Auf Wiedersehen, Kinder!

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2.
Eben mal die Welt retten


Schon mit 18 Jahren bekommt Ernst Papanek eine prägnante Halbglatze, die ihn wesentlich älter erscheinen lässt. Das Foto links wurde um 1920 aufgenommen, da ist der Student gerade einmal zwanzig Jahre alt. Von Vorteil ist die Glatze, um Papanek in Gruppenfotos zu finden, sei es im Kreis seiner Kollegen (vorletzte Reihe 3. v. r.) …


… oder in der Landarbeiterjugendschule in Wien (3. Reihe 5. v. r.).

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg bedeutete den Untergang für das Herrscherhaus der Habsburger und ihr Reich an der Donau. Die Monarchie und der Adel wurden abgeschafft, der habsburgische Vielvölkerstaat zerbrach in nicht weniger als sieben Nachfolgestaaten. Vor dem Krieg hatte Wien etwas mehr als zwei Millionen Einwohner gezählt, eine angemessene Größe für die Hauptstadt eines Reiches, in dem 1910 über 51 Millionen Menschen lebten. Nach 1918 gab es immer noch etwa zwei Millionen Wiener, aber Österreich selbst war auf magere 6,5 Millionen Einwohner geschrumpft.22 Nicht ohne Grund nannte man Wien den »Wasserkopf« des Landes.23

Österreich war nun eine demokratische Republik mit universellem Wahlrecht. Landesweit regierten in der Zwischenkriegszeit meist die konservativen Christlichsozialen, die Sozialdemokraten machten sich in der Hauptstadt an die Arbeit. »Die bis dahin gewalttätig unterdrückte junge politische Bewegung flammte auf und hat das hervorgebracht, was wir ›Rotes Wien‹ nennen«, schrieb Ernst Papanek später. »Das Rote Wien war nicht nur eine politische Struktur, die von der siegreichen Sozialdemokratischen Partei geschaffen wurde; es gab den Ton für das gesamte Leben der Gemeinschaft und ihrer Individuen an, die begeistert seiner inspirierenden Musik folgten.«24

Auch Papanek selbst folgte der »inspirierenden Musik« und fing – ohne jegliche Ausbildung – an, sich als Sozialarbeiter und Erzieher zu engagieren. Auslöser war das Bild, das sich dem 18-Jährigen bot, wenn er im nachkriegsgebeutelten Wien spazieren ging: Zehntausende obdachlose, verwahrloste Kriegswaisen versuchten in den Straßen zu überleben. Kurzerhand organisierte Papanek rund 400 Gymnasiasten und Studenten, um den Kindern zu helfen. Er nannte die Gruppe Spielkameraden und man kann sie wohl am besten als eine frühe Mischung aus Parkbetreuung und street work beschreiben: Sie spielten mit den Kindern und verhalfen ihnen mittels Suppenküchen und Heimen zu Nahrung und Unterkunft. Sobald sie das Vertrauen der Kinder gewonnen hatten, versuchten sie deren Energie in freiwillige Arbeitseinsätze zu lenken, die wiederum anderen halfen. Fast zwei Jahre lang leitete Papanek – anfangs als Schüler, später als Student – die Spielkameraden und trat dabei erstmals mit Persönlichkeiten und Organisationen in Kontakt, mit denen er im Lauf seines Lebens immer wieder arbeiten würde. Dazu zählten die Quäker und die bekannte Wiener Sozialreformerin und Philanthropin Dr. Eugenie Schwarzwald.25

Am 8. Juli 1919 schloss Papanek das Realgymnasium in der Diefenbachgasse mit der Matura ab, im Herbst darauf schrieb er sich an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien ein.26 Der junge Mann besuchte Vorlesungen in Medizin, Pädiatrie und Psychiatrie und lernte bei prominenten Ärzten wie Julius Tandler, bei dem er eine sechsstündige Sezierübung belegte, oder Clemens von Pirquet, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Zwölf Semester lang studierte Papanek Medizin – zumindest theoretisch. In der Praxis war er viel zu sehr damit beschäftigt, »die Welt zu retten«, wie es mehrere Mitglieder seiner Familie übereinstimmend berichteten. Regelmäßig rasselte er durch Prüfungen und glänzte im Hörsaal durch Abwesenheit. Die Spielkameraden, die Politik und sein vielfältiges Engagement für sozialdemokratische Organisationen, all das war Papanek wichtiger, als die lateinischen Namen menschlicher Knochen auswendig zu lernen.

