Elmsfeuer

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»Dinge?«

»Lassen Sie es mich so sagen: Die Bucht von Scapa Flow hat eine lange und… bewegte Geschichte. Schon die Wikinger hatten dort eine Art Hafen. Im Ersten… und im Zweiten Weltkrieg dann hatten die Briten an selber Stelle ihre Flotte stationiert. Die deutsche Marine hat mehr als einmal versucht, mit ihren U-Booten in die Bucht vorzudringen. Erfolglos. Bis auf ein einziges Mal.« Moussons Augen begannen, seltsam zu leuchten. »Kapitänleutnant Prien, dem der Angriff damals gelungen ist, war ein guter Freund unseres Captains… selbe Kadettenanstalt.

Aber schon lange vorher, im Sommer 1919, hat die deutsche Admiralität in Scapa Flow über 70 Schiffe der eigenen Flotte versenkt, damit sie nicht den Engländern in die Hände fallen. Ein Wahnsinn. Sie liegen noch heute dort unten. Was ich damit sagen will: Scapa Flow ist verantwortlich für eine Menge toter Seeleute und gesunkener Schiffe… eine ganze Menge… und das ist nie gut… für einen Ort… so viele Tote…«

Er machte eine Pause und starrte über die Reling ins nebelverhangene Nichts. Die anderen schwiegen. Mousson schob seine Offiziersmütze in den Nacken. »Ich bin selbst mehrmals unter verschiedenen Flaggen in Scapa Flow eingelaufen. Oberflächlich betrachtet eine Bucht wie jede andere. Aber ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich nicht jedesmal froh war, wenn wir dort wegkamen…« Er fuhr sich, wie es eine seiner Gewohnheiten war, über das zerfurchte Gesicht. »Es ist kein guter Ort… ein verwunschener Ort… die ganze Gegend rund um die Orkneys ist es…« Er machte eine Pause. Man hätte in diesem Moment eine Stecknadel fallen hören können. »Manche sagen, dass hier das wahre Tor nach Avalon zu finden sei… andere behaupten, dass die Seelen der Ertrunkenen sich an diesem Ort in denen der Lebenden einnisten, weil sie nicht verstehen wollen, dass ihrem eigenen Leben so lange vor der Zeit ein Ende gesetzt wurde… und wieder andere berichten von Booten, mit Feen und Elfen an Bord, die mit ihren Laternen den Schiffern den Weg ins Verderben leuchten…«

Er verstummte. Niemand sagte etwas. Kaum hörbar gluckste das Wasser gegen die Bordwand.

Lorna war es schließlich, die das bedrückte Schweigen brach.

»Was ist das?«, fragte sie gepresst, »hört Ihr das auch?« Sie lauschten. Tatsächlich. Sie hörten es auch.

Ein merkwürdiges, sphärisches Singen schien direkt aus dem Meer zu kommen. Sie richteten ihre Blicke auf das Wasser und wurden Zeuge, wie das dunkle Grau mit einem Mal grün zu leuchten begann. Ein Licht drang von irgendwo tief unten zu ihnen herauf. Das Singen schwoll an und ab, als brächte man ein Glas mit dem Finger zum Schwingen.

Unwillkürlich zogen alle sich ein Stück von der Reling zurück. Was war das?

Lorna erschrak. Sie hatte Rosina zwischen den vorderen Deckaufbauten entdeckt. Das Kind schien vom Locken des Meeres magisch angezogen. Behände kletterte es von einem der Luftschächte herunter und hangelte sich am Ladekran vorbei zum Bug. Dort streckte es die Hand nach der Gischt aus, die mit weißschäumenden Fingern nach ihm griff.

Lorna bekam es mit der Angst zu tun. Was, wenn Rosina sich zu weit über die Reling beugte und ins Wasser fiel? Sie wollte dem Mädchen zur Hilfe eilen, aber Etwas hielt sie zurück. So sehr sie es auch versuchte, sie kam nicht von der Stelle.

»Rosina! Pass auf! Das ist gefährlich!”, wollte sie rufen. Doch aus ihrer Kehle kam kein einziger Laut.

Das Wasser hatte inzwischen zu glühen begonnen, und ihre Ohren schmerzten von dem durchdringenden Ton.

Wieso taten die anderen denn nichts?

