Elmsfeuer

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2. Raue See

In der folgenden Nacht fand Johnny, so sehr er sich auch anstrengte, kaum Schlaf. Bilder und Gedanken verschmolzen in seinem Gehirn zu einem albtraumhaften Amalgam. Mehrmals ließ ihn das vermeintliche Knacken berstender Oberschenkelknochen aus seinem Dämmerzustand hochfahren. Doch es waren nur die Atemgeräusche des stählernen Kolosses, in dessen Bauch er sich befand, die ihn umtrieben.

Sie fuhren in schwerer See. Das Schiff rollte ächzend von einer Seite zur anderen und zitterte, wenn ein Brecher es frontal erwischte.

Johnnys Magen rumorte.

Was war das für ein Schiff, auf dem er da angeheuert hatte? Er sah auf seine Armbanduhr, die er neben die Koje auf den Boden gelegt hatte.

Fünf Uhr. Bald kam der Morgen, und er hatte nicht länger als eine halbe Stunde am Stück geschlafen.

Eine besonders große Welle ließ das Schiff beben. Johnnys Magen krampfte sich erneut zusammen. Er ließ sich zurück auf das zerwühlte Kopfkissen sinken und starrte, die Zähne fest aufeinander gepresst, an die Decke. Konzentration, dann ginge die Übelkeit von allein. Kam er nicht aus einer Seefahrerfamilie? Sein Großvater, sein Vater. Beiden hatte das Meer nicht sonderlich viel Glück gebracht. Er bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Sobald er jedoch die Lider schloss, wiederholte sich vor seinem inneren Auge die Operation vom Nachmittag, Schritt für Schritt, Szene für Szene. Er hatte wirklich ein Bein amputiert, mit einer Handsäge, in einem Raum von zweifelhaftem hygienischen Niveau. Doch sein Patient hatte überlebt. Nein, er hatte nicht nur überlebt. Er hatte sich binnen weniger Minuten so weit erholt, dass er aufstehen und die Krankenstation verlassen konnte. Auf eigenen Beinen. Ein medizinisches Wunder? Irrsinn?

Johnnys Hirn arbeitete auf Hochtouren. Wer war das kleine Mädchen, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war? Brovnys verschwunden geglaubte Tochter Rosina? Hatte sie ihren Vater ins Leben zurückgeholt? Durch bloßes Handauflegen? Das war völlig unmöglich. Auch hier an Bord hatten Naturgesetze zu gelten und medizinische Erfahrungswerte. Alles andere war absoluter Humbug. Wie schnell man auf so einem Schiff abergläubisch wurde.

Durch das Bullauge erkannte er erste Anzeichen der nahenden Dämmerung. Wieder knackten die metallenen Streben. Die See wütete nach wie vor. Gischt peitschte gegen die doppelt verglaste Scheibe. Wie weit sie sich wohl inzwischen von der deutschen Küste entfernt hatten? Johnny erhob sich schwerfällig und sah aus dem Fenster. Weit und breit war kein Land mehr zu sehen. Nur Berge und Täler aus grauem Wasser, hinter denen sich mächtig der wolkenverhangene Himmel abzeichnete.

Hier war er jetzt also, auf hoher See, und hier würde er bleiben müssen. Ob es ihm passte oder nicht.

Er griff nach dem schwarzen Smartphone auf dem Tisch und drehte es unschlüssig in der Hand. Wie sehr er sich danach sehnte, eine vertraute Stimme zu hören. Aber wen konnte er um diese Zeit schon anrufen?

Einen seiner ehemaligen Kollegen, der gerade Frühdienst hatte? Diese Blöße würde er sich nicht geben. Seine Mutter? Auf keinen Fall. Sie schlief vermutlich noch. Außerdem würde er sie mit seinem Anruf zu Tode ängstigen. Sie mochte das Meer nicht. Aus nachvollziehbaren Gründen. Weinend hatte sie ihn angefleht, auf Knien angebettelt, nicht zu tun, was er zu tun vorhatte. Er war trotzdem gegangen, hatte einem inneren Drang nachgegeben, bis hierher, bis zu dem Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab.