***

»Er studierte nicht wirklich Medizin, er hatte gar keine Zeit«, brachte es Papaneks spätere Ehefrau Lene in ihren unveröffentlichten Memoiren auf den Punkt. »Er tat, was er sein ganzes Leben lang tat: Er musste die Welt retten. Das meine ich ernst. Er hatte einen übertriebenen Sinn für soziale Gerechtigkeit.«27

Auch wenn das vielleicht etwas überspitzt klingt, Lene meinte die Zuschreibung von Ernst Papanek als Weltretter nicht abschätzig, sondern als größtmögliches Lob. An anderer Stelle schrieb sie: »Er hat nach seinen Werten gelebt: Niemand war so konsequent, so ehrlich, so wahr wie er.«

Konsequent, unverstellt und so optimistisch, dass es oft an Idealismus grenzte – quer durch die Jahrzehnte wird Papanek von einer Vielzahl von Weggefährten mit ähnlichen Worten beschrieben. »Ernst war die Art von Mensch, der jeden Morgen aufwachte und sich überlegte, wie er heute der Menschheit dienen konnte. Und er fand meistens etwas, weil die Welt immer so dringend in Not war«, erinnerte sich zum Beispiel Claude Brown, ein Schüler Papaneks.

Samuel Friedman, ein amerikanischer Sozialist, beschrieb seinen Parteigenossen so: »Er war ein Mann ohne Hass, ohne List, ohne Schuld. Und das meine ich, wenn ich ihn als naiv und unschuldig bezeichne. In unserer modernen Welt […] handeln wir auf eine Art und Weise, von der wir glauben, dass sie andere Menschen beeindrucken wird. Ernst Papanek war nicht so. Er sprach die Wahrheit, wie er sie sah.«28

Nicht nur charakterlich, auch äußerlich veränderte sich Ernst Papanek im Lauf der Jahrzehnte kaum. Schon mit 18 Jahren bekam er eine Halbglatze, die sein Aussehen sein Leben lang prägte. Das ging so weit, dass Ria Kanitz, die Frau des Pädagogen Otto Felix Kanitz, einen Brief an Papanek einmal an die »vielgeliebte Glatze« adressierte.29 Die runden Brillengläser wurden etwas größer, die Hose spannte etwas mehr, aber wer einmal ein Bild von Papanek gesehen hat, hat kein Problem, ihn auch auf einem zwanzig Jahre später gemachten Gruppenfoto zu erkennen.

Objektiv betrachtet war Ernst Papanek nicht attraktiv. »Er hatte eine Glatze, er war farblos, er war sehr klein«, formulierte es Eve Stwertka, eine entfernte Verwandte, als ich sie im Herbst 2019 interviewte. Dafür zog Papaneks charismatische Art jeden in seinen Bann. So war es auch bei Stwertka: »Er strahlte etwas aus, das dich anzog«, erzählte sie mir.