Sie sah sich um und erkannte, dass es denen genau so zu ergehen schien wie ihr. Was war das? Und wer löste es aus?

»Das Meer verlangt ein Opfer.«

Die Stimme, die das sagte, war tief. Sie war laut. Und sie schien von überall her zu kommen. Alle Köpfe fuhren herum. Hinter ihnen stand, nein, erschien in diesem Moment, ganz in Schwarz, Baronesse von Adler. Ihr Gesicht lag hinter einem blickdichten Schleier.

Johnny spürte, wie jene innere Kälte, die ihn an Bord bereits mehrmals heimgesucht hatte, sich erneut in ihm ausbreitete. Langsam neigte er seinen Kopf in den Nacken. Wie groß von Adler plötzlich war. Die Spitze ihres Huts lag auf einer Höhe mit der Top des Ladebaums.

Es war gewaltig, furchteinflößend, verstörend.

»Das Meer verlangt ein Opfer«, wiederholte die Stimme. »Was steht ihr also?« Von Adler hob den Arm und deutete auf Rosina, die reglos vorne am Burg verharrte. Wortlos sah sie der riesenhaften Gestalt entgegen. Kein Zeichen von Angst war an ihr zu erkennen.

Das Glühen des Meeres war inzwischen so stark, dass es in den Augen brannte. Das Singen ließ beinahe ihre Trommelfelle reißen.

»Ein Opfer…« Von Adler richtete ihren Arm weiter auf, und wie von Geisterhand ergriffen, begann Rosina, in die Luft zu steigen.

Niemand sah sich in der Lage, etwas zu unternehmen. Brovnys Gesicht war eine Grimasse der Angst.

Lorna spürte, wie Tränen der Verzweiflung über ihr Gesicht liefen. Johnny, der neben ihr stand, war blass wie der Tod selbst. Allein Moussons Miene zeigte keine Regung.

Rosina stieg höher und höher. Bald schwebte ihr zierlicher Körper über den Bugsteven hinaus auf das Wasser, weiter, immer weiter.

Eine herrische Geste von Adlers schließlich brachte sie mit einem Ruck zum Stehen. Weit unter ihr brodelte das Wasser, als würde es kochen. Alle hielten den Atem an.

»Nex Osan!«, tönte von Adlers Stimme, und im selben Moment sauste die kleine Gestalt in dem blauen Kleid in die Tiefe. Das unerträgliche Singen übertönte das Geräusch des Aufpralls. Im Nu schlossen sich die Fluten über Brovnys Tochter. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Johnny noch, das Rot einer Strickmütze aufleuchten zu sehen. Dann war alles vorbei. Der mörderische Ton verklang. Das Leuchten in der Tiefe erlosch. Alles wurde schwarz.

5. Sie fliehen

»Vielleicht hätte ich doch einfach in meinem Krankenhaus bleiben sollen. Jeder, wirklich jeder meiner Kollegen hat mir dazu geraten. In ein paar Jahren wäre ich Oberarzt geworden, und dann, eines Tages vielleicht sogar Chefarzt. Der Operationssaal hatte mir doch, weiß Gott, genügend Herausforderungen zu bieten.«

Lorna stimmte nicht in Johnnys Klagelied ein. Was hätte sie ihm auch entgegnen sollen? Dass er recht hatte?

Immerhin hatte die Fehlentscheidung, für die er seinen Weggang aus Hamburg hielt, sie beide an diesem Ort zusammengeführt. In der Sanitätsstation eines Schiffes namens Elmsfeuer, das in diesem Moment den stürmischen Nordatlantik kreuzte. Das Ziel hieß Island.

Johnny schlug mit der Faust auf die gepolsterte Liege. Das Metallgestell knirschte. Keiner von ihnen konnte den Vorfall mit Rosina vergessen.

Das Mädchen war doch die gute Seele des Schiffs gewesen. Sie hatte Brovny während der Notoperation ins Leben zurückgeholt. Und nun war ihr eigenes so früh erloschen.

Nach allem, was sie sich vorzustellen vermochten, gehörte Ertrinken zu den grausamsten Arten zu sterben. Johnny war nie ein gläubiger Mensch gewesen. In diesem Augenblick aber hoffte er inständig, dass es auf der anderen Seite jemanden gab, der Rosina mit offenen Armen empfangen hatte.