Ihm kam ein Gedanke. Er schaltete das Handy ein, lud eine Emailmaske auf das Display, wählte einen Adressaten aus und begann, zaghaft zunächst, dann immer leichthändiger zu tippen:

»Sehr geehrter Herr Professor Block,

ich hoffe, Sie legen es mir nicht als schlechtes Benehmen aus, wenn ich bereits jetzt auf Ihr freundliches Angebot zurückkomme, Sie per Email an meinem Leben an Bord der Elmsfeuer teilhaben zu lassen. Wie Sie unschwer erkennen können, ist es noch sehr früh am Morgen. Allerdings habe ich schon in der kurzen Zeit meiner Anwesenheit hier mehr erlebt, als in einer überdurchschnittlichen Woche auf der Unfallchirurgie. Sie werden mir vermutlich nicht glauben, wenn ich Ihnen schreibe, dass…« Er hielt inne. Was war das gewesen? Er spitzte die Ohren. Tatsächlich.

Durch das Ächzen des Schiffs und das Heulen des Windes vernahm er eine leise Stimme, ganz in seiner Nähe. Es war die Stimme einer Frau. Allem Anschein nach kam sie von jenseits der dünnen Wand, die seine Kabine von der angrenzenden Krankenstation trennte. War es Lorna, die Krankenschwester? Wenn ja, was tat sie dort? Wenn sie Brovny einen Krankenbesuch abstatten wollte, würde sie ihn doch in seiner Kabine finden. Das wusste sie. Wer aber war es dann? Dieses kleine Mädchen, Rosina? War sie zurückgekehrt, weil sie irgendetwas vergessen hatte? Johnny tastete die Taschen seiner über einen Stuhl gehängten Hose ab. Die Kette mit dem Anhänger war noch da.

Vermutlich irrte er sich. Er hatte den Raum doch abgeschlossen. Da war er sich sicher. Rosina konnte also unmöglich hinein gelangt sein.

Oder doch? Aber, mit wem sprach sie dann dort?

Er verschob die angefangene Email in den Ordner für Entwürfe, legte das Smartphone zurück auf den Tisch und fuhr rasch in seine Hose und ein Paar Filzpantoffeln. Wieder hörte er die Stimme durch die Wand.

Gleichmäßig. Ruhig. Es half nichts, er musste nachsehen gehen. Auf dem Weg zur Tür griff er nach einer vollen Flasche Mineralwasser. Er fasste den Glaskörper am Hals und schlug mit dem Flaschenbauch mehrmals sanft auf seine Handfläche, als handle es sich dabei um einen Baseballschläger. So bewaffnet öffnete er vorsichtig die Kabine und verschwand barfuß hinaus auf den finsteren Korridor.

***

Schritt für Schritt tastete er sich auf den kalten Eisenplanken vorwärts. In der Dunkelheit ließ sich kaum die Hand vor Augen erkennen. Erneut hörte er die Stimme. Es war kaum mehr als ein Flüstern, das an Stärke zunahm, wenn das Heulen des Windes draußen für einen Moment abschwoll. Vorsichtig wanderte seine freie Hand über die Wand, um die Türklinke der Krankenstation nicht zu verpassen. Warum hatte er keine Taschenlampe? Ah, da war die Klinke! Er verstärkte den Griff um die Flasche. Durch das Schlüsselloch unterhalb des Türgriffs schien schwaches Licht. Er ging in die Hocke und spähte hindurch. Das Innere des Raums war von einem matten, grünen Schimmern erfüllt. Eine Person konnte er aus seiner Position nicht ausmachen. Seine Schläfen pochten. Da war die Stimme wieder. Sie klang beinahe zärtlich. Johnny vermochte nicht, einzelne Worte herauszuhören. Aber er erkannte nun, wer da sprach. Ohne anzuklopfen, öffnete er geräuschlos die Tür.

***

Mit dem Rücken zu ihm kniete Lorna auf dem nackten Boden. Sie war lediglich mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. Ihre Hände strichen sanft über die Blätter einer Topfplanze, die vor ihr auf dem schmalen Gesims am Fenster stand.

Nun konnte er es genau hören: Lorna sprach nicht im eigentlichen Sinne. Was ihrem zierlichen Körper entströmte, war vielmehr ein monotones Singen, ähnlich den Beschwörungen indianischer Schamanen. Ihm fiel auf, dass das schwache Licht im Raum von keiner der Lampen kam. Es war einfach da, milchig und grün.

Während Lorna fortfuhr, die Blätter der Pflanze zu streicheln, wiegte sie ihren Oberkörper gleichmäßig vor und zurück. Noch hatte sie Johnny nicht bemerkt, obwohl er, keinen Meter entfernt, hinter ihr stand.

Er räusperte sich.