Papanek war ein begnadeter Redner und sein idealistischer Optimismus war ansteckend. In jungen Jahren war der Wiener besonders bei den weiblichen Genossinnen in den Jugendgruppen sehr beliebt. Als er einmal ein Ferienlager leitete, bekam er zu seinem Geburtstag acht Holzpuppen geschenkt, die seine acht Freundinnen – oder besser gesagt, seine acht Verehrerinnen – repräsentierten.30

***

Das Ferienlager mit den vielen Verehrerinnen fand 1919 statt und war eine von Dr. Eugenie Schwarzwald organisierte Ferienkolonie. »Fraudoktor«, wie sie allgemein genannt wurde, leitete eine fortschrittliche Mädchenschule in Wien, an der unter anderem Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg unterrichteten, und engagierte sich intensiv als Philanthropin.31 Sie betrieb eine (von Adolf Loos entworfene) Suppenküche, unterstützte Papaneks Spielkameraden und organisierte 1918 erstmals eine Ferienkolonie, um die Wiener Kriegsjugend aufzupäppeln.32 Im Sommer 1919 wuchs ihre Aktion »Wiener Kinder aufs Land« um eine Reihe weiterer Kolonien, für die »Fraudoktor« mit Jugendorganisationen zusammenarbeitete. Viele Mitglieder der sozialistischen Mittelschülerbewegung nahmen an den Kolonien teil und wurden innerhalb kürzester Zeit selbst als Lehrpersonal rekrutiert. So kam es, dass der erst 19-jährige Ernst Papanek im August 1919 eine Führungsrolle in einer Kolonie für hunderte Arbeiterkinder übernahm.33 Und diese fand an einem denkbar prächtigen Ort statt: in der leerstehenden Kaiservilla in Bad Ischl.

Am 26. Juli 1919 vermeldete die Neue Freie Presse, dass Dr. Schwarzwald »durch die Vermittlung des Arbeiterrates Bad Ischl und der Bezirkshauptmannschaft Gmunden von der ehemaligen Erzherzogin Marie Valerie der Kavalierstrakt der Kaiservilla in Ischl zur Verfügung gestellt« wurde.34 Die großräumige Villa musste aber erst einmal instand gesetzt werden. Federführend war hierbei Papanek, der sich als großes Organisationstalent entpuppte. Eine schöne Beschreibung darüber findet sich bei Friedrich Scheu, einem langjährigen Mitarbeiter der Arbeiter-Zeitung: »Ernst Papanek, ein kluger, bebrillter, junger Mann, nahm seine Aufgaben ernst. Er gehörte zu jenen Personen, denen immer jene Arbeiten aufgehalst werden, die viel angestrengte Aufmerksamkeit erfordern und für die man gewöhnlich wenig Ruhm erntet. Unter seiner Leitung ging die Umwandlung der vornehmen Kaiservilla in ein Heim für Arbeiterkinder reibungslos, in aller Stille, vor sich.«35

Im Jahr darauf leitete Papanek eine weitere Schwarzwald-Kolonie in Kaltenbach, einem Ortsteil von Ischl. Die Teilnehmer waren diesmal ältere und hauptsächlich sozialistische Mittelschüler oder Studenten. Papanek war nicht der einzige junge Mann, der hier den Sommer über Theaterstücke inszenierte und sich später einen Namen machte: Auch (Sir) Karl Popper, der spätere Philosoph und Begründer des Kritischen Rationalismus, war mit von der Partie.

Die Kolonie war wie jedes Bildungsprojekt Schwarzwalds koedukativ angelegt und das sommerliche Zusammenleben der jungen Männer und Frauen sorgte regelmäßig für Gerede. Ernst Papanek fiel wieder einmal die unleidige Aufgabe zu, für Ordnung zu sorgen. Das zeigt sich auch in einem humoristischen Lied der Ferienkolonie:

 

Was kommt denn dort aus Wien?

Das sind die Schwarzwald-Kolonien.

Wer stellt sie zur Schau?

Das ist Sektionschef Schwarzwalds Frau. […]

Wer kehrt uns fort den Dreck?

