände aus Pakistan, wo Gus, seine Frau Hanna und ihre Kinder viele Jahre lebten. Neben dem Regal hängt eine Zeichnung von Schiele, ein Original. »Den Schiele hat meine Mutter Lene damals für nur 900 Dollar in New York gekauft«, erklärt mir Gus. »Heute ist er natürlich ein Vielfaches wert.«

Als Tom seinen Vater für die Hausübergabe abholt, schenke ich Gus zum Abschied ein Mitbringsel aus seiner alten Heimat: Mozartkugeln. »Wie kann ich jetzt aufhören, wo du mir Mozartkugeln mitgebracht hast?«, fragt mich der Süßigkeitenliebhaber lachend und erzählt mir dann noch eine halbe Stunde von der Beziehung seiner Eltern.

»Mein Großvater Samuel war gar nicht begeistert von der Idee, dass seine Tochter diesen armen und radikalen Buben heiraten wird, der aus einer ganz unwichtigen Familie kommt«, beginnt er. »Außerdem galt Lene als die hässliche Schwester in der Familie und wie konnte Ernst, der bei so vielen jungen Frauen beliebt war, sie heiraten wollen? Ihr Vater war überzeugt davon, dass Ernst sie nur wegen ihres Geldes heiraten wollte. Er hat meiner Mutter gesagt, Ernst wird nie in seinem Leben etwas verdienen, er kümmert sich die ganze Zeit nur um die Partei und politische Fragen.«

Nach einer Pause fährt Gus fort: »Aber ich glaube, meine Eltern haben sich sehr geliebt. Ich denke, Ernst wusste zu schätzen, dass Lene eine kluge, toughe, kämpferische Frau war. Meine Mutter war immer eigensinnig und hat sich von ihrem Vater nicht beeinflussen lassen.«

***

Lene und Ernst waren bereits seit über fünf Jahren ein Paar. In den Augen aller Goldstern-Frauen gehörte Ernst längst zur Familie, doch noch immer wehrte sich Lenes Vater gegen die Hochzeit. Er holte sich sogar Hilfe beim Anatomie-Professor Julius Tandler, bei dem Lene und Ernst Vorlesungen belegt hatten. Wenig überraschend hatte dieser nichts Gutes über den schlechten Studenten zu sagen, doch Lene blieb dabei: Sie würde Ernst heiraten.

Samuel Goldstern ließ sich schließlich auf einen Kompromiss ein. Er verlangte, dass Lene ihr Studium abschloss, bevor sie heiratete, damit auf dem Diplom ihr Mädchenname stehen würde. Lene promovierte am 23. Juni 1925 – zwei Tage später heiratete die 24-Jährige den ein Jahr älteren Ernst.

Nach der Hochzeit lebten die Papaneks erst einmal in der Fango-Heilanstalt. Lene arbeitete als Ärztin für ihren Vater. Mit der Zeit schaffte sie es bis zur Oberärztin, doch die Arbeit in der Kurklinik langweilte sie oft. Es war eine Mischung aus Verantwortungsgefühl ihrem Vater gegenüber und dem guten Gehalt, das er ihr zahlte, die sie dort hielt.

Am 12. Juli 1926 kam der erste Sohn der Papaneks auf die Welt: Gustav Fritz, benannt nach Gustav Mahler und Fritz Adler. Ein Foto kurz nach Gustls Geburt zeigt die strahlenden Eltern, die beim Anblick ihres Sohnes um Jahre jünger wirken. Fünf Jahre später, am 2. April 1931, folgte dann Georg Otto, genannt Schorschi. Diesmal war Otto Bauer der Namenspatron.

Nach der Geburt ihres Erstgeborenen zog die kleine Familie in ein Reihenhaus in der Antaeusgasse 46, das Ernst Papanek durch Beziehungen zur Partei mieten konnte. Das Haus war Teil einer sozialdemokratischen Siedlung am Flötzersteig in Penzing und lag eine gute Stunde von der Fango-Klinik entfernt am westlichen Rand Wiens. (Heute sind die Häuser durch viele moderne Anbauten erweitert, aber die wehrhaften Torbögen und moosbewachsenen Mauern erinnern noch immer an die sozialdemokratische Siedlung der 1920er Jahre.)