Augenblicklich verstummte der Gesang. Lorna fuhr erschrocken herum. Ihre Züge entspannten sich, als sie erkannte, mit wem sie es zu tun hatte. Das Licht im Raum verglomm.

Johnny tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür und knipste ihn an.

»Ach, Sie sind es, Dr. Elm.«

»Ja, ich bin es.« Er lächelte verlegen. »Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe nebenan eine Stimme gehört und wollte sichergehen, dass es keine Einbrecher sind, oder…«

»Blinde Passagiere?« Beide lachten erleichtert.

»Was treibt Sie denn zu dieser Zeit auf unsere Krankenstation?«

Lorna rieb sich müde die Augen. »Ich konnte nicht schlafen und dann fiel mir ein, dass ich… Eleonora gestern ziemlich vernachlässigt habe.«

»Eleonora?«

»Ja. Meine Alraune.«

»Ihre Topfpflanze hat einen Namen?«

»Alraunen sind keine Topfpflanzen. Sie sind hochsensibel und brauchen viel Zuwendung… deshalb singe ich hin und wieder für sie. Das tut ihr gut und lässt ihre Blätter wachsen.«

Johnny schwieg.

»Ihr Schlaf scheint aber auch nicht der beste zu sein, wenn sie derart hellhörig sind.«

»Nun ja, wenn ich ehrlich bin, leide ich ein bisschen an Seekrankheit.«

»Ihnen ist übel?« Er nickte.

Lorna lächelte versonnen. »Welch glückliche Fügung, dass sie mit Ihren Beschwerden umgehend zu mir gekommen sind.«

»Wie meinen Sie das?«

»Hm, ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Warten Sie einen Moment.« Sie ging erneut vor ihrer Pflanze auf die Knie. Ohne hinzusehen nahm sie eines der Skalpelle von der Ablage, entpackte es und brachte mit der Klinge einen kurzen, länglichen Schnitt an einem der Blattstiele an.

Während sie dies tat, verfiel sie erneut in ihren fremdartigen Gesang. Eine grünliche Flüssigkeit trat aus der Wundöffnung der Alraune aus. Lorna fing einige Tropfen davon mit einem Reagenzglas auf. Dann füllte sie den verbliebenen Platz mit Natriumchloridlösung auf, schüttelte das Röhrchen sanft, um beide Flüssigkeiten zu vermischen, und reichte es Johnny. »Hier, trinken Sie das. Es wird Ihnen helfen.«

Zögernd griff er nach dem Glas. Lorna zwinkerte ihm aufmunternd zu.

 

»Vertrauen Sie mir.«

Er führte das Röhrchen zum Mund und trank es in einem Zug leer. Dann warteten sie.

Zunächst spürte er nichts. Eine halbe Minute verging. Dann noch eine. Schließlich fühlte er, wie seine Fingerspitzen zu kribbeln begannen.

Langsam, Zentimeter für Zentimeter, breitete das anregende Gefühl sich über seinen gesamten Körper aus. Als es seinen Magen erreichte, machte sich eine große Wärme in ihm breit, die vom Bauch in alle Extremitäten ausstrahlte. Der rauschhafte Zustand währte jedoch nicht lange. Von einer Sekunde zur anderen war der Zauber wieder verschwunden. Und mit ihm die Übelkeit. Er sah Lorna verwundert an und strich sich ungläubig über den Bauch.

»Und?«, fragte sie.

»Weg. Die Übelkeit ist verschwunden.«

»Und das wird sie auch bleiben… glauben Sie mir«. Lorna lächelte wieder.

»Wie wundervoll sie aussieht, wenn sie so lächelt«, dachte Johnny, und sagte: »Ich danke Ihnen wirklich sehr, dass…«

»Danken Sie nicht mir, danken Sie Eleonora.«

Er errötete, kam sich plötzlich wie ein pickeliger Schuljunge vor, der in Anwesenheit der makellosen Klassenschönheit ein Gedicht aufsagen soll. »Ich danke… Eleonora… und…«

Es klopfte leise an die Tür.

»Ja?«

Die beiden Touristen kamen, notdürftig in identisch aussehende Bademäntel gehüllt, fröstelnd den Raum. Ihre Gesichter zeigten einen zarten Grünstich. Johnny schmunzelte. »Lassen Sie mich raten: Sie haben die Seekrankheit?«

Die Zwei nickten gequält. Johnny drehte sich zu Lorna um. »Frau Hoy, haben wir eventuell etwas im Arzneimittelschrank, mit dem wir die Kinetose unserer Patienten lindern können?«

Lorna gab ihm eine schmale, rot-weiße Pappschachtel.