Das ist der Ernstl Papanek. 36

In den folgenden Jahren leitete Papanek immer wieder Ferienkolonien. Von 1919 bis 1920 arbeitete er dann – noch immer ohne formales pädagogisches Training – als Lehrer und für kurze Zeit sogar als Direktor von Schwarzwalds Landeserziehungsheim Harthof am Semmering.37 Zu Weihnachten 1921 rief »Fraudoktor« ein weiteres Hilfsprojekt ins Leben, für das sich der Student Papanek sehr engagierte: die Greisenhilfe der Wiener Jugend. Der Hintergedanke der Greisenhilfe war ähnlich wie bei den Spielkameraden, nur dass es diesmal um verarmte alte Menschen ging. In einem Aufruf der Greisenhilfe appellierten die beteiligten Jugendorganisationen: »Wir können nicht in so eine entsetzliche Welt hineinleben, die Greise verhungern lässt. Diese Welt wird so aussehen, wie wir sie gestalten werden. Wir sind jung und glauben noch daran, dass sie besser werden kann.«38

In zahlreichen Aktionen sammelten die Jugendlichen Geld und Sachspenden. Papanek, der das »Recherchenbureau« der Greisenhilfe leitete, organisierte Milchpulver, Mehl und Zucker aus skandinavischen Ländern und kümmerte sich um die Verteilung in ganz Wien. Bis Juni 1922 konnten Geldmittel und Waren im Wert von 50 Millionen Kronen aufgebracht werden.39

Mit seinem humanitären Engagement für Kinder und Alte und seiner Erziehungsarbeit lebte Papanek die sozialdemokratischen Ideale des Roten Wiens. Zwischen 1919 und 1934 verbesserten die roten Reformen das Leben für die Bürger und vor allem die Arbeiter in der Hauptstadt auf beachtliche Art und Weise. Grundlage dafür war die neue österreichische Bundesverfassung, die am 10. November 1920 in Kraft trat und Wien von Niederösterreich löste. Mit neuen Kompetenzen ausgestattet konnte sich das jüngste Bundesland so zahlreichen Problemen widmen. Durch Aktionen wie das kostenlose Säuglingswäschepaket und die Einrichtung von Mutterberatungsstellen gelang es dem »Volksarzt« Julius Tandler zum Beispiel, in nur zwölf Jahren die Säuglingssterblichkeit zu halbieren.40 Ein besonderer Fokus des Roten Wiens lag auf der Bildung und dem Erreichen der Jugend: »Wähler zu gewinnen ist nützlich und notwendig«, hatte Parteigründer Victor Adler einst erklärt, »Sozialdemokraten erziehen ist nützlicher und notwendiger.«41 Auf sein Leben zurückblickend erklärte Papanek Jahrzehnte später: »Wir wurden alle in Richtung Bildung gedrängt. Politik wurde von der österreichischen sozialistischen Partei als Bildungsproblem verstanden«.42

So wurde der vielbeschäftigte Student Papanek Mitglied im Verband der Sozialistischen Studenten und der Akademischen Legion, einer Studentenvereinigung innerhalb des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes. Bereits 1919 trat Papanek der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreich (SDAP) bei und übernahm Funktionärsämter, sowohl in der Sozialistischen Jugend als auch in der SDAP-Ortsgruppe Rudolfsheim. Er leitete Heimabende und Ferienlager für die Kinderfreunde und später auch für die Roten Falken.43

Für die Sozialistische Bildungszentrale hielt Papanek zahlreiche Vorträge in Wien und im Umland. Er war »Volksbildner«, wie man im Jargon der Zeit sagte, und ein äußerst beliebter dazu. Papanek »wurde einer der populärsten Vortragenden in allen Bezirksveranstaltungen Wiens«, erinnerte sich der Schauspieler und Arzt Richard Berczeller.44

Die jungen Sozialisten sahen sich als das »Bauvolk der kommenden Welt« (später besungen im Lied Die Arbeiter von Wien von Fritz Brügel), ihr Ziel war der »neue Mensch«. Otto Bauer, der unangefochtene Führer der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, nannte sie die »Generation der Vollendung«, die Generation, in der der Sozialismus Realität werden würde.45 Wenn Ernst Papanek nun in mitreißenden Reden vor Fabrikarbeitern über die Befreiung aus dem Elend sprach, über den Mut und den Auftrag, eine neue, gerechte Welt zu bauen, dann drückte er damit die Hoffnung aus, dass die Zukunft gerade beginne und dass sie alle ein Teil davon seien.