Vor dem Haus wuchsen Erdbeeren, Blumen und ein Kirschbaum, im Garten auf der Rückseite gab es eine Sandkiste für Gustl und Schorschi. Ihre Söhne erzogen die Papaneks atheistisch – ganz nach dem Motto »Religion ist Opium für das Volk« – und sozialdemokratisch. So ließen sie sich zum Beispiel nicht mit Mama und Papa, sondern mit ihren Vornamen ansprechen. »Die armen Papanek-Kinder haben keine Eltern – sie haben nur Ernst und Lene«, klagte sogar Otto Glöckel, immerhin der »Papst« der sozialdemokratischen Erziehung.63

Nach der Geburt Gustls blieb Lene ein Jahr zuhause, dann arbeitete sie wieder. Bei Schorschi nahm sie sich sogar nur einen Monat Babypause. Zeit ihres Lebens hatte die Ärztin sehr fortschrittliche Ansichten über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. »Eine Frau kann sehr wohl eine Ehefrau und Mutter sein und einen Beruf haben«, erklärte sie Ende der 1970er Jahre. »Frauen heute sollten wirklich den Mut haben und es ausprobieren.« Ein Kindermädchen, Mitzi, kümmerte sich um die Buben, während die Eltern arbeiteten.

Auch in ihrer Ehe hatte Lene sehr klare Ansichten und ihr war durchaus bewusst, worauf sie sich mit der Heirat eines Vollblut-Sozialdemokraten eingelassen hatte. »Als Ernst und ich heirateten, kannten wir uns schon so lange. Wir mussten nicht experimentieren und erst Dinge über uns herausfinden«, schrieb sie in ihren unveröffentlichten Memoiren. »Ich war nicht enttäuscht, dass Ernst so viel Zeit für die Politik verwendet hat. Ich habe immer gesagt, Politik ist sein Leben und ich bin seine Geliebte.«

Es war Lene Papanek, die das Geld für die Familie verdiente (in diesem Aspekt hatte ihr Vater Recht behalten), aber deswegen machte sie Ernst keine Vorwürfe. Lene glaubte fest daran, dass Liebe kein Grund sei, Gegenliebe zu verlangen, und dass jeder das Recht habe, persönliche Entscheidungen zu treffen.

Auf die Probe gestellt wurden Lenes Ansichten im Sommer 1927. Es war eine Zeit der politischen Unruhen in der jungen österreichischen Republik und Lene war schwanger. Gustl war ein Jahr alt und sie hatte gerade wieder angefangen zu arbeiten, Ernst studierte noch am Pädagogischen Institut und brachte kaum Geld nach Hause. Lene wollte nicht so rasch nach Gustl ein zweites Kind und ihre Eltern drängten sie zu einer Abtreibung. (Wegen auffälliger Herzgeräusche war der Eingriff legal möglich, heißt es in der Familie.)

Ein paar Tage nach dem Eingriff kam es am 15. Juli 1927 zum Justizpalastbrand. Tausende von wütenden Arbeitern protestierten gegen das als ungerecht empfundene Urteil im sogenannten »Schattendorfer Prozess«, dabei brach Feuer im Justizpalast aus. Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz und weitere sozialdemokratische Führer versuchten, die aufgebrachten Demonstranten zu beruhigen, doch diese weigerten sich, Löschwägen durchzulassen. Die Polizei fing an, in die Menge zu schießen. Am Ende des Tages gab es 89 Tote.

Auch Ernst Papanek fuhr zum Justizpalast, um beruhigend auf die Arbeiter einzuwirken. Die ganze Nacht über meldete er sich nicht, niemand wusste, wo er war und ob er noch lebte. Lene saß schlaflos neben dem Telefon, mehr besorgt als wütend.