Es klopfte an der Tür.

Johnny legte eine Packung Mullbinden, die er gemeinsam mit Lorna sortierte, ins Regal. »Herein.«

Mommsen schob seine gebeugte Gestalt durch die Tür. Sein professionelles Lächeln konnte nicht verbergen, wie nahe ihm Rosinas Tod ging. Seine geröteten Augen verrieten, dass er geweint hatte.

»Könnte ich«, begann er, »eine neue Packung Kopfschmerztabletten von Ihnen bekommen?«

»Ist es immer noch nicht besser?«, sagte Lorna besorgt.

»Nicht so richtig. Wenn wir das nächste Mal an Land gehen, werde ich umgehend einen Arzt aufsuchen, versprochen«, entgegnete er, war aber nicht in der Stimmung, über seinen kleinen Scherz zu lachen. Niemand war es. Mommsen ließ sich auf einem der Stühle nieder. In der Hand hielt er eine ungeöffnete Cognacflasche.

»Für von Adler?«, fragte Johnny düster und reichte Mommsen seine Packung Aspirin.

Statt einer Antwort entkorkte Mommsen die Flasche und angelte schweigend drei eingeschweißte Urinbecher aus dem Regal. Als er jeden davon zu einem Viertel mit Cognac befüllt hatte, sagte er: »Auf das Leben…«

Dann tranken sie.

***

Auf dem Vorderdeck stand einsam eine dunkle Gestalt.

Seit Stunden schon starrte Brovny auf das aufgewühlte Meer, in der Hoffnung auf ein Zeichen – ein Zeichen, das ihm verriet, wohin seine kleine Rosina gegangen war. Sein Töchterchen. Der Leitstern seines Lebens. Das Erste, woran er morgens dachte, und das Letzte, bevor er nachts die Augen schloss.

Er war in dritter Generation Maschinist an Bord eines Schiffes. Dort wo er herkam, ging man mit Kindern nicht sonderlich pfleglich um. Es gab schließlich genug davon. Wenn eines starb, war das kein großer Verlust, sondern lediglich ein hungriges Maul weniger. Brovny wusste von früher Kindheit an, was Schmerzen sind. Als Zweijähriger hatte er die Ruhr überstanden. Mit vier hatte ihm sein Vater im Vollrausch die Schädeldecke zertrümmert. Mit dem Schürhaken hatte er auf ihn eingedroschen, als seine Mutter ihm, von Ekel erfüllt, nicht mehr zu Diensten sein wollte. Die Lungenschwindsucht war Brovny danach wie eine Erholungsphase vorgekommen. All das und noch einiges andere hatte er irgendwie überstanden. Aber dies hier?

Dem Schmerz, den es verursachte, wenn einem bei lebendigem Leibe die Seele aus der Brust gerissen wurde, war auch ein Mann wie er nicht gewachsen.

 

Langsam hob und senkte sich sein Brustkorb.

Dann begann er zu singen. Eine langsame Melodie, wunderschön und so traurig, dass sie jedem, der sich in diesem Moment in seiner Nähe befunden hätte, das Herz gebrochen hätte.

***

Durch die salzverkrustete Frontscheibe der Brücke sahen Mousson und der Kapitän ihren einbeinigen Maschinisten an der Reling stehen. Der Kapitän hielt eine halb gefüllte Tasse kalten Tees fest in den Händen.

Moussons Kiefer mahlten. Die schwarzen Ränder unter seinen Augen verrieten, dass er in letzter Zeit kaum geschlafen hatte.

»Hm, Captain, können Sie erkennen, was Brovny dort unten tut?

Er wird doch nicht… nein, nicht unser Brovny…« Er hielt inne. »Singen?« Mousson strengte seine Augen an. »Ja. Sie haben recht. Es sieht aus, als würde er singen.« Er nahm seine Mütze ab und legte sie vor sich auf den Kartentisch.

»Was immer dieser Mann gerade ertragen muss, ich bin froh, dass nicht ich es bin. Bei meiner Mutter, jeden Vater auf diesem Erdball würde es zerbrechen, sein Kind zu verlieren, auf diese Weise zu verlieren… aber nicht Brovny… Brovny ist nicht der Mensch, der sich durch irgendetwas brechen ließe… auch nicht durch diese… diese…« Er verstummte.