In seiner politischen Arbeit kam der junge Papanek mit vielen bedeutenden Vertretern der Sozialdemokratie und des Austromarxismus zusammen. Der aus dem Gefängnis entlassene Fritz Adler war für ihn »der hochgeschätzte, heroische und doch freundschaftliche Führer«46, wichtiger für die Arbeit in der Jugendbewegung waren jedoch Otto Bauer sowie Otto Felix Kanitz, der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend und Begründer der Schönbrunner Schule.

***

Am ersten Tag des Jahres 2020 spaziere ich bei strahlendem Sonnenschein durch den Schönbrunner Schlosspark. Die Enten laufen auf dem zugefrorenen Springbrunnen Schlittschuh, aber für Januar ist das Wetter erstaunlich mild. Von der Rückseite kommend, gehe ich auf das Schloss zu. Ich bin auf der Suche nach dem Kindergarten der Kinderfreunde. Vor ein paar Wochen hat mir Heinz Weiss, langjähriger Geschäftsführer und passionierter Haushistoriker der Wiener Kinderfreunde, erzählt, dass es dort eine kleine Ausstellung über die Schönbrunner Erzieherschule gibt. »Da verirrt sich natürlich fast niemand hin«, klagte Weiss; ich aber will sie mir anschauen.

Als mit dem Ende der Monarchie das Kaiserschloss Eigentum der Republik wurde, sprach man den sozialdemokratischen Kinderfreunden 84 Räume des gigantischen Baus zu. »Die Erzieher in den Kinderheimen waren in der Monarchie ehemalige Soldaten«, erklärte mir Weiss bei unserem Treffen. »Man kann sich vorstellen, was da für ein Ton geherrscht hat.« Nach 1918 sollten nun die Kinderfreunde die Heime übernehmen. Die jedoch hatten zu wenige Erzieher. »Die wachsen ja nicht am Baum«, ergänzte Weiss lachend. So kam man auf die Idee, in Schönbrunn eine Erzieherschule einzurichten, die in den folgenden Jahren die österreichische Reformpädagogik entscheidend prägen sollte. Direktor wurde der 25-jährige Otto Felix Kanitz, zu den Lehrern gehörten Alfred Adler und Josef Luitpold Stern. Kanitz hatte zuvor in einem aufgelassenen Flüchtlingslager in Gmünd die erste selbstverwaltete »Kinderrepublik« Österreichs geleitet und vertrat die Philosophie, dass Erzieher den Kindern auf Augenhöhe begegnen sollten.

Die damaligen Räume lagen zentral über den Prunkräumen, um den heutigen Kindergarten samt Ausstellung zu finden, muss ich mich aber ganz schön anstrengen. Am Café Residenz vorbei bis in den zweiten Hof, dann liegt links der Hofküchentrakt, schließlich durch eine unscheinbare Tür und tatsächlich: Neben dem bunt geschmückten Eingangsbereich des Kindergartens hängen Infotafeln mit Fotos über die Schönbrunner Schule. Insgesamt 140 Lehrer wurden hier ausgebildet, sie alle lernten, das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. 1923 gründeten Absolventen dann die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und schufen ein beliebtes »Propagandainstrument«: das rote Kasperltheater. Mit über hundert Kasperlbühnen tourten die Kinderfreunde durch die Republik. Die Bösewichte waren damals allerdings nicht das Krokodil oder der Polizist, sondern der Nikotinteufel, die Bierhexe, der Alkoholgeist und am allerschlimmsten: der Kapitalist.

