Elmsfeuer

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3. Landgang

Ein Tag war vergangen.

Das Meer zeigte sich von seiner ruhigen Seite, und die Nachmittagssonne verursachte ein angenehmes Kribbeln auf der Haut. Johnny lag in einem alten Liegestuhl auf dem Achterdeck und sah über das tiefblaue Wasser. In den Händen hielt er das Smartphone. Endlich konnte er die Email an Prof. Block weiterschreiben, die er im Ordner für Entwürfe zwischengelagert hatte:

»Sehr geehrter Herr Professor Block,

bitte entschuldigen Sie, dass meine Nachricht an Sie so unvermittelt abbrach. Man ist hier an Bord nie ganz für sich allein. Ich lasse das bereits Geschriebene einfach stehen, damit Sie einen Eindruck davon bekommen, wie es hier auf der Elmsfeuer zugeht.

Inzwischen haben wir den Ärmelkanal und die Irische See überstanden. Vor uns liegt die Südküste Irlands, man kann sie bereits sehen, und wenn stimmt, was man mir gesagt hat, werden wir in einer halben Stunde in Cork vor Anker gehen. Mein Körper hat, wenn ich ehrlich bin, nichts gegen ein paar Stunden festen Boden unter den Füßen einzuwenden.

Dem von mir operierten Patienten geht es, entgegen aller medizinischen Erfahrungswerte, sehr gut. Er widmet sich bereits wieder in vollem Umfang seiner Arbeit als Maschinist. Nein, rügen Sie mich bitte nicht dafür! Ich habe ihm natürlich davon abgeraten. Erfolglos. Ansonsten ist…«

Das laute Rasseln der Ankerkette und das Rufen Mommsens ließen ihn zusammenfahren.

»Dr. Elm.«

»Ja. Hier drüben. Was ist?« Er schirmte mit einer Hand die Augen, um gegen die Sonne etwas sehen zu können.

Mommsen baute sich direkt vor ihm auf. »Befehl vom Captain: Wir gehen bereits hier draußen vor Anker und setzen mit einem der Beiboote zum Hafen über. Wenn Sie wollen, können Sie mit uns kommen.«

»Sehr gerne.« Eine leichte Windbö kam auf. »Ich bin in einer Minute bei Ihnen.«

Mommsen nickte.

Johnny wandte sich noch einmal kurz dem Telefon zu. Er löschte die letzten beiden Worte und schrieb: »Soeben zeigt sich erneut, dass Freizeit auf einem Schiff Mangelware ist. Man ruft bereits zum Landgang.

Ich hoffe sehr, es geht Ihnen gut. Grüßen Sie bitte die Kollegen von mir und verlassen Sie sich darauf, dass Sie bald wieder von mir hören. Es grüßt Sie sehr herzlich, Ihr Johnny Elm.«

Ein paar Sekunden lang starrte er auf das Geschriebene. Gedanken an all das, was er in Hamburg zurückgelassen hatte, geisterten durch seinen Kopf. Und wofür? Für eine unbequeme Reise ins Ungewisse.

Dann drückte er auf »Nachricht senden«.

»Was ist jetzt mit Ihnen, Dr. Elm? Wir müssen los!«

Johnny steckte das Handy in seine Gesäßtasche, stand auf und beeilte sich, zu der Stelle zu kommen, an der Mommsen, Mousson und Brovny bereits eines der drei Beiboote zu Wasser gelassen hatten. Brovny bewegte sich trotz des fehlenden Beins auffallend behände. An der Luke zum Unterdeck traf Johnny auf Lorna. Lorna lächelte, als sie ihn sah. Er lächelte zurück. »Na, Frau Hoy, kommen Sie mit uns an Land?«

Sie nickte. »Ja, aber nicht mit diesem Boot.« Er bemühte sich, einen plötzlichen Anflug von Enttäuschung zu verbergen. »Ich habe den Touristen versprochen, mit ihnen eines der anderen Boot zu nehmen. Die junge Dame ist noch nicht… ausgehfertig.« Lorna grinste. »Wir sehen uns dann aber auf jeden Fall an Land. Cork soll eine sehr schöne Stadt sein.«

»Das hab ich auch gehört«, antwortete er, obwohl das nicht stimmte.

»Elm!«, brüllte nun auch Mousson, »brauchen Sie eine Extraeinladung, oder was ist los?«

»Also, bis später«, sagte Johnny, entschuldigend grinsend. Dann ließ er sich an der frei schwingenden Jakobsleiter in das schlingernde Boot hinunter. Mousson fluchte auf Französisch und stieß sie mit einem Ruder von der Schiffswand ab. Als sie sich ein paar Meter von der Elmsfeuer entfernt hatten, ließ Mommsen den Motor an.

