Elmsfeuer

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»In drei Teufels Namen, Brovny! Was ist passiert?« Mousson schob sich mit blutverschmierter Hand die Offiziersmütze in den Nacken.

»Blut… es ist… alles voller Blut«, stammelte die junge Frau. Ihr Atem ging flach und stoßweise. Ihr Mann starrte apathisch auf die dunkelrote Lache, die sich langsam über den Fußboden ausbreitete. Er schien wie gelähmt.

Von Adler hob rasch die Cognacflasche auf, entkorkte sie und reichte sie Mousson. »Hier… geben Sie Herrn Brovny einen Schluck davon. Das wird ihn beruhigen.«

Brovny stierte glasig in von Adlers Richtung. Gierig griff er nach der Flasche, nahm hastig einen tiefen Schluck, ächzte, setzte erneut an und soff wie ein Verdurstender ein Viertel ihres Inhalts aus. Als er nicht mehr konnte, begann er zu wimmern: »Ro-si-na…«

Die junge Frau hauchte: »Ich… glaube… mir wird…« Dann kippte sie um. Dem Mann gelang es gerade noch, sie aufzufangen. So sanft wie möglich ließ er sie zu Boden gleiten und lagerte ihre Füße auf einem der beiden Rucksäcke. Fahrig strich er ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. Dabei sah er aus, als müsse er sich selbst jede Sekunde übergeben.

Mousson hatte derweil genug damit zu tun, den verletzten Brovny bei Bewusstsein zu halten. Er brüllte ihm ins Ohr: »Brovny, bleiben Sie hier! Hören Sie? Was ist mit Rosina? Ist ihr etwas passiert? Brovny?

Verstehen Sie mich?«

Der Maschinist stöhnte, kaum verständlich: »Weg. Sie ist weg.«

»Wie… weg? Sie kann doch nicht verschwunden sein. Wir sind hier auf einem Schiff.« Mousson schlug Brovny mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Los, reden Sie schon!« Er packte ihn noch fester unter den Armen, um ihn nicht fallen zu lassen. Brovny verdrehte die Augen.

»Brovny, verdammt, ist Rosina bei der Explosion etwas zugestoßen?« Statt zu antworten, fuhr Brovny sich mit dem öligem Ärmel mehrmals unkontrolliert über das Gesicht und schrie, verzweifelt, laut, dass es in den Fluren widerhallte: »Ro-si-na!« Dann sank sein Kopf auf die Brust und sein Körper erschlaffte. Fast wäre er Mousson aus den Händen gerutscht.

»Brovny… zum Teufel! Bleiben Sie bei uns! --- Brovny!« Moussons Schuhe tappten schmatzend in eine Pfütze gerinnenden Blutes.

»Scheiße, das ist ja das reinste Schlachtfest.« Er drehte sich um.

»Mommsen, nehmen Sie meine Jacke! Wir müssen sein Bein unterhalb der Leiste abbinden. Der Mann verreckt uns sonst an Ort und Stelle. --- Mommsen!«

Mommsen versuchte, sich aufzurappeln, und brabbelte dabei wirres Zeug.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen!« Von Adler zerrte Mousson die Jacke von Schulter und Armen und schlang sie, so fest es ging, um Brovnys Oberschenkel. »Sehr lange wird das nicht halten, fürchte ich.«

»Wir brauchen dringend einen Arzt«, presste Mousson zwischen den Zähnen hervor, während er seine Stabtaschenlampe in den Jackenknoten schob und sie wie einen Schraubstock drehte. »Die Krankenstation liegt nur ein Deck tiefer. Bis dahin kann ich ihn vielleicht schleppen. Verdammt, haben diese Russen schwere Knochen.« Er wuchtete sich mit von Adlers Hilfe den reglosen Körper auf den Rücken und hielt ihn an beiden Armen fest. Dann setzte er sich wankend in Bewegung. Auf dem rostigen Metallboden zog er dabei eine dunkle Blutspur hinter sich her. »Madame… wä…ren… Sie… so… freundl…«

Von Adler nickte. »Ja, ich kümmere mich um die anderen.« Sie warf einen Blick auf das verstörte Ehepaar und den völlig desolaten Stewart.