***

Auch Ernst Papanek war Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher und leitete für die Kinderfreunde ein Tagesheim und Ferienaktionen in der Freudenau. Dabei studierte er ja eigentlich immer noch Medizin. Dass daraus auch nach zwölf Semestern nichts werden würde, war schon die längste Zeit absehbar und so wechselte Papanek im Herbst 1925 an die Philosophische Fakultät.47 Zeitgleich inskribierte er sich am Pädagogischen Institut der Stadt Wien. Seit sieben Jahren arbeitete Papanek schon als Erzieher, nun ließ er sich endlich auch ganz offiziell zum Lehrer ausbilden.

Der »hochschulmäßige Lehrerbildungskurs« entsprach einem Studium und fand in enger Zusammenarbeit mit der Universität statt, wo Papanek Vorlesungen in Psychologie, Philosophie, Geschichte und Soziologie belegte. Das Pädagogische Institut war 1923 von Otto Glöckel zur Umsetzung seiner Wiener Reformen gegründet worden, fast alle Professoren dort stammten aus dem Umfeld der Sozialdemokratie.

Otto Glöckel, möglicherweise der bedeutendste Schulreformer in der Geschichte Österreichs, begann seine Reformen zunächst landesweit, als er 1919 bis 1920 Unterstaatssekretär für Unterricht war. Nach dem Bruch der Koalition mit den Christlichsozialen musste sich Glöckel fortan auf das Rote Wien konzentrieren, wo er von 1922 bis 1934 als Stadtschulratspräsident das Schulsystem weitreichend modernisierte. Seine »Wiener Schulreform« propagierte die sogenannte »Arbeitsschule« (weg von der davor praktizierten »Paukschule«), die viel individuellen Spielraum für Schüler ließ. Bedeutende Elemente waren Koedukation (das gemeinsame Unterrichten von Jungen und Mädchen), lebhafter und kindgerechter Unterricht, häufige Exkursionen, viel Sport- und Werkunterricht, die Wahl von Klassen- und Schulsprechern und ganz allgemein eine Demokratisierung des Schullebens. Eine Einheitsschule sowie Gratis-Lehrmittel und die Abschaffung von Schulgeld sollten für die Chancengleichheit aller Kinder sorgen.48

Die Wiener Schulreform begleitete Papanek sein ganzes Leben lang und inspirierte viele seiner pädagogischen Unternehmungen. Jahrzehnte später widmete er in Amerika seine Doktorarbeit dem Thema. In der Einleitung betonte er: »Bildung ist nicht nur der Erwerb von Wissen und Fähigkeiten, sondern die Entwicklung bestimmter Einstellungen, Eigenschaften und Lebensgewohnheiten.«49

Neben Otto Glöckel wurde Papanek sehr stark von dem Psychologen Alfred Adler beeinflusst, einem seiner Professoren am Pädagogischen Institut. Zeit seines Lebens blieb Papanek ein »Adlerianer« und war eng mit Adlers Tochter Alexandra befreundet.50

Der Sozialdemokrat Alfred Adler hatte nach dem Bruch mit Sigmund Freud für seine tiefenpsychologische Lehre den Begriff »Individualpsychologie« geprägt. Er vertrat die Meinung, dass Menschen weniger durch ihre Triebe als durch ihr soziales Umfeld und ihre Erziehung geprägt seien. Sie bräuchten günstige Bedingungen, um sich weiterzuentwickeln, so Adler, und diese Bedingungen fänden sie im Gruppenleben.51

Als junger Student besuchte Papanek ab und zu auch Privatvorlesungen von Sigmund Freud in dessen Wohnung in der Berggasse, die er »ungeheuer eindrucksvoll« fand, wie er 1959 in einem Interviewprojekt zu Freud erzählte. Trotzdem hatte Papanek (nicht nur wegen seiner Nähe zu Adler) inhaltlich große Probleme mit Freud und empfand dessen Desinteresse an Politik und an Massenbewegungen als »große Enttäuschung«.52