***

Die Männer in dem Boot erwiesen sich als versierte Seeleute. Es dauerte nicht lange, und sie hatten sich einen Weg zwischen den in ihrer Größe nicht ungefährlichen Schiffen hindurch zum Hafen gebahnt. An einem etwas abseits gelegenen Teil der Mole gingen sie längsseits und warfen die Leine aus.

Johnny stellte zufrieden fest, dass ihn seit Einnahme des Alraunensafts keine Symptome der Seekrankheit mehr plagten. Ehe er sich versah, hatten seine drei Begleiter den Kai geentert und waren, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, im Getümmel aus Hafenarbeitern und Touristen verschwunden. Ihm war das nur recht. Er wollte gar nicht wissen, welche Art Geschäfte sie zu erledigen hatten. Viel lieber würde er sich in der Zwischenzeit den Hafen von Cork ansehen. Zunächst einmal aber würde er auf Lorna warten. Er ließ sich auf einem der Pfeiler in der Nähe nieder und besah sich das bunte Treiben. Hier war zwar alles etwas kleiner als in Hamburg, dafür aber hatte sich eine Ursprünglichkeit erhalten, die in seiner Heimatstadt kaum mehr zu finden war. Alte Filme über die Seefahrt kamen ihm in den Sinn, als er die schiefen Segelmacher- und Reeperhäuschen am Ende der Mole sah, die sich vor dem Wind hinter die moosbewachsene Kaimauer duckten.

Er liebte das Meer und die damit verbundenen Traditionen und Mythen. Bestimmt war das einer der Gründe, warum er sich nun dort befand, wo er war. Er ließ seine Gedanken schweifen. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen, seine berufliche Karriere in einer der angesehensten Kliniken des Landes gegen eine Stelle als Schiffsarzt einzutauschen? Noch dazu auf einem heruntergekommenen Kahn wie der Elmsfeuer? Wie mochte die Reise weitergehen? So aufreibend, wie bisher? Seine Hand rutschte vorsichtig in die Hosentasche. Woher rührten die Angstzustände, die ihn überkamen, wenn er dieses seltsame Amulett berührte? Er legte die Stirn in Falten. Sollte er es vielleicht einfach ins Meer fallen lassen? Dann war er zumindest eine Sorge los.

Das Ding war unheimlich, und Mommsen wusste darüber hinaus ganz offensichtlich, was es war. Warum hatte er ihn davor gewarnt, es Anderen zu zeigen? Vertrauenswürdig schienen ihm die Leute an Bord alle nicht. Die Köchin vielleicht ausgenommen. Welches Geheimnis trugen sie mit sich herum? Andererseits: wollte er das wirklich wissen?

»Dr. Elm!« Jemand rief vom Wasser her seinen Namen. Lorna saß im Heck des zweiten Beiboots und steuerte es sicher in die Nähe des ersten. Eine Hand an der Ruderpinne, winkte sie ihm fröhlich zu. Die zwei Touristen, beide immer noch ein wenig bleich um die Nase, klammerten sich an ihren Holzsitzen fest. Die Bugwellen der ein- und auslaufenden Schiffe ließen ihr Boot gehörig schaukeln. Bald jedoch hatten sie es überstanden.

Johnny half Lorna, so gut er konnte, das Boot zu vertäuen. Er würde sie bei Gelegenheit fragen müssen, woher sie derart bewandert im Knüpfen von Seemannsknoten war.

Das junge Paar blühte, sobald es festen Boden unter den Füßen hatte, sichtlich auf und meldete sich umgehend zum Einkaufsbummel ab.

Zuvor jedoch nahm Lorna ihnen das dringende Versprechen ab, zum vereinbarten Zeitpunkt wieder am Hafen zu sein. Schmunzelnd sahen Johnny und sie den beiden nach.

»So, und womit vertreiben wir uns nun die Zeit?«, fragte Johnny.

»Was halten Sie von einem Spaziergang durch das Viertel? Eventuell finden wir ein kleines Café, in dem wir uns ausruhen können. Nichts gegen den Kaffee unserer Köchin, aber…« Sie hielt inne. »Außerdem möchte ich ein paar Postkarten kaufen.«

Er nickte zustimmend. »Na, dann nichts wie los.«

Froh, dem Schaukeln des Schiffs für eine Weile entkommen zu sein, machten sie sich auf Erkundungstour, besahen sich hier ein Schaufenster und wimmelten dort einen der Koberer ab, der sie laut krakeelend in eine der zahlreichen, übel ausdünstenden Bars zerren wollte.