Um 10 Uhr morgens rief Ernst endlich an. »Ich war froh, dass ihm nichts passiert war«, erinnerte sich Lene Papanek noch Jahrzehnte später. »Und ich war stolz, dass er so einen Einfluss auf die Arbeiter hatte und Seitz helfen konnte. Aber ich war auch verletzt und hatte das Gefühl, dass er mich und unsere Liebe vergessen hatte. Er hätte sich Sorgen um mich machen sollen, so kurz nach der Abtreibung.«

Mit etwas Abstand stellte sie resigniert fest: »Das ist der Nachteil, wenn man mit einem Mann verheiratet ist, der sein Leben der Rettung der Menschheit gewidmet hat.«

4.
Auf dem Weg in den Untergrund


Bilder einer politischen Karriere im Roten Wien:

Ernst Papanek spricht 1933 bei einer illegalen Maifeier im Wienerwald vor einer Gruppe Kinder …


… und bei einem Aufmarsch der Sozialistischen Arbeiterjugend.


1931 steht er links von Otto Bauer bei dessen Rede zur Internationalen Arbeiterolympiade in Wien.


Der Genosse Papanek zeigt sich in seinen Reden kämpferisch, 1932 lädt er zur »Abrechnung mit dem Nazi-Großmaul«.

Es gibt ein Foto von meiner Großmutter aus ihrer Zeit bei den Roten Falken, einer Jugendorganisation der Sozialdemokraten. Das Foto ist schwarz-weiß und trotzdem strahlen mir die rote Krawatte und das knallrote Falkenabzeichen geradezu entgegen. Mein Vater war mit 16 Jahren Praktikant bei der Arbeiter-Zeitung und mein Uropa mütterlicherseits war als lebenslanger Kinderfreunde-Gruppenleiter im Herzen so rot gefärbt, dass er einmal aus antikapitalistischer Überzeugung ein Erbe ablehnte. Trotzdem wusste ich vor dem Schreiben dieses Buches sehr wenig über die Geschichte der Arbeiterbewegung. Also mache ich mich im Winter 2020 auf den Weg zum Karl-Marx-Hof, Wiens bekanntestem Gemeindebau.

Seit 2010 gibt es hier den Waschsalon, ein Museum über das Rote Wien und seine Errungenschaften. Durch ein schmales Stiegenhaus geht es zu einer Tür mit der Inschrift »Männerbad 2. Kl.«. Vom Bad selbst ist heute nichts mehr übrig; das modern renovierte Museum präsentiert sich mit ansprechend gestalteten Tafeln und Vitrinen voller Objekte.

»Die vier Figuren beim Haupteingang vom Karl-Marx-Hof stehen für die sozialdemokratischen Tugenden: Aufklärung, Befreiung, Fürsorge und Körperkultur«, erklärt ein älterer Herr mit graumeliertem Haar, der ehrenamtlich Führungen durch den Waschsalon anbietet. Gut zwanzig Menschen stehen im Kreis um ihn, darunter auch einige Italiener und Amerikaner. Im Schnellschritt geht es durch die Meilensteine der Sozialdemokratie in Wien, angefangen mit der 1848er-Revolution.

»Das Rote Wien hat sich dann 1919 durch die ersten freien Wahlen institutionalisiert«, fährt der Herr fort und beginnt beeindruckende Zahlen herunterzurattern: In den 15 Jahren seines Bestehens wurden im sozialdemokratischen Wien über 60.000 Gemeindewohnungen, 89 Kindergärten, 25 Bäder und das Praterstadion gebaut. Voller Tatendrang setzte die Stadtregierung Steuererleichterungen für die unteren Schichten durch, reformierte die Bildung und halbierte die Säuglingssterblichkeit.64 Gegenüber der Vorkriegszeit stieg die Lebenserwartung um ganze 19,5 Jahre. 1934 wohnten 250.000 Menschen, also jeder achte Wiener, in einer neugebauten Sozialwohnung, deren Grundriss im Waschsalon am Boden aufgezeichnet ist. Finanziert wurde das Ganze durch eine von Finanzstadtrat Hugo Breitner erdachte Reichensteuer auf »alles, was nach Luxus riecht«: Champagner, Pferde, Autos und Hauspersonal.