Im Gegensatz zu seinem Medizinstudium nahm Ernst Papanek die Lehrerausbildung ernst. Nach zwei Jahren schloss er sie am 1. Juli 1927 mit »sehr gutem Erfolg« ab. Seine Abschlussarbeit behandelte das Thema »Die individualistische und kollektivistische Erziehung und Schule«. In der zweigeteilten Abschlussprüfung musste er Fragen zu »Freiheitsprinzip und Willensbildung« beantworten und in der Knaben-Volksschule in der Grünentorgasse 9 eine Lehraufgabe zum schönen Thema »Ein Sonntagsausflug in die Wachau« bewältigen.53

Schon während seines Studiums hatte Papanek für die Gemeinde Wien in Kindergärten und Horten sowie als Berater des Amts für Wohlfahrtswesen gearbeitet, nun beteiligte er sich noch aktiver an der Glöckelschen Reformbewegung. In Wien spielte »Papanek für die Verwirklichung des Glöckel-Planes eine entscheidende Rolle«, erinnerte sich Richard Berczeller. »Ich sehe ihn noch vor mir, als er mit seiner großen Aktentasche, gefüllt mit Manuskripten, von Versammlung zu Versammlung eilte, um die neue Botschaft zu verkünden.«54 Und in einem Nachruf, der 1973 in der Arbeiter-Zeitung erschien, heißt es, Papanek »wurde als Leiter von Schulen und Seminaren ein Mittelpunkt von Reformbestrebungen im gesamten Erziehungswesen« Österreichs.55

Innerhalb der Wiener Schulreform war Papanek für die Umstrukturierung der Fortbildungsschulen zuständig, also der Schulen für Lehrlinge.56 Als Junglehrer unterrichtete er auch selbst in diesen Schulen und leitete außerdem eine experimentelle Tagesheimstätte für schwer erziehbare, vorbestrafte und vernachlässigte Arbeiterkinder: die Gruppe Sandleiten.

 

In Sandleiten im Arbeiterbezirk Ottakring entstand Mitte der 1920er Jahre mit über 1.500 Wohnungen der größte Gemeindebau Wiens. Wie in allen Gemeindebauten gab es in Sandleiten Kindergärten und Tagesheime, wobei die Gruppe 14 für »Problemfälle« aus ganz Wien reserviert war. Für den Mittzwanziger Papanek war die Arbeit in Sandleiten äußerst prägend. 1945 widmete er ihr einen seiner ersten wissenschaftlichen Aufsätze in Amerika und schrieb darin, dass er die dreißig Jungen »vom ersten Tag an ins Herz geschlossen hatte«.57

Man kann es kaum glauben: Ernst Papanek hat seine handschriftlichen Notizen zu Sandleiten und einen Stapel Schüleraufsätze durch mehrere Jahre Flucht, Exil und den Zweiten Weltkrieg mit sich getragen. In den Notizen beschreibt Papanek tagebuchartig seine Erfahrungen. »Den meisten Buben war bekannt, dass die 14. Gruppe eine Spezialgruppe ist, in die sie nach der einen Version wegen ihrer Schlimmheit, nach der anderen wegen ihrer Dummheit kommen sollten«, heißt es im ersten Eintrag am 1. Dezember 1924. »Da ich mich auf eine Debatte nicht einlassen wollte, versuchte und versuche ich die Buben durch besondere Liebenswürdigkeit und ihren Wünschen entgegenkommend an mich und an die Gruppe zu gewöhnen.«58

Die Räumlichkeiten für die Jugendlichen waren absichtlich sehr spärlich eingerichtet, dafür gab es einen großen Werkraum. »Wenn ich mich so umschaue, habe ich das Gefühl, Robinson Crusoe zu sein, bevor er damit begann, seine Höhle herzurichten«, sagte Ernst Papanek zur Begrüßung. Er saß in einem fast leeren Raum am Holzboden, um ihn herum dreißig Jungen. Papanek schaute in die Runde und fuhr fort: »Kennt ihr die Geschichte von Robinson Crusoe und seinen Abenteuern auf einer einsamen Insel? Ich will sie euch erzählen und dann werden wir uns selber daran machen, hier etwas Schönes zu gestalten.«