Johnny staunte. Das war wirklich nicht mit dem zu vergleichen, was Besuchern auf St. Pauli an Touristenroutine geboten wurde. Hier war alles irgendwie roher, vielleicht auch gefährlicher. Sorgfältig achtete er darauf, dass Lorna sich nicht zu weit von ihm entfernte.

Bald fiel ihnen auf, dass sie den lebhaften Teil des Viertels, ohne es zunächst zu merken, hinter sich gelassen hatten. Wenig später fanden sie sich in einer tristen, menschenleeren Seitenstraße wieder, die wenig Vertrauen einflößte. Aus eigener, schmerzhafter Erfahrung auf dem Hamburger Kiez wusste Johnny, dass alles in Ordnung war, solange man sich auf den ausgetrampelten Touristenpfaden bewegte. Bedenklich wurde es erst, wenn man diese verließ und in einer dunklen Ecke Jemanden aufschreckte, der dort in Ruhe seinen Geschäften nachgehen wollte. Wie es aussah, waren sie soeben an einem dieser Orte gelandet.

Johnny fasste Lorna sanft am Arm. Er wollte ihr keine Angst machen. Vorsicht war aber trotzdem geboten. »Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir in belebtere Gefilde zurückkehren…«

Lorna sah sich in einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um.

»… bevor wir uns komplett verfransen.«

Sie nickte und wich von nun an keine Armlänge mehr von seiner Seite. Bald mussten sie einsehen, dass sie im Gewirr der engen Gassen die Orientierung verloren hatten. Vom Geschrei und Durcheinander des Hafens war hier nichts mehr zu hören.

»Am besten, wir fragen Jemanden nach dem Weg«, schlug Lorna flüsternd vor.

Die schmale, kopfsteingepflasterte Straße, auf der sie sich befanden, gehörte offensichtlich noch zum Rotlichtbezirk. Allerdings herrschte kaum Betrieb. Den Damen, die gelangweilt in dunklen Hauseingängen lehnten, war anzusehen, dass sie ihre beste Zeit schon eine Weile hinter sich hatten und, was die Tarife betraf, nicht mehr sehr anspruchsvoll sein durften. Entsprechend verwahrlost wirkten auch die wenigen potentiellen Freier, die geifernd umher gingen und jede der Frauen wie Vieh begrapschten.

 

Lorna und Johnny beschleunigten ihre Schritte. Nur schnell weg von diesem deprimierenden Ort! Aber wie? Nicht lange und Johnny rang sich endlich dazu durch, eine Dame, die mit dem Rücken zu ihnen stand, nach dem Weg zu fragen. Was blieb ihnen auch für eine Wahl?

Schüchtern räusperte er sich und klopfte dabei vorsichtig auf die ihm zugewandte Schulter. Und noch während die Person sich zu ihm umdrehte, wünschte er, nichts dergleichen getan zu haben. Denn Lorna und ihm bot sich im nächsten Moment ein schwer erträglicher Anblick.

Die nackten Unterarme, das tiefe Dekolletee und nicht zuletzt das Gesicht der Frau waren derart verstümmelt, das sich kaum noch von einem menschlichen Antlitz sprechen ließ. Sowohl Arme als auch Brust waren von Narben und verkrusteten Entzündungen übersät. Jemand musste der Frau vor langer Zeit die Lippen mit einem Messer abgeschnitten oder vielmehr abgerissen haben. Die verbliebenen, zerfaserten Muskeln und Hautfalten vermochten nicht, das zerstörte Gebiss vollständig zu bedecken. Ein widerwärtiges Grinsen war die Folge, so gegen alle Natur, dass es unmöglich war, den Blick davon abzuwenden, wie sehr man es sich auch wünschte. Die Nase der Frau fehlte ganz. An ihrer Stelle befand sich ein blutverkrustetes Loch, aus dem fortwährend übelriechender Schleim quoll und sich zäh über Mund, Kinn und Hals bis auf die welken Brüste ergoss.

In einer der beiden Höhlen fehlte das Auge. Auch hier stinkender Eiter, in dem Johnny das widerwärtige Zucken weißer Maden auszumachen glaubte. Das zweite Auge befand sich zwar noch an seinem Platz, war aber von einem milchigen Schleier überzogen. Dahinter zeichnete sich das Dunkel einer Pupille ab, die sie unverwandt anstarrte.