»Ah, das gute, alte Scopolamin. Damit haben mich meine Großeltern als Kind immer therapiert, damit ich ihnen auf langen Fahrten nicht die Autositze, Sie verzeihen den Ausdruck, vollkotze.«

Das Paar nahm die Schachtel dankbar entgegen. »Seien Sie sparsam damit«, rief Johnny ihnen, als sie gingen, nach. »Von zu vielen Tabletten wird einem ebenfalls übel…«

Lorna klappte die Tür des Arzneimittelschranks wieder zu, da erhielten sie weiteren Besuch.

»Lassen Sie das Türchen bitte gleich auf…« Die Stimme war tief und rau. Brovny stützte seinen schweren Körper auf eine zur Krücke umfunktionierte rostige Metallstange. Sein weißer Verband zeigte wider Erwarten keine Spuren von Wundflüssigkeit. Er humpelte an ihnen vorbei, setzte sich auf die Untersuchungsliege und legte sorgfältig die Gehhilfe neben sich.

Johnny fragte sich verdattert, ob dies wirklich der selbe Mann war, dem er ein paar Stunden zuvor eine zertrümmerte Gliedmaße abgenommen hatte.

»Hm, in der Regel pflege ich, meinen Frischamputierten Besuche abzustatten«, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte, »aber wo Sie nun schon einmal hier sind…«

Lorna unterbrach ihn. Ihre Stimme klang besorgt. »Haben Sie Schmerzen?«

Brovny nickte.

Lorna seufzte mitfühlend. »Das ist auch wirklich kein Wunder… schließlich haben Sie…«

Brovny massierte sich das stoppelige Kinn. »Mein Kopf explodiert gleich. Sie müssen mir unbedingt ein paar Pillen geben…«

Johnny und Lorna sahen einander irritiert an. Hatte der Mann soeben von Kopfschmerzen gesprochen?

»… das kommt von dem dauernden Lärm der Maschine… kein Schädel hält das auf Dauer aus… ot gavno!«

Lornas Blick wanderte von Johnnys ratlosem Gesicht hinüber zu Brovnys strahlendweißem Beinstumpf, der von der Liege aus waagrecht in den Raum ragte.

»Aspirin…?«, hauchte sie.

»Ja. Sehr gerne«, mischte sich vom Eingang her eine weitere Stimme in ihr Gespräch ein. Dort stand, bereits zu so früher Uhrzeit in äußerlich tadellosem Zustand, Putzi Mommsen. »Mein Zusammenprall mit diesem unerfreulichen Stahlträger«, jammerte er, »scheint mir überhaupt nicht gut bekommen zu sein.« Er hielt sich den Kopf und schien sich überhaupt nicht darüber zu wundern, dass der vor kurzem dem Tod entronnene Brovny wohlauf vor ihm saß.

Lorna war von all dem so verwirrt, dass sie Mommsen die für Brovny gedachte Dose Tabletten aushändigte.

»Haben Sie vielen Dank, Frau…«

»Hoy«, sagte Lorna.

« Hoy«, wiederholte Mommsen, »den Namen muss ich irgendwo schon einmal gehört haben, nun ja, jetzt muss ich aber auch schon weiter. Die Pflicht ruft. Baronesse von Adler kann sehr ungemütlich werden, wenn ihre 6 ½ -Minuten-Eier, die in der Küche hoffentlich bereits auf mich warten, sie kalt erreichen.« Sein Blick streifte Johnny, der überhaupt nichts mehr verstand. »Wenn Sie wollen, Herr Doktor, können Sie mich begleiten und ich zeige Ihnen die Elmsfeuer. Die frische Luft an Deck wird Ihnen gut tun. Und glauben Sie mir, die Luft ist dort oben momentan sehr frisch.« Er grinste, als er Johnnys verdattertes Gesicht sah.