Der Kapitän wusste auch so, was auszusprechen Mousson sich verbot, aus gutem Grunde verbot. Ein Zittern ging durch seinen Körper, und für einen Moment schloss er die Augen.

»Was ich damit aber keinesfalls sagen will«, fuhr Mousson nach einer Weile fort, »ist, dass der alte Brovny seine kleine Rosina nicht geliebt hat… er hat sie geliebt… und nur Gott weiß, wie sehr.«

Ein mächtiger Brecher traf das Schiff. Gischt schlug zischend gegen die Scheiben. Eine diffuse Erschütterung ließ die Elmsfeuer erbeben.

***

Kreszentia Rausch saß auf ihrer Eckbank und drehte eine gelblasierte Keramiktasse in ihren Händen. Auf dem Boden der Tasse waren eingetrocknete Kakaoreste zu erkennen. Das Herz der Köchin zog sich zusammen.

»Weißt du, kleine Rosina«, begann sie, »es ist nicht mehr dasselbe hier, auf dem Schiff, seitdem du nicht mehr da bist.« Sie machte eine Pause und versuchte, sich Rosinas rundes Kindergesicht vor ihr inneres Auge zu holen. Als es ihr schließlich gelang, musste sie lächeln. Tränen rannen ihr über das Gesicht. »Du hast zwar, wenn wir beide ehrlich sind, nie besonders viel geredet… aber wir haben uns doch trotzdem ganz gut verstanden… oder?«

Als sie keine Antwort erhielt, erhob Kreszentia Rausch sich und ging hinüber zu dem angekokelten Radiogerät auf der Anrichte.

Seltsamerweise lief es seit dem Moment wieder, als es den leichtsinnigen Brovny mit einem kräftigen Stromschlag niedergestreckt hatte. Wieder musste Kreszentia Rausch lächeln.

»Du bist mir doch nicht böse, wenn ich ein bisschen das Radio einschalte, oder? Das heißt ja nicht gleich, dass du mir nicht fehlst. Aber ich merke den Schmerz nicht so, wenn ich um mich herum ein paar Geräusche habe. Du verstehst das schon, hab ich Recht?«

Sie drehte an einem der Knöpfe auf der rechten Seite des Apparats. Ein Knacken erklang, dann ein schwaches Rauschen und schließlich die Stimme eines Sprechers, der sagte: »… der offenbar kurz bevorstehende Ausbruch des Vulkans Grimmwasser auf einer Island vorgelagerten Insel ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil dieser Berg eigentlich schon seit Jahrhunderten als erloschen galt. In Fachkreisen ist höchst umstritten, wie stark die zu erwartende Eruption ausfallen wird.

Evakuierungen finden derzeit lediglich auf der schwach besiedelten Insel selbst statt. Wann das Festland an die Reihe kommt, wird derzeit noch diskutiert. Eine Handvoll Wissenschaftler immerhin warnt vor einer Katastrophe nie geahnten Ausmaßes, für Island, ja sogar für ganz Europa. Die Regierung vor Ort allerdings scheint diese Warnungen nicht ernst zu nehmen.« Der Sprecher legte eine kurze Pause ein. Ein der Situation unangemessen fröhlicher Jingle war zu hören. »In wenigen Minuten haben wir einen Experten für Sie am Telefon, der uns live aus Island zugeschaltet ist. Vor dem Parlament in Reykjavik kommt es bereits zu ersten Protestkundgebungen. Viele Menschen dort sind in großer Sorge.

Zunächst aber hören Sie, von uns für Sie, die isländische Popgruppe

»Fire« mit ihrem derzeitigen Hit »Cold as Ice«.

Kreszentia Rausch drehte den Ton leiser, als die Musik einsetzte.

»Island?«, murmelte sie, »fahren wir da nicht gerade hin?«

Im selben Moment begann das in den Regalen festgezurrte Geschirr lautstark zu vibrieren. Ein Ruck ging durch das Schiff. Kreszentia Rausch bekreuzigte sich.

***

Der Kabinentrakt auf Achtern lag verlassen im matten Schein zweier zuckender Neonlampen, als die Tür zu von Adlers Kabine geöffnet wurde. Mommsen trat schwerfällig auf den Gang hinaus. Das Licht der Neonröhren gab seinem Gesicht einen ungesunden Gelbstich. Er tastete nach dem Messingknauf hinter sich und zog sanft die Tür ins Schloss.