»Ja, bitte? Wie kann ich Euch helfen, Ihr zwei Hübschen?« Die Stimme der Frau war nicht weniger verstörend als ihr Körper. Ihr Ton war hoch und durchdringend. Jedoch fehlte ihr alles Weibliche. Sie glich eher dem eines vor dem Stimmbruch kastrierten Mannes.

Johnny und Lorna standen wie angewurzelt, vollkommen unfähig, sich zu rühren. Die Frau wurde schnell ungehalten. »Ihr müsst mir schon sagen, was Ihr wollt, Kinder, sonst kann ich nichts für Euch tun.« Johnny fasste sich ein Herz: »Ent… schuldigung. Können Sie uns eventuell sagen, wie wir von hier zurück zum Hafen kommen?« Umgehend wurde die Frau ein wenig freundlicher. »Ach, verlaufen habt Ihr Euch.« Sie machte eine Pause, und ihr Grinsen wurde noch widerwärtiger. »Was ist meine Auskunft Euch denn wert, Kinder?« Johnny zögerte: »Was muss… Sie uns… denn wert sein?«

»Wieviel habt Ihr denn dabei?«

Johnny wühlte in seiner Hosentasche. Er ertastete einen zusammengeknüllten Geldschein und bemühte sich, ihn so schnell wie möglich hervorzukramen. Dabei fielen ihm ein paar Centmünzen klirrend zu Boden, und zwischen den Münzen lag: das Amulett.

Er hielt den Atem an.

Die Frau beugte sich mit einer Schnelligkeit, die man ihr nicht zugetraut hätte, zu Boden. »Was haben wir denn da?«, krächzte sie.

»Geben Sie das bitte zurück«, sagte Johnny, »es handelt sich um persönliches Eigentum.«

»Persönliches Eigentum«, wiederholte die Frau heiser und ihre Finger krochen spinnengleich über die Kruste, die das Amulett umschloss.

»Hier«, sagte Johnny nervös, »ich gebe Ihnen 50 Euro. Mehr habe ich nicht bei mir… das ist eine Menge Geld für eine einfache Auskunft…«

»Einfache Auskunft…«, wiederholte die Frau und schien sein Angebot gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Versonnen ließ sie die Kette durch ihre Finger gleiten. Schließlich hob sie den Kopf, und ihr starrer Blick brannte sich in Johnnys Seele. Er spürte Lornas Hand, die hilfesuchend nach seiner griff.

»Ihr kommt von der Elmsfeuer, hab ich Recht?«

Johnny wurde schwindlig. Lornas Hand war kalt wie Eis.

»Wo… woher wissen Sie das?«, stammelte er.

»Ein Kessel ist geborsten und ein Bein ist verloren…«, summte die Frau. Johnny musste seine gesamte Kraft aufwenden, bei Bewusstsein zu bleiben. Die heisere Stimme drang wie durch Watte an sein Ohr.

»Lornas Hand nicht verlieren, Lornas Hand nicht verlieren…«, hämmerte es in seinem Kopf.

»… und das ist erst der Anfang«, fuhr die Frau fort. »Die Elmsfeuer… gibt keine Seele wieder frei… die sie einmal gefangen hat… keine Seele… die sie einmal gefangen hat…«

Ihm wurde schwarz vor Augen. Er taumelte, spürte, wie er das Gleichgewicht verlor und von der erschrockenen Lorna festgehalten wurde. Sein schwindendes Blickfeld fokussierte das Amulett in der Hand der Frau. Er musste es wiederhaben. Um jeden Preis. Wie in Trance griff er nach der vor ihm baumelnden Kette – und fasste ins Leere.

Er hörte ein schepperndes Lachen. »Wenn ihr schlau seid, geht ihr nicht zurück, Kinder… ich…«

»Na, du alte Schabracke!« Jemand war unbemerkt neben sie getreten. Soweit Johnny erkennen konnte, handelte es sich um einen der verwahrlosten Freier. Der Mann grunzte, spie einen Klumpen grünen Auswurfs vor Lornas Füße und packte die Frau unsanft an der Schulter.

»Kann man dich Scheusal noch ficken oder fällst du dann auseinander?« Er unterstrich seine Frage mit einem weiteren unappetitlichen Geräusch.

»Jetzt oder nie!«, durchfuhr es Johnny.

Wie er es geschafft hatte, konnte er später nicht mehr sagen. Der kurze Moment der Ablenkung jedenfalls hatte genügt. Mit letzter Kraft riss er das Amulett an sich und zerrte Lorna, ohne eine Sekunde abzuwarten, mit sich fort. Dann rannten sie. Sie rannten von einer Gasse zur nächsten, hierhin, dorthin, atemlos, orientierungslos, bis sie schließlich eine der Häuserzeilen wiederzuerkennen glaubten. Der Hafen konnte nicht mehr weit sein.