Nach der einstündigen Führung kaufe ich mir einen roten Topflappen mit den drei weißen Pfeilen der Sozialistischen Jugend. Gehäkelt von der »Fleißigen Biene«, einer SPÖ-Frauengruppe, hängt er jetzt an meiner Wand und begleitet mich beim Schreiben über Ernst Papanek.

***

Durch die atheistisch-sozialistische Erziehung der Papaneks entstand ein spannender Feiertagskalender: Geschenke gab es an Weihnachten und Geburtstagen, aber der Höhepunkt des Jahres lag im Frühling. Am 1. Mai.

Der »Tag der Arbeit« wurde in Wien erstmals 1890 gefeiert, damals noch verboten von der kaiserlichen Regierung. Seit 1922 gab (und gibt) es die zentrale Maifeier vor dem Rathaus, nachmittags trafen sich die Arbeiter meistens im Prater. »Vom frühen Morgen an brummte unser ganzes Haus vor Aufregung«, beschrieb Gustl Papanek den Feiertag in einem Schulaufsatz.65 Während sein Vater in Arbeiterbezirken Reden hielt, schaute der kleine Gustl ständig zur Tür und auf die Uhr, so aufgeregt wie manches Kind heute auf das Christkind wartet: »Endlich war es Zeit und stolz betrat ich eine Straßenbahn und schwenkte die ganze Zeit eine kleine rote Fahne.« Beim Rathaus angelangt, beobachtete Gustl an der Hand seiner Mutter die vorbeimarschierenden Arbeiter, »überzeugt, dass das ganze Spektakel nur für mich allein veranstaltet wurde«. Ein ganz besonderes Erlebnis für den damals Sechsjährigen war der 1. Mai 1933: »Ernst nahm mich mit zu den Reden und stellte mich dem Bürgermeister Seitz vor«, erzählte mir Gus Papanek. »Und der Bürgermeister sagte zu mir: ›Ah, du bist ja der kleine Papanek.‹ Das machte einen großen Eindruck auf mich.«

 

Die Maifeiern waren das Aushängeschild des Arbeiterstolzes. Aber nicht nur Feiertage polarisierten Ende der 1920er Jahre. »Es war damals eine hochpolitische Zeit«, erklärte mir Heinz Weiss von den Kinderfreunden bei unserem Gespräch. »Man muss sich das so vorstellen, dass damals durch Österreich ein tiefer Graben lief. Die einen waren die Roten und die anderen waren die Schwarzen, die Christlichsozialen. Und es war undenkbar, dass ein Roter zu einem Verein geht, der kein roter war. Das war unvorstellbar! Die Sozialdemokraten haben auch alles abgedeckt: vom Briefmarkensammlerverein über die Naturfreunde, Sportvereine, Kinderfreunde bis hin zum Arbeiterfischereiverein.«

Eine besondere Rolle kam dabei als Kaderschmiede dem Verband der sozialistischen Arbeiterjugend Deutschösterreich zu, in dem sich Ernst Papanek seit Jahren engagierte. Aufgabe der SAJ war es, die heranwachsenden Generationen »im Geist des Sozialismus zu erziehen, […] damit die Proletarierjugend in den Stand gesetzt wird, werktätigen Anteil am Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu nehmen«, heißt es in der Vereinssatzung.66 Das Angebot reichte von geselligen Zusammenkünften bei Volkstanz, Gesang, Ferienlagern und Sport bis zu Diskussionsabenden und sozialistischen Vorträgen. Auch auf die internationale Vernetzung der Arbeiterjugend legte man großen Wert und im Juli 1929 bot sich hierfür die perfekte Möglichkeit: Das zweite Internationale Sozialistische Jugendtreffen fand in Wien statt. Zehntausende Jugendliche reisten in die Donaumetropole, unter anderem aus Italien und sogar aus Palästina. Im Nachlass von Ernst Papanek belegen zahlreiche Fotos die imposanten Massen an fahnenschwenkenden Jugendlichen vor dem Rathaus. Höhepunkt war der Fackelzug: Von der Hohen Warte aus marschierte ein kilometerlanges Lichtermeer auf beiden Seiten des Donaukanals gen Innenstadt. Das Jugendtreffen wurde zum vollen Erfolg, der Historiker Wolfgang Neugebauer nennt es gar eine »der mächtigsten sozialistischen Kundgebungen der Zwischenkriegszeit«.67