»Sehen Sie lieber zu, dass Sie… nun ja… «

Beim letzten Wort war die schwere Eisentür bereits krachend hinter Mousson und Brovny ins Schloss gefallen. Der Steuermann holte tief Luft, packte Brovnys Unterarme, so fest er konnte, und nahm tastend die erste Stufe, die zum nächsttiefer gelegenen Deck führte.

***

Die Tür zur Krankenstation wurde krachend aufgestoßen. Jemand, den Johnny nicht kannte, brüllte ihm etwas entgegen, das er zunächst nicht verstand. Als er glaubte zu wissen, was der Andere von ihm wollte, entgegnete er ruhig, wie er es sich auf der Unfallambulanz antrainiert hatte: »Ja. Ich bin Arzt. Elm. Dr. Johnny Elm. Was ist passiert?”

In dem kleinen, beinahe quadratischen Raum mit den zwei Bullaugen sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Medizinisches Gerät war aus Regalfächern und Schubladen gefallen und lag verstreut auf dem Boden. Zu Bruch gegangene Ampullen und Fläschchen ergossen ihren Inhalt über lose Papiere und Verbandsmaterial.

Mousson nahm von dem Chaos um sich herum wenig wahr. Er packte Brovny, der vor Schmerzen immer wieder das Bewusstsein verlor, wuchtete den schweren Körper von sich herunter und ließ ihn unsanft auf die Liege vor sich sacken. Brovny ächzte auf. Mousson wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn. Seine Wirbelsäule brannte wie Feuer. »Meinen Sie… was generell passiert ist… oder mit ihm hier?« Johnny zuckte unschlüssig mit den Schultern, und Mousson fuhr heftig atmend fort: »Im Maschinenraum… muss es eine Verpuffung gegeben haben, mit einer ziemlichen… Druckwelle. So… oder so ähnlich jedenfalls. Sicher ist, dass er…«, bei »er« deutete er auf Brovnys blutdurchtränkten Verband, »bei der ganzen Sache mit seinem Bein zur falschen Zeit am… falschen Ort war.«

Johnny beugte sich über den Verletzten und schaltete sein Gehirn in den Notfallmodus. »Um wen handelt es sich bei dem Patienten?« Er hatte in seiner kurzen Laufbahn bereits mit vielen Schwerverletzten zu tun gehabt. Für keinen von ihnen war er jedoch alleine verantwortlich gewesen. Bis zu diesem Moment.

»Patient?« Mousson lachte kehlig. »Das ist Leonid Brovny, der Maschinist der Elmsfeuer, und wenn wir noch ein Weilchen hier stehen und plaudern, gibt es nicht mehr viel, was wir für ihn tun können.«

»Sie haben Recht«, Johnnys Körper spannte sich, »wir dürfen keine Zeit verlieren.« Er streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über und begann, die Bandagen des Verletzten zu betasten. Dabei sprach er mehr zu sich selbst: »Patient verliert viel Blut.« Er täschtelte Brovny die Wange. »Hallo? Herr…?«

»Brovny«, raunzte Mousson. Johnny ließ sich von dem rauen Ton nicht beeindrucken. Aus dem OP war er rüde Umgangsformen gewohnt. »Herr Brovny? Können Sie mich verstehen?« Der Angesprochene ließ ein leises Stöhnen hören. »Ro-si-na.« Seine Augen blieben geschlossen.

Unter den Lidern zeichnete sich die Bewegung irrlichternder Augäpfel ab.