Plötzlich fasste Jemand Johnny von hinten an die Schulter. Er fuhr herum, bereit, dem Angreifer seine Faust mitten ins Gesicht zu schlagen. Mousson! Es war Philippe Mousson, der Erste Offizier der Elmsfeuer. Mit der Gewandtheit eines kampferprobten Seemanns wich er Johnnys dilletantischer Attacke aus. »Nun mal langsam, Doktor, geht man so mit Freunden um? Was ist denn überhaupt los? Sie sehen ja aus, als sei Ihnen der Leibhaftige persönlich begegnet.« Er packte fester zu. »Nun bleiben Sie doch endlich stehen!« Johnny hielt schwer atmend an. Lorna presste sich an seine Seite und schnappte ebenfalls heftig nach Luft.

Ihre Lungen brannten wie Feuer. Sie brachten kein Wort heraus.

»Na gut, merken Sie sich, was Sie sagen wollen, bis später«, grinste Mousson. »Wir müssen ohnehin machen, dass wir zum Hafen und auf das Schiff kommen, bevor…«, er zögerte, »nun ja, unsere Geschäftspartner waren von dem, was wir ihnen zu bieten hatten, nicht sehr angetan…« Sein Grinsen erlosch. »Los. Beeilung!«

***

An die Strecke zum Hafen, die sie im Sprint zurückgelegt haben mussten, konnte Johnny sich später nicht mehr erinnern. Wovon ihm jedoch eine bleischwere Ahnung blieb, war ein großer Schatten, schwarz wie eine Gewitterfront und difus wie ein Schwarm Hornissen, der sich den gesamten Weg lang hinter ihnen zu befinden schien.

Dass sie unterwegs das junge Touristenpaar aufgegriffen und aus Zeitmangel mit in ihr Boot genommen haben mussten, begriff er erst, als er in dem schwankenden Kahn wieder halbwegs zu Bewusstsein gelangte.

Da saßen sie nun, eng aneinander gepresst, in der überladenen Nußschale und hofften, das Schiff unversehrt zu erreichen.

Über dem Hafen glaubte er wieder den Schatten zu erkennen, sah, wie er drohend hin und her wogte – und sich schließlich im Blaugrau der einsetzenden Dämmerung auflöste.

Ohne zu verstehen, was geschah, begann er ahnen: Sie waren noch einmal davon gekommen. Das war zumindest die Botschaft, die er in den erschöpften Gesichtern ablesen konnte.

Sein Blick ging ratlos von einem zum anderen. Die Wellen warfen ihr Boot hin und her wie einen Spielball. Der alte Außenmotor röhrte blechern.

Johnny spürte, wie ihm kalt wurde. Unbewusst rückte er näher an Lorna heran, die neben ihm saß. Ihre Wärme drang durch sein T-Shirt.

Langsam ließ die Anspannung nach, und sein Gehirn begann wieder zu arbeiten. War alles nur ein böser Traum gewesen? Das Viertel, in das sie sich verlaufen hatten. Die grauenhafte Frau. Plötzlich war ihm, als stünde sie direkt hinter ihm. Wieder konnte er ihre heisere Stimme hören, glaubte zu verstehen, was sie ihnen im Davonrennen hinterher rief: »Merkt Euch meine Worte, Kinder, merkt sie Euch gut! Denn ich bin nicht die, für die ihr mich haltet. Ich bin… das Schiff… Kinder… bin das Schiff… Euer… Schiff…«

Ohne es zu merken, griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, als könne er ihn so am Zerspringen hindern.

Im selben Moment glitt ihr Boot aus dem Schatten eines ankernden Frachtschiffs ins Freie, und vor ihnen lag, keine hundert Meter entfernt, die Elmsfeuer.

4. Die Inseln im Nebel

Fast eine Woche war seit den Ereignissen in Irland vergangen. Ohne Zwischenfälle erreichten sie die Orkney-Inseln im Norden Schottlands. Die See war für die Jahreszeit ausgesprochen ruhig. Trotzdem war der Rumpf des Schiffs ständig in Bewegung.

Je weiter sie in den Norden vorstießen, desto häufiger trafen sie auf Nebelfelder. Zunächst waren es nur vereinzelte Bänke. Stündlich aber wurden diese größer und dichter, bis der kaum zu durchdringende Dunst zu ihrem ständigen Begleiter wurde.