»Natürlich habe ich Zeit für eine Führung! Ich bin vorübergehend ein wenig unterfordert, was vermutlich an den nur drei zahlenden Passagieren liegen. Und Zweien davon ist momentan nicht nach Frühstück.« Er rümpfte die Nase. »Man fragt sich allerdings, wieso erwachsene Menschen sich nicht in die dafür vorgesehenen Gefäße übergeben können.« Er machte eine Pause. »Nun, wie sieht es aus, Herr Doktor?«

Johnny wandte sich hilfesuchend an Lorna. Die lächelte erschöpft. «Ich kümmere mich um Herrn Brovny, solange Sie unterwegs sind, mache einen Verbandswechsel – und wenn Sie wiederkommen, besprechen wir die weitere Medikation. In Ordnung? Kopfschmerztabletten darf ich ja auch ohne Ihre Einwilligung verabreichen, nicht wahr?«

Johnny nickte ergeben. Mommsen drängte zum Aufbruch.

Zügig verließen sie das Krankenzimmer und gingen dicht hintereinander den Korridor entlang, an dessen Ende sich die Treppe befand, die ein Deck höher in den vorderen Kabinentrakt führte. Durch ein Bullauge fiel trübes Morgenlicht, und Johnny bemerkte, dass er immer noch sein Pyjamaoberteil und Filzpantoffeln trug.

***

»Und, konnten Sie sich schon ein wenig hier eingewöhnen?« Mommsen drehte sich im Gehen zu ihm um.

»Wie man´s nimmt«, gähnte Johnny. »Ich hatte mir meinen Einstand, ehrlich gesagt, etwas ruhiger vorgestellt. Kein Arzt beginnt seinen Dienst auf neuem Posten gerne mit einer Notoperation…«

Mommsen lachte ein meckerndes Lachen, das so gar nicht zum Ernst dieser Worte passte.

»… aber ich gehe auch davon aus, dass solche Zwischenfälle nicht den Normalzustand an Bord darstellen…« Johnny rieb sich schläfrig den Nacken. »Was mich allerdings wundert, ist die Leichtfertigkeit, mit der Herr Mousson und der Kapitän die schwere Verletzung von Herrn Brovny übergangen haben…«

Mommsen entgegnete nichts. Schweigend gingen sie über Deck. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, und die See war ruhiger als noch in den Stunden zuvor. Eine Gruppe Möwen umkreiste kreischend den Ladekran. Durch die Wolkendecke brach ein dünner Sonnenstrahl.

»Die Möwen denken aus irgendeinem Grund, dass wir ein Fangschiff sind, und hoffen auf frischen Fisch«, erklärte Mommsen und deutete mit der Hand nach oben. Und als habe er Johnnys unausgesprochene Gedanken gehört, ergänzte er: »Die Elmsfeuer war ursprünglich ein Forschungsschiff… sie ist Baujahr 1952… und somit also bereits eine ältere Dame, die…«

»Welche Art Forschungen denn?«, unterbrach Johnny ihn.

Mommsen aber schien ihn nicht gehört zu haben. Denn er sagte: »Im Vergleich zu einem Frachter verfügt unser Schiff über eine deutlich geringere Bruttoregisterzahl… was ich allerdings nicht für einen Nachteil halte. So ist eben alles ein bisschen überschaubarer… und wendiger… da vorne sehen Sie übrigens die Brücke… das Reich unserer Admiralität, wie ich immer scherzhaft sage…« Mommsen beschleunigte seinen Gang.

»Jetzt sollten wir aber zusehen, dass wir in die Küche kommen… das Frühstück für die Baronesse, Sie verstehen…« Er zwinkerte Johnny zu.

»Haben Sie heute eigentlich schon etwas gegessen?«

Johnny schüttelte den Kopf. Erst jetzt spürte er die unangenehme Leere in seinem Magen.

***

Kreszentia Rausch schüttelte den Kopf. »Wenn das mit dem Seegang so weitergeht, müssen wir bald alle aus einer Tasse trinken und von einem Teller essen, was denkst du?« Sie sah amüsiert hinüber zu Rosina, die auf der für sie viel zu großen Eckbank hinter dem Küchentisch saß und ihre Nase in einen Becher heißer Schokolade steckte. Dann kippte sie einen letzten Haufen Scherben aus der Handschaufel in den Mülleimer und stellte die Kehruntensilien zurück an ihren Platz. Das Radio auf der Anrichte lief in voller Lautstärke.