In den nächsten Wochen baute Papanek mit den Jungen Möbel, um so ein Gruppengefühl zu erzeugen und den bekanntermaßen rabiaten Jugendlichen Wertschätzung für das Eigentum anderer beizubringen. Danach half Papanek bei Hausaufgaben, veranstaltete viele Ausflüge und Wanderungen, improvisierte Theatervorstellungen, sang und zeichnete mit seinen Schützlingen oder ging auch mal mit ihnen ins Kino. In der Anfangszeit gab es immer wieder Probleme, als die Jungen versuchten, Grenzen auszuloten und bewusst zu provozieren: Ein Franzl grüßte Papanek zum Beispiel fünfzig Mal hintereinander und war erstaunt zu sehen, dass der sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließ. Großen Respekt erhielt »Herr Ernst«, weil er sich von den Jugendlichen duzen ließ und weil er sie aktiv in die Gestaltung der Gruppe einband. Gemeinsam erarbeitete er mit den Jungen eine Gruppenverfassung und ließ sie sechs Vertreter wählen. »Diese 6 bilden einen Gruppenrat, der jede Woche eine Sitzung hält«, heißt es in der Verfassung. »Alle Wünsche und Beschwerden sollt ihr ihnen melden.«

Papanek freute sich besonders, wenn Störenfriede in den Gruppenrat gewählt wurden, und reflektierte in seinen Aufzeichnungen, wie diese durch die Verantwortung, aber auch den Respekt, der mit dem Amt kam, beachtliche Fortschritte machten. Dabei wertschätzte er die demokratischen Rechte seiner Schüler sehr, auch wenn sie nicht immer in ihrem eigenen Interesse handelten. Franzl stachelte zum Beispiel einmal die anderen Jungen auf, dafür zu stimmen, den Fußball zu zerstören. Papanek erklärte seinen Schützlingen, das sei ihr gutes Recht und er werde sie nicht stoppen, schließlich gehöre der Ball ihnen. Er müsse sie aber darauf hinweisen, dass die Stadt Wien nicht genug Geld habe, um ihnen einen neuen zu kaufen. Schon verlangten die Buben eine Neuwahl, beharrten auf ihrem demokratischen Recht und retteten so den geliebten Ball.

Ein einziges Mal nur musste Papanek auf andere Mittel zurückgreifen, als seine Schüler ein verbotenes Spottlied über den Kanzler sangen und er Angst hatte, in Schwierigkeiten zu kommen. »Ich versuchte sie von dem Lied abzulenken, aber je mehr sie erkannten, dass ich wollte, dass sie aufhörten, desto lauter und lustiger sangen sie es«, erinnerte er sich später. »Schlussendlich verkündete ich: ›Ich verbiete euch das Singen dieses Liedes.‹ Ich war völlig erstaunt, als sie tatsächlich aufhörten. Ich wusste nicht, dass autoritäre Erziehung so einfach war.«

»Den meisten Buben war bekannt, dass die 14. Gruppe eine Spezialgruppe ist«: Ernst Papanek hat seine tagebuchartigen Notizen zu seiner Arbeit in Sandleiten durch mehrere Jahre Flucht, Exil und den Zweiten Weltkrieg mit sich getragen.

Der Frieden währte jedoch nur für kurze Zeit: Als Papanek am Abend nach Hause ging, hatten sich mehr als 200 Jugendliche vor der Tagesstätte versammelt und sangen lauthals das verbotene Lied, während sie ihm auf Schritt und Tritt folgten. Ernst Papanek erkannte ein für alle Mal: »Autoritäre Erziehung ist nichts für mich!«