Eine Veränderung ging vor sich.

Der Nebel schien alle Geräusche um sie herum zu verschlucken: Das Plätschern der Wellen, die unablässig gegen den Bug schlugen, das Geschrei der Vögel, deren Zahl in Küstennähe eigentlich hätte zunehmen müssen, und die Signalhörner fremder Schiffe, deren Kurs den ihren kreuzte. Nichts davon war mehr zu hören.

Es dauerte nicht lange, dann hatte das große Schweigen sich auch auf die Leute an Bord übertragen. Sie gingen zwar nach wie vor ihrer Arbeit nach, sprachen dabei aber nur das Nötigste. Es war, als befänden sie alle sich auf einer endlosen Totenmesse, und jeder von ihnen hätte Angst, die Ruhe der Seelen durch den Lärm seiner Stimme zu stören.

Hin und wieder, sehr selten, zeichnete sich ein schwacher Lichtpunkt an jener Stelle ab, an der sich, weit über ihnen, der Himmel befinden musste. Die Sonne und ein freier Horizont kamen ihnen wie verblassende Erinnerungen an eine längst vergangene Epoche vor. Wegen der schlechten Sicht hatte Mousson die Geschwindigkeit auf ein Minimum drosseln lassen. Das bis dahin monotone Brummen der Bordmaschine war somit ebenfalls verstummt.

Die Gegend, in der sie sich nun aufhielten, war wegen ihrer Untiefen, Sandbänke und Riffe gefürchtet. Beim Manövrieren galt deshalb höchste Vorsicht. Zu allem Überfluss hatte das Sonar nur Tage zuvor den Dienst quittiert. Die Bestimmung der Wassertiefe musste nun, wie in alten Tagen, mit einem Senklot vorgenommen werden.

So sah man, wenn man durch eine der beiden Luken an Deck trat, die Schemen Moussons und Mommsens über die Reling am Bug gebeugt, wo sie Fahrmeter für Fahrmeter ihre mit Blei beschwerte Leine zu Wasser ließen und wenig später wieder einholten. Stunde für Stunde ging das so, ohne dass sich eine Verbesserung der Witterungsverhältnisse abzeichnete.

»3,50«, hörte man die fahle Stimme des Stewarts, und der Steuermann notierte die Angabe mit Bleistift in ein von Feuchtigkeit gewelltes, blaues Vokabelheft.

»3. -- 2,50. -- 3,20.«

Beide Männer kannten den Tiefgang ihres Schiffs und wussten, wieviel sie riskieren konnten. Ab und zu drehte Mousson sich um und signalisierte dem Kapitän auf der Brücke per Handzeichen, wie er das Steuerruder zu bewegen hatte. Sollte er in diesen Momenten von Sorge erfüllt gewesen sein, war nach außen hin nichts zu erkennen.

***

Die an Bord eingetretene Stille machte allerdings Keiner mehr zu schaffen als Kreszentia Rausch. Sie war eine Seele von Mensch, wenn es ihr gut ging; doch gut ging es ihr nur, wenn sie sich in einem lebhaften Umfeld bewegte. Was andere Menschen als Lärm empfanden, war für sie Quelle innerer Ausgeglichenheit und Ruhe. Das plötzliche Fehlen der gewohnten Klänge verursachte ihr körperliches Unwohlsein. In ihre Seele ließ sie ohnehin niemanden blicken.

Seit dem frühen Vormittag war auch der Empfang ihres geliebten Radios gestört. Für Kreszentia Rausch war damit die Grenze des Erträglichen erreicht. Niedergeschlagen schlich sie in der Küche auf und ab, rührte gedankenverloren in einem großen Kessel mit Suppe, ohne zu merken, dass sie die Herdplatte überhaupt nicht angestellt hatte. Als ihr dafür zum zweiten Mal Rosinas heiße Schokolade anbrannte, brach sie in Tränen aus.

 

Daraufhin stand Rosina auf, verließ, sehr zu Kreszentia Rauschs Verwunderung, die Kombüse und kehrte wenig später mit ihrem Vater zurück, der sich, mit einem Schraubenzieher bewaffnet, umgehend der Reparatur des defekten Apparats widmete.

Kreszentia Rausch lächelte verheult. Dieses Kind war wirklich ein Engel. Während Brovny arbeitete, leisteten sie ihm gemeinsam vom Küchentisch aus Gesellschaft.