Sein sonst so akkurat geknöpftes Hemd war weit geöffnet, die Krawatte hing lose um den schwitzigen Hals. Das, gegen jede Gepflogenheit, vollständig geöffnete Jacket war zerknittert. Es roch nach Alkohol.

In der Hand hielt Mommsen den zerpflückten Verschluss einer Cognacflasche. Er starrte den Korken fasziniert an, als handle es sich um einen Diamantring. Dann ließ er ihn fallen und taumelte lallend in Richtung Küche davon.

***

»Seebeben sind in diesen Breiten keine Seltenheit, Captain. Das wissen Sie so gut wie ich.« Mousson massierte mit der rechten Hand besorgt seinen faltigen Hals. »Außerdem befinden wir uns schon seit einiger Zeit in isländischen Hoheitsgewässern… wenn also etwas im Anmarsch wäre, von dem Gefahr ausgeht, hätte die Küstenwache uns längst angefunkt und gewarnt. Die isländischen Behörden sind, was das betrifft, ausgesprochen sorgfältig.«

Sie sahen schweigend über die raue See. Der Wellengang war so stark, dass der Bug der Elmsfeuer hin und wieder vollständig im Wasser verschwand.

Bedingungen wie diese waren ganz nach Moussons Geschmack. Männer wie er brauchten einen sichtbareren Gegenüber, dem sie sich entgegenstemmen und an dem sie sich abarbeiten konnten.

»Ein Vulkan meinen Sie? Nein, Captain, das kann ich mir nicht vorstellen. Der Eyjafjallajökull gibt doch schon seit einer ganzen Weile Ruhe.

Der Grimmwasser? Nein. Der erst recht nicht. Der ist seit Jahrhunderten nicht mehr aktiv. Was los wäre, wenn ausgerechnet der wieder anfinge sich zu rühren, will ich mir lieber nicht vorstellen. Dagegen wäre die Erschütterung von vorhin nicht mehr als ein… Furz.« Er wischte sich fahrig über die glänzende Stirn. »Man müsste die gesamte Küste evakuieren. Ach, was rede ich? Die gesamte Insel. Aber…«, er wurde ernst, »selbst alle Vulkane Islands zusammen würden an unserem Kurs nichts ändern… könnten es nicht…«

Der Kapitän schloss die Augen.

»Aber solange wir auf dem Meer keine…« Mousson verstummte. Er griff nach dem Fernglas, das um seinen Hals hing. Seine Miene verfinsterte sich. Er reichte das Glas an den Kapitän weiter. »Sehen Sie mal…« Nach ein paar Sekunden nahm der Kapitän den Feldstecher von den Augen und nickte.

»Diese Lichter sind kein gutes Zeichen…« Mousson schürzte nervös die Lippen. »Das sind die Markierungsleuchten ihrer Boote«, hauchte er.

Der Kapitän tat einen weiteren Blick durch das Fernglas und gab es anschließend Mousson zurück. »Sie verlassen das Festland«, brummte der, »also doch… ein Vulkan, der… Vulkan.«

***

»Anders als die Isländer, haben die Regierungen anderer europäischer Staaten, darunter Deutschland, England und Frankreich, inzwischen auf die Seebeben vor der Küste Islands reagiert und den Schiffsverkehr dorthin bis auf Weiteres eingestellt. Ob und in welchem Maße ein Wiedererwachen des seit Jahrhunderten inaktiven Vulkans Grimmwasser bevorsteht, ist derzeit noch unklar. Wir werden Sie über die aktuellen Veränderungen und Ereignisse selbstverständlich auf dem Laufenden halten. Sie hören Welle…«

Kreszentia Rausch drehte das Radio erneut leiser, als die Nachrichtensendung vorüber war. Nach ausgelassener Musik stand ihr nicht der Sinn. Auf dem Korridor vor der angelehnten Kombüsentür hörte sie Schritte. Dumpf und schwer und dazwischen metallisch spitz. Brovny kam, die Krücke unter dem Arm, in den Raum.