In den folgenden Monaten war die Stimmung euphorisch, die Verbrüderung aller Völker schien zum Greifen nah. Dann kam Schlag auf Schlag das böse Erwachen: Am »Schwarzen Donnerstag«, dem 24. Oktober 1929, fiel der Kurs an der New Yorker Börse ins Bodenlose. Der Crash löste die folgenreichste Weltwirtschaftskrise der Geschichte aus, die nächsten Jahre waren geprägt von Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend und politischen Krisen.

Bis 1932 verdoppelten sich die Arbeitslosenzahlen in Wien, besonders hart traf es Jugendliche und Lehrlinge. Als Reaktion rief die Arbeiterkammer in Kooperation mit zahlreichen Jugendverbänden Jugend in Not ins Leben. Das Programm stellte »erwerbslosen Burschen und Mädchen« in den Wintermonaten geheizte Räume zur Verfügung, in denen sie Essen, medizinische Versorgung und Fortbildungsmöglichkeiten erhielten.68 Ernst Papanek beteiligte sich im Jugendbeirat an der Leitung von Jugend in Not, beklagte aber, dass das Programm nicht die psychischen Probleme behandle, die Langzeitarbeitslosigkeit mit sich bringt. So entstand Jugend am Werk, ein großangelegtes, freiwilliges Arbeitsbeschäftigungsprogramm, bei dem Jugendliche für Kost, Logis und ein Taschengeld Spielplätze, Möbel für soziale Einrichtungen oder Wanderwege bauten. Ernst Papanek war überzeugt, dass durch Jugend am Werk ein Anstieg der Jugendkriminalität verhindert wurde. »Sie waren nicht länger eine Last für ihre Familien, sie hatten Arbeit und konnten ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen«, betonte er in einem Aufsatz über Sozialarbeit in Wien.69 Der Großteil der Jugend am Werk-Teilnehmer lebte in selbstverwalteten Jugendheimen; ungefähr zwei Drittel der Heime waren sozialistisch oder von der Gewerkschaft geführt, ein Drittel stand unter katholischer Leitung. Damit galt das Programm als positives Beispiel der parteiübergreifenden Fürsorgearbeit. Trotzdem waren die Jugendheime natürlich ideale Plätze für politische (An)-Werbung. »Es waren Orte, um zu arbeiten, Sport zu machen und indoktriniert zu werden«, brachte es Gus Papanek auf den Punkt.

Für Ernst Papanek war die Arbeit bei Jugend am Werk nur eines von vielen Tätigkeitsfeldern, er arbeitete auch weiterhin für die Kinderfreunde und die Roten Falken. 1930 übernahm er dann die Leitung des Reichsbildungsausschusses der Sozialistischen Jugend, ein einflussreiches Amt innerhalb der Partei: Sein Vorgänger war Otto Felix Kanitz, sein Nachfolger der junge Bruno Kreisky. Mit dreißig Jahren war Ernst Papanek nun voll und ganz Berufspolitiker.

Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte es, die zahlreichen SAJ-Gruppen in ihrer Bildungsarbeit zu unterstützen und zu vereinheitlichen. Dafür erarbeitete er Anleitungen für Gruppenabende, erstellte Wanderbibliotheken, vermittelte Vortragende und Filmvorführungen und schulte Jugendführer.70 Außerdem warb Papanek aktiv um neue Mitglieder. Dafür setzte er auch bei den Eltern an, unter anderem verfasste er Artikel für die sozialdemokratische Frauenzeitschrift Die Unzufriedene, in denen er Arbeitereltern aufrief, ihre Kinder in Parteiorganisationen zu schicken. »In dieser furchtbaren Trostlosigkeit leuchtet den jungen Menschen nur ein Hoffnungsschimmer: Die Erlösung durch den Sozialismus«, schrieb Papanek.71