»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Brovny, Sie haben in Ihrem Maschinenraum doch sicher alle Hände voll zu tun.«

»Na ja«, entgegnete Brovny, ohne aufzusehen. Er löste vier Schrauben und nahm die Frontverkleidung des Radios ab. Dann griff er nach dem Schraubenzieher und fuhr damit zwischen einen Strang bunter Kabel. Kreszentia Rausch sah ihm interessiert zu. »Glauben Sie nicht, es ist besser, wenn Sie zuerst den Stecker ziehen, bevor sie da so herumstochern?«

Brovny blickte missmutig auf. »Was halten Sie davon, wenn ich das mache, wovon ich etwas verstehe, und Sie das, wovon Sie etwas verstehen? Gegen schwarzen Tee hätte ich nämlich überhaupt nichts einzuwenden«, raunte er in seinem kantigen Deutsch. Mit der Spitze des Schraubenziehers prüfte er klopfend zwei nebeneinander liegende Platinen.

Kreszentia Rausch spürte, wie ihr Blutdruck stieg. Was bildete sich dieser ungehobelte Russe ein? Es mochte ja sein, dass man dort, wo er herkam, so mit Frauen umging. In ihrer Küche allerdings würde er sich andere Umgangsformen angewöhnen müssen.

Ihr Gedankengang wurde jäh unterbrochen.

Im selben Moment nämlich tat es einen gewaltigen Schlag. Aus dem geöffneten Radio schoß eine Stichflamme. Brovny brüllte kurz auf. Dann wurde es Nacht in der Küche.

Mit pochendem Herzen tastete Kreszentia Rausch sich bis zum Lichtschalter neben der Tür vor. Klick. Klack. Nichts.

Zum ihrem Glück verfügte die Kombüse über ein umfangreiches Arsenal an Kerzen. Kreszentia Rausch entzündete ein halbes Dutzend Teelichter auf dem Esstisch. Im zuckenden Licht der kleinen Flammen sahen sie die massige Gestalt des Maschinisten ausgestreckt auf dem Boden liegen. Besorgt beugten sie sich über den reglosen Körper.

»Herr Brovny?«

»Papa?”

***

»Was ist denn das?«

Johnny hatte in seiner Kabine auf dem Bett gelegen und in einem alten Anatomiebuch geschmökert, einer teuren Rarität, die seine Kollegen ihm zum Abschied geschenkt hatten. Ihm war ein wenig langweilig.

Medizinisch gesehen legten Lorna und er gerade eine Durststrecke zurück. Niemand hatte sich in letzter Zeit verletzt oder war anderweitig krank geworden. Auch das Meer war seit ein paar Tagen vollkommen ruhig.

Nach dem mehr als kräftezehrenden Einstieg war er jedoch keineswegs enttäuscht über die ruhigere Gangart. Die nächste Herausforderung käme bestimmt bald auf sie zu.

Er hatte ohnehin eine Weile gebraucht, sich von den Ereignissen in Cork und auch den verstörenden Erfahrungen mit dem mysteriösen Amulett zu erholen. Seitdem Mommsen ihn davor gewarnt hatte, es aus der Hand zu geben oder einem Fremden auch nur zu zeigen, hatte er es nicht mehr hervorgeholt. Es war besser so.

Baronesse von Adler hatte er seit dem Zwischenfall vor ihrer Kabine ebenfalls nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nicht, dass es ihn zu einem Wiedersehen drängte. Die Macht, die allein ihr Blick auf sein Empfinden ausgeübt hatte, brachte ihn noch immer zum Schaudern, wenn er daran dachte.

Was waren dies nur für sonderbare Menschen? Was war dies für ein sonderbares Schiff?

Soeben hatte er sich in eine Übersicht des menschlichen Skeletts aus dem Jahr 1888 vertieft, als mit einem Mal das Licht ausfiel.

Johnny legte den abgegriffenen Wälzer beiseite, stand auf und prüfte den Sitz der Glühbirne in ihrer Fassung. Er fand keine Auffälligkeit.

Woran lag es dann? Stromausfall?

Ohne Deckenlampe jedenfalls war es in der Kabine zu dunkel zum Lesen. Er überlegte. Dann würde er eben eine Weile an Deck gehen und sich dort die Zeit vertreiben. Frische Luft schadete nie.

Er griff nach seiner Jacke, die über dem Stuhl hing, und machte sich auf den Weg. Der Korridor lag ebenfalls im Dunkeln. An der Wand entlang arbeitete er sich Schritt für Schritt vorwärts. Noch kannte er den Flur nicht gut genug. Hinter der nächsten Ecke stieß er mit Lorna zusammen, die, mit einer Stabkerze bewaffnet, das selbe Ziel hatte.