Kreszentia Rausch versuchte ein Lächeln zur Begrüßung. Brovnys Blick fiel auf das leise spielende Radio. In seinen Augen spiegelte sich einen Moment lang Überraschung. Er zog den freien Arm, den er hinter dem Rücken verborgen gehalten hatte, hervor, und Kreszentia Rausch sah, dass er ihr einen kleinen Weltempfänger mitgebracht hatte. Gerührt drehte sie den Kopf zur Seite.

»Habe gedacht, das hier ist kaputt.« Er sah sie schuldbewusst an. »Wollte Ihnen nur das hier bringen… als Ersatz…« Er ging auf den Tisch zu, stellte den Weltempfänger ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sein erschöpfter Blick irrte ziellos umher. Wenig später beugte er sich nach vorne und zog die gelbe Tasse, die Kreszentia Rausch dort hatte stehen lassen, zu sich heran. Im selben Moment bereute die, Rosinas Tasse nicht weggeräumt zu haben. Sie ging auf Brovny zu und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Soll ich Ihnen vielleicht einen Tee machen… einen schwarzen…?«

Brovny drehte sich um und sah sie dankbar an: »Haben Sie Wodka?«

»Wodka? Leider nicht. Aber ich kann Ihnen einen sehr guten Kräuterschnaps anbieten…«

»Kräuterschnaps?« Er murmelte etwas auf Russisch, das sie nicht verstand, von dem sie aber ahnte, dass es nicht besonders vornehm war. Und während sie noch überlegte, ob sie ihm sein grobes Benehmen angesichts der furchtbaren Situation, in der er sich befand, nachsehen sollte, blickte er erneut zu ihr auf und brummte: »Einen Kräuterschnaps nehm ich sehr gerne.«

***

Von der Brücke aus war inzwischen auch ohne Fernglas zu erkennen, wie die schlanken Holzboote, in deren Bug matte Laternen schimmerten, sich von der isländischen Küste entfernten. Anders als der Elmsfeuer schien den schmal gebauten Biremen der Seegang nichts auszumachen. Federleicht schwebten sie über der Gischt wie Luftkissenboote. Jeweils drei von ihnen nebeneinander, eine Reihe hinter der anderen, ein endloses Meer aus verzauberten Lichtern. Von denen, die sie steuerten, allerdings war nichts zu sehen. Mousson wusste aber, dass sie es waren, und dass sie sich unsichtbar machen konnten, um frei von irdischer Schwere zu navigieren.

Dass sie ihr Land, in dem sie seit jeher lebten, verließen, war kein gutes Zeichen.

Die beiden Männer im Kommandostand hätten in diesem Moment gerne anders gehandelt, als sie es taten. Tun mussten. Dass dort, wo sie hinfuhren, Verderben wartete, war ihnen bewusst, und es verlangte ihnen alles ab, ihren angeborenen Fluchtreflex niederzuzwingen. Jede Sehne ihres Körpers, jede Nervenfaser war zum Bersten gespannt.

Quälende Schmerzen waren die Folge.

Mousson hielt das Steuerruder fest mit beiden Händen gepackt. Seine Augen suchten mechanisch den Horizont ab. Die Küste Islands konnte nicht mehr weit sein.

Plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Weder er noch der Kapitän hatten es kommen sehen. Ein gewaltiger Schlag erschütterte das Schiff. Papiere, Karten und Instrumentarium schossen durch die Luft. Von der Schockwelle wurde der Kapitän gegen das Steuerruder geworfen.

Die Elmsfeuer, so viel war den beiden erfahrenen Seeleuten klar, musste mit etwas sehr Großem kollidiert sein. Ein Riff oder Felsen konnte es nicht gewesen sein, das hätten die Seekarten ihnen gezeigt. Sie fuhren nicht zum ersten Mal in diesen Gewässern.

Einen endlos langen Moment lag ihr Schiff schräg im Wasser, wie ein Boot, das man an den Strand gezogen hatte. Deutlich war dann zu spüren, dass, was immer es auch war, unter dem Gewicht der Elmsfeuer nachgab. Begleitet von einem dumpfen Brüllen und weiteren, stoßweisen Erschütterungen wurde es unter ihnen von der Strömung fortgerissen. Das Schiff kippte zurück in seine normale Position. Sein Leib ächzte. Der Kapitän rappelte sich verstört vom Boden auf. Mousson versuchte, das Ruder zu bewegen, um sie zurück auf Kurs zu bringen. Doch es rührte sich keinen Zentimeter.