»Sie hören die Morgennachrichten auf Kanal 5 MF. In diesem Moment ist es 6 Uhr 30.«

Die Tür ging auf. »Wenn Sie so freundlich wären, Ihre Beschallung auf ein menschenerträgliches Maß zu reduzieren, könnten Herr Dr. Elm und ich uns sogar vorstellen, in ihrer beschaulichen Küche einen Kaffee einzunehmen. Ist das Frühstück für Baronesse von Adler bereits abholbereit?«

Kreszentia Rausch verdrehte die Augen. »Da, wo ich herkomme, sagt man erst einmal `Guten Morgen´, wenn man um diese Uhrzeit auf Leben trifft, Sie grober Klotz. Angeblich sind Sie doch so gut erzogen.« Mommsen verzog keine Miene.

Johnny ließ seinen Blick durch den für ihn neuen und unerwartet gemütlichen Raum schweifen. Der Geruch von frischgebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase. Hier fühlte er sich auf Anhieb wohl.

»Die Eier brauchen noch zwei Minuten.« Kreszentia Rausch musterte Johnny mit argwöhnischem Blick: seine zerknitterte Pyjamajacke, die, das fiel ihm erst jetzt auf, mit Brovnys Blut bespritzte Jeans und seine abgetragenen Filzpantoffeln.

»Sie sind also dieser Dr. Elm«, brummte sie. Johnny fuhr seine rechte Hand zum Gruß aus, zog sie aber verunsichert wieder zurück, als Kreszentia Rausch sie nicht ergriff. »Von Ihnen hört man ja die reinsten Wundergeschichten…«

Verlegen stammelte Johnny etwas Unverständliches.

Kreszentia Rausch grinste. »Da haben Sie Recht. Wir unhöflich von mir. Setzen Sie sich bitte einfach dorthin. Ich bringe Ihnen gleich einen Kaffee.« Und mit einer abschätzigen Handbewegung in Mommsens Richtung fügte sie hinzu: »Wenn es unbedingt sein muss, machen Sie halt das Radio ein bisschen leiser, Sie Misanthrop.« Sie knallte eine dampfende Tasse vor Johnny auf den Tisch und wandte sich dann wieder dem Herd zu. Ein wenig unbeholfen fischte sie zwei Frühstückeier aus einem Topf und schreckte sie kurz unter kaltem Wasser ab.

»Sssso. Das Frühstück für Baronesse von Adler ist komplett.« Sie überreichte Mommsen ein üppig beladenes Tablett. »Mit den besten Wünschen vom, ähm, Smutje an den Hochadel.«

Mommsen dankte Krezentia Rausch mit einem strengen Nicken und machte Johnny, der seinen Kaffee erst zur Hälfte getrunken hatte, ein Zeichen, mit ihm zu kommen.

Johnny musterte gerade fasziniert das kleine Mädchen auf der anderen Tischseite, das, wie bei ihrem letzten Treffen, keine Notiz von dem zu nehmen schien, was um es herum vorging.

»Herr Doktor, wir müssen…«

Er erhob sich widerwillig und folgte Mommsen zur Tür. Kreszentia Rausch drehte das Radio wieder auf.

»Am Telefon begrüßen wir nun ganz herzlich den Meteorologen und Klimaforscher Prof. Dr. Volker Hagemann. Herr Hagemann gilt als internationale Kapazität für extreme Wetterphänomene. Er wird Ihnen, unseren Zuhörern, nun erläutern, wie es am gestrigen Abend zur Bildung der inzwischen aufgelösten Superzelle über dem Hamburger Hafen kommen konnte. Wegen der erhöhten Gefährdungslage dürfen bis zum aktuellen Zeitpunkt keine Schiffe den Hafen verlassen. Das Verbot gilt seit gestern Nachmittag und wird von der Hafenpolizei streng überwacht…«

»Kein Schiff… den Hafen verlassen… und die Elmsfeuer?«, murmelte Johnny und überlegte, ob er Mommsen danach fragen sollte. Doch der war bereits seinem Sichtfeld entschwunden. Er musste sich beeilen, ihn wieder einzuholen.

***

»Ich denke, es ist besser, Sie warten kurz vor der Tür. Ich bin mir nicht sicher, ob Frau von Adler sie in diesem Aufzug empfangen wird.« Johnny sah an sich hinunter und nickte. Mommsen balancierte das schwere Tablett geschickt mit der rechten Hand, während er mit der linken anklopfte. Als er, ohne eine Rückmeldung erhalten zu haben, die Tür öffnete, trat Johnny einen Schritt zur Seite, um mit seinem Äußeren nicht von Adlers ästhetisches Empfinden zu verletzen. Die Tür schnappte hinter Mommsen ins Schloss.