»Auf diesem Schiff wird es irgendwie nie langweilig«, begrüßte sie ihn.

***

»2,90. -- 2,10. -- 1,80.«

Mommsen ließ ein ums andere Mal das Senklot ins Wasser gleiten, um es gleich darauf wieder einzuholen. Was er Mousson verkündete, gefiel diesem gar nicht.

»Noch ein paar verfluchte Zentimeter und wir hängen auf Grund. Da vorne, Mommsen, sehen Sie, wo das Wasser dunkler wird, verläuft die alte Fahrrinne. Wenn wir bis dort hin kommen, haben wir es geschafft.« Seine Miene verfinsterte sich. »Jemand, Mommsen, meint es nicht gut mit uns. Es ist, als söffe er uns das Wasser direkt unter dem Arsch weg.«

»2,50. -- 2,80. -- 3,40«, murmelte der Stewart.

Moussons Augenlid zuckte. »Hm«, sagte er überrascht, »sieht wohl doch so aus, als hätten wir diese verfluchten Untiefen endlich hinter uns.« Ein letztes Mal ließ Mommsen die Leine zu Wasser.

»4,80… ja, scheint mir auch so.«

Erleichtert rieb sich Mousson mit der Hand über das Kinn.

***

Im selben Moment, als Johnny und Lorna durch die enge Luke das Vorderschiff betraten, gingen im ganzen Schiff die Lichter wieder an. Sie tauschten verwunderte Blicke aus. Lorna löschte ihre Kerze, steckte sie, als sie ausgehärtet war, in die Jackentasche und schlenderte mit Johnny hinüber zur Reling, wo Mousson und Mommsen damit beschäftigt waren, die Schnur des Senklots über einer Spule aufzurollen. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet. Von den nahen Inseln allerdings war nach wie vor nichts zu sehen.

Die Tür der Luke schepperte erneut.

Brovny enterte mit Rosinas Hilfe das Oberdeck. Johnny ging lächelnd auf ihn zu. »Ihre phänomenale Heilung ist mir nach wie vor ein großes Rätsel, lieber Herr Brovny…«

Brovny starrte desorientiert an ihm vorbei.

Johnny fuhr fort: »Womit ich keinesfalls zum Ausdruck bringen möchte, dass ich mich nicht sehr darüber freue.« Er reichte Brovny die Hand, drückte sie fest und wunderte sich, dass sein Gegenüber kaum darauf reagierte. Brovnys Pranke steckte wie ein toter Fisch zwischen seinen Fingern. »Geht es Ihnen nicht gut, Herr Brovny?«

Der schüttelte den Kopf. »Alles gut.«

»Sind Sie sicher? Sie machen mir, ehrlich gesagt, einen etwas geschwächten Eindruck. Dafür brauchen Sie sich nicht zu schämen. Bei ihrer Vorgeschichte grenzt es ohnehin an ein Wunder, dass Sie überhaupt aufrecht gehen können. Legen Sie sich lieber ein bisschen hin.« Er schickte sich an, Brovny stützend unter den linken Arm zu greifen. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen wieder nach unten.«

»Nein, Doktor, lassen Sie, wirklich, es ist alles in Ordnung. Das macht… macht nur das Wetter.« Brovny löste sich aus seinem Griff und stapfte, die eine Körperhälfte auf seine verdrehte Gehhilfe gestützt, hinüber zu Rosina, die in einem dunkelblauen Kleid und mit einer roten Strickmütze auf dem Kopf über die Aufbauten des Vorderdecks turnte.

Johnny kehrte zurück zu Lorna. Sie betrachteten abwechselnd die silberglatte Oberfläche des Meeres und das ausgelassen spielende Kind. Mousson und Mommsen machten sich mit ihrer Ausrüstung auf den Weg zur Brücke. Neben Johnny und Lorna blieben sie kurz stehen. Mousson kniff die Augen zusammen und sah schweigend auf das Wasser.

»Wenn ich mich nicht irre, sind wir nicht mehr weit entfernt von Scapa Flow

»Scapa Flow

»Ja, Doktor, Scapa Flow. Schon einmal gehört?”

»Wenn ich ehrlich bin, nein.«

»Scapa Flow heißt die Bucht, die von den Inseln Mainland, Hoy und South Ronaldsay eingeschlossen wird. Gehören alle drei zu den südlichen Orkneys, ganz hier in der Nähe. Eigentlich ein beschaulicher Flecken Erde… wenn… ja, wenn da nur diese Dinge nicht wären…«