Den gesamtpolitischen Entwicklungen folgend verlagerte die SAJ ihre Rolle zunehmend von reiner Bildungsarbeit hin zu politischen Aktionen. Die Lage in Österreich war schon vor der Weltwirtschaftskrise äußerst angespannt gewesen und hatte sich seitdem nur noch verschlimmert. Immer öfter kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen paramilitärischen Organisationen. Auf der einen Seite war die Heimwehr, die nach Ende des Ersten Weltkriegs von Offizieren der geschlagenen k. u. k. Armee gegründet worden war. Sie stand den Christlichsozialen nahe, hatte aber auch Verbindungen zum deutschnationalen Lager und wurde großteils vom faschistischen Mussolini-Italien finanziert. Auf der anderen Seite gab es den Republikanischen Schutzbund, den die Sozialdemokraten zum Schutz gegen die Heimwehr gegründet hatten. Sowohl Heimwehr als auch Schutzbund zählten Zehntausende uniformierte und bewaffnete Mitglieder. Zu ihren Aufgaben gehörte anfangs vor allem der Schutz von (Partei-)Veranstaltungen. Dann entwickelte die Heimwehr aber eigene politische Ambitionen. Am 18. Mai 1930 forderte sie im sogenannten »Korneuburger Eid« eine Neuordnung Österreichs, die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie und die Bildung eines Ständestaates. Bei den Nationalratswahlen 1930 trat die Heimwehr mit einer eigenen Liste, dem »Heimatblock«, an, einige der Heimwehr-Landesorganisationen kandidierten gemeinsam mit den Christlichsozialen.

Die Wahlen 1930 sollten in Österreich die letzten Nationalratswahlen in der Ersten Republik sein. Mit 41,1 Prozent wurden die Sozialdemokraten stärkste Kraft, blieben aber in der Opposition, weil die Christlichsozialen eine Koalitionsregierung mit bürgerlichen Kleinparteien anführten. Die NSDAP kam erstmals in Österreich auf drei Prozent, errang aber kein Mandat. Innerhalb der Sozialistischen Jugend reagierte man auf die verschärfte innenpolitische Lage mit der Förderung der Wehrsportler, einer Art jugendlichem Schutzbund, und der Schaffung der Sozialistischen Jungfront, die der innerparteilichen Opposition Raum bot.72 Schon länger hatte es unter der Jugend Unmut über den gemäßigten Kurs der Parteiführung gegeben. Das lag vor allem auch daran, dass die Parteispitze mit Karl Renner, Otto Bauer, Karl Seitz, Otto Glöckel und Fritz Adler seit fast dreißig Jahren unverändert bestand und es nur wenige Möglichkeiten für SAJ-Funktionäre gab, in Führungspositionen aufzurücken. Die Jungfront sollte ihnen nun ein Betätigungsfeld innerhalb der Partei geben, um eine Radikalisierung und Abspaltung zu verhindern.

Ernst Papanek war ein wichtiges Mitglied innerhalb der Jungfront. 1931 wurde er dann zum Wiener Obmann der SAJ gewählt, leitete aber auch weiterhin den Reichsbildungsausschuss. Im selben Jahr schuf er die Junge Garde, eine Jugendorganisation, die den 14- bis 16-Jährigen den Übertritt von den geselligen, pfadfinderartigen Roten Falken hin zur politischen Arbeit der SAJ erleichtern sollte. Durch diese behutsame Hinführung zur Politik verlor die SAJ weniger Neumitglieder als zuvor. Die von Papanek erarbeiteten Methoden »legten Zeugnis ab vom hohen pädagogischen Niveau der damaligen sozialdemokratischen Jugendarbeit«, urteilt der Historiker Wolfgang Neugebauer in seinem Buch Bauvolk des Sozialismus. An anderer Stelle schreibt er: »Ernst Papanek war eine der herausragendsten Persönlichkeiten der sozialdemokratischen Jugend- und Erziehungsbewegung der Ersten Republik.«73