Johnny ging wartend vor der Kabine auf und ab. Seine Hände fuhren aus alter Gewohnheit in die Hosentaschen. Er spürte das Amulett, das er am Vortag gefunden hatte, und zog es an seiner Kette heraus.

 

Eine sonderbare Schmutzschicht überzog das Metall. Auch diesmal gelang es ihm nicht, mit den Fingernägeln etwas davon abzukratzen. Dafür ging plötzlich eine Veränderung in ihm vor. Ihm wurde heiß. Und Sekunden später bitterkalt. Er fühlte, wie Jemand sich ihm näherte, Jemand, den er kannte oder zumindest zu kennen glaubte. Aber wieder war niemand zu sehen. Eine tiefe Melancholie erfasste ihn, die ihn zittern und sich gleichzeitig wünschen ließ, dieser Zustand vollkommener Geborgenheit möge niemals enden. Erschrocken ließ er das Amulett zurück in die Hosentasche rutschen. So unvermittelt, wie es gekommen war, war das Gefühl wieder verschwunden.

Starr stand Johnny in der Mitte des Korridors. Mit dem Pyjamaärmel wischte er sich das Wasser aus den Augen.

Die Tür wurde wieder geöffnet, und Mommsen kehrte zurück. Für ein paar Sekunden hatte Johnny freie Sicht ins Kabineninnere. Im hinteren Teil des Raums stand eine Frau in dunklem Kostüm. Ihre Augen blickten direkt in seine. Und plötzlich war ihm, als finge er an zu brennen. Er strauchelte. Sein Herz schlug so fest, dass er meinte, es müsse in seiner Brust explodieren. Er wäre zu Boden gegangen, hätte Mommsen ihn nicht erschrocken aufgefangen. Mit einem Klicken fiel die Tür ins Schloss.

»Doktor, was ist mit Ihnen? Hallo? Hören Sie mich?« Mommsen war vor Schreck selbst ganz blass.

Johnny hörte seine Worte wie durch eine Wand. Er bemühte sich, ruhig zu atmen. Sein Herzschlag verlangsamte sich allmählich, und er löste sich schwankend aus Mommsens Griff. »Danke… Herr… Mommsen. Es… geht wieder. Der Seegang… und das fehlende Frühstück. Es war wahrscheinlich nur der Kreislauf… nur… der Kreislauf…«

***

»Captain, sehen Sie mal, wer dort mit zwei Tassen über das Deck marschiert kommt. Mommsen hat unseren Tee also doch nicht vergessen. Und unseren frischgebackenen Helden hat er ebenfalls im Schlepptau. So grün ist er scheinbar doch nicht, dieser junge Arzt. Wie man sich anzieht, weiß er zwar nicht… aber was er da gestern mit Skalpell und Säge zustande gebracht hat, war wirklich nicht von schlechten Eltern.«

Von der Metalltreppe, die auf die Brücke führte, hallten Mommsens und Johnnys Schritte wider.

Mommsen betrat den Kommandostand als erster.

»Gentlemen«, sagte er, »hier kommt, wie bestellt, der frischgebrühte Morgentee.« Er trug die nach Bergamotte duftenden Tassen feierlich zum Kartentisch und stellte sie vorsichtig ab.

Mousson nahm sofort eine davon und trank. »Ihre gute Laune ist ja wieder einmal unerträglich, Mommsen… aber der Earl Grey ist… vorzüglich… bei der Wahl unseres neuen Smutjes haben wir offenbar ein gutes Händchen bewiesen, Captain.« Er lachte.

Mommsen quittierte Moussons Spitze mit einem übertriebenen Diener. Der Steuermann wandte sich an Johnny: »Und Sie, Doktor, ist bei Ihnen alles in Ordnung? Sie sind ein wenig blass um die Nase.«

Johnny nickte. Sein Magen knurrte.

»Das war wirklich eine Glanzleistung, die sie da gestern vollbracht haben, mein Lieber. Der Captain und ich sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Nicht auszudenken, was aus unserer Elmsfeuer würde, wenn wir nicht den alten Brovny hätten, der ihr hin und wieder den Herzmuskel massiert.«

Das Lob machte Johnny verlegen. »Es freut mich sehr, das zu hören, Herr Mousson. Dabei habe ich allerdings nicht mehr getan als meine ärztliche Pflicht…« Er zögerte. »Und nicht zuletzt hatte ich die Unterstützung von…«

»Ihre Bescheidenheit ehrt Sie, Doktor… bei Frau Hoy werden wir uns natürlich ebenfalls bedanken… aber sagen Sie… wie geht es Brovny denn inzwischen?«

Johnny gab einen kurzen Bericht über das erfreuliche Resultat der Operation und betonte mehrmals, wie verblüffend der unerwartet schnelle Heilungserfolg war. Zum Schluss wollte er die Chance nutzen, darauf hinzuweisen, dass es sehr fahrlässig gewesen war, den frischoperierten Brovny nicht in ein Krankenhaus bringen zu lassen.

Doch er wurde von Mousson rüde unterbrochen. »Vielen Dank, Doktor, das ist wirklich schön zu hören.« Der Offizier wandte sich wieder dem Kartentisch zu und schenkte ihm keine weitere Beachtung mehr.

Johnny spürte Ärger über dieses arrogante Verhalten in sich aufsteigen. Doch er schluckte ihn wieder hinunter. Reglos verfolgte er eine Weile stumm das Geschehen. Mousson ließ sich von Mommsen Bericht über alle weiteren Vorgänge und Befindlichkeiten an Bord erstatten.

Abschließend erörterte er mit dem Stewart den Kursverlauf. Sie würden am folgenden Tag den Hafen von Cork erreichen. Dort, an der Südspitze Irlands, hätten sie wegen eines Liefergeschäfts der erste Landgang geplant. Worum es sich beim dem Liefergeschäft handelte, erwähnte Mousson dabei mit keiner Silbe, und Mommsen hakte, wie Johnny enttäuscht feststellte, nicht weiter nach.

Als er mit seinen Ausführungen am Ende war, drehte Mousson sich einfach um und vertiefte sich in eine der Seekarten, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Mommsen wartete eine Weile schweigend auf weitere Anweisungen. Als keine kamen, gab er Johnny ein Zeichen, ihm zu folgen.

***

Als sie ins Freie traten, atmete Johnny tief durch. Die Atmosphäre eben hatte, obwohl nichts wirklich Schlimmes vorgefallen war, etwas sehr Unangenehmes gehabt. Während er hinter Mommsen die Treppe hinunter ging, spielte er gedankenversunken mit dem Amulett in seiner Tasche.

Vielleicht wusste Mommsen, was für ein Schmuckstück das war, und vielleicht auch, wem es gehörte.

Konnte er sich diesem Mann anvertrauen, der zwar freundlich zu ihm war, den er aber kaum kannte?

Was, wenn Kette und Anhänger ein Geheimnis bargen, das er besser für sich behielt? Er hatte nicht vergessen, welche Gefühle es in ihm auszulösen vermochte. Seine Hand in der Tasche schloss sich zur Faust. Er musste es wagen. Was hatte er zu verlieren? Die Art, wie sein Körper und sein Geist auf dieses Ding reagierten, machte ihm Angst.

Und diese Angst wollte er, musste er loswerden.

Mommsen bemerkte die Veränderung an ihm. »Ist etwas mit Ihnen, Dr. Elm? Wieder der Kreislauf?« Er machte ein ernsthaft besorgtes Gesicht. Johnny gab sich einen Ruck. »Darf ich Sie etwas fragen, Herr Mommsen?«

Mommsen sah ihn erwartungsvoll an. »Natürlich. Nur zu.«

Johnny zog langsam die Kette aus seiner Hosentasche und hielt das Amulett vor Mommsens Gesicht. »Ich habe…«, sagte er, doch weiter kam er nicht. Wie paralysiert starrte der Stewart auf den Anhänger vor seinen Augen. Sein Körper fing an zu zittern. Seine Lippen begannen, Worte zu formen, bevor sein Mund in einem stillen Schrei erstarrte. Johnny wusste nicht, was er tun sollte. Panik überkam ihn. Was war das nur für ein fürchterliches Teil, das er da gefunden hatte? Einem jähen Instinkt folgend riss er seine Hand nach unten und steckte den Anhänger hastig zurück in die Tasche.

Kaum war das geschehen, besserte Mommsens Zustand sich schlagartig. Das Zittern verschwand. Gierig sogen seine Lungen Luft ein. Kaum jedoch war er wieder Herr seiner Sinne, sah er sich um, als fürchte er, beobachtet zu werden. Dann packte er Johnny am Arm und hauchte: »Das… sollten Sie hier besser… niemandem mehr zeigen… haben Sie mich verstanden? Geben Sie es niemals aus der Hand und zeigen Sie es… niemandem…«