»Patient ist kaum bei Bewusstsein. Vermutlich Volumenmangelschock«, murmelte Johnny und drehte sich hilfesuchend um. »Frau Hoy, ich brauche eine Verbandsschere. Schnell.« Er legte Zeige- und Mittelfinger auf die Arterie an Brovnys Handgelenk und hielt die Luft an. Lorna nickte knapp und beugte sich unter einen der Stühle, wo Teile des verstreuten Bestecks lagen. Johnny nahm derweil das Blutdruckmessgerät aus der Tasche seines Kittels und fixierte die Manschette an Brovnys Oberarm. Niemand sprach, während er die Luftpumpe betätigte. Wenig später waren nur das Zischen entweichender Luft und Brovnys rasselnder Atem zu hören. Johnny nahm das Stethoskop von den Ohren. »Vitalfunktion schwach messbar. Blutdruck 90 zu 60, er ist stark tachykard. Wir müssen unbedingt seinen Kreislauf stabilisieren. Der Blutverlust ist massiv… von den Schmerzen nicht zu reden… Frau Hoy, machen Sie bitte eine Infusion mit Ringerlösung fertig und geben Sie dieses Schmerzmittel hier bei! Beeilen Sie sich! Wir haben keine Zeit.«

Mit der Schere fuhr er unter die erste Lage des blutdurchtränkten Verbands. »Herr Brovny? Können Sie mich verstehen?« Brovny seufzte leise. »Ich schneide jetzt Ihren Verband auf, um mir die Verletzung anzusehen.« Die Scherenblätter waren außerordentlich scharf. »Mmh, das sieht nicht gut aus, gar nicht gut… haben Sie eine Ahnung, was das für Tücher sind, Herr…?«

»Mousson. Philippe Mousson. Ich bin der Erste Offizier.« Mousson sah Johnny über die Schulter. Sein linkes Augenlid zuckte nervös. Johnny löste die oberste Verbandsschicht und ließ den von Blut und Schmutz geschwärzten Stoff in einen Plastikeimer fallen. »Puh, das Zeug starrt ja vor Dreck…«

Mousson sog pfeifend Luft durch die Nase. »Sieht aus wie Öllappen. --- Was denken Sie, Doktor? Kommt er durch?«

»Schwer zu sagen. Ich… muss… zunächst einmal den Verband abbekommen, ohne die Wunde… zu vergrößern. Das ist… leichter gesagt als…« Die Klingen der Schere verbissen sich in die zweite Verbandsschicht.

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann…« Mousson wischte sich kalten Schweiß von der Stirn.

»Ja, das können Sie. Nehmen Sie zusammen mit Frau Hoy die Arme und das gesunde Bein und halten beides fest. Und ich meine wirklich: fest!« Mousson stolperte an das Kopfende der Liege, nahm Brovnys Handgelenke und presste sie grob gegen das Polster. Lorna tat dasselbe mit dem rechten Bein. Inzwischen hatte Johnny die vorletzte Stoffschicht erreicht. Der Maschinist wand sich stöhnend. »Ro-si-na.« Sein Brustkorb hob und senkte sich in kurzen Abständen.

»Rosina?« Johnny sah verwundert auf. »Das sagt er nun schon zum wiederholten Mal. Haben Sie eine Ahnung, wen er damit meint?«

»Mmh, Rosina ist seine sechsjährige Tochter. Wir haben Sie mit an Bord… und…«

»Ein sechsjähriges Mädchen?« Lorna hob erschrocken die Hand vor den Mund. Johnny zog die Stirn in Falten. »Ist dem Kind bei der Detonation etwas… ich meine…?«

»Nein, ich glaube nicht, dass… Brovny sagt, sie sei verschwunden…« Johnny unterbrach ihn. »Sie glauben nicht…?«

Moussons Miene verfinsterte sich. »Mit Verlaub, Doktor, wären Sie schon etwas länger auf diesem Schiff als ein paar Stunden, wüssten Sie, dass…«

Johnny zog mit einem Ruck den letzten Verbandsrest von Brovnys Bein. Dieser schrie auf. Johnny kniff die Augen zusammen und ließ zischend Luft durch die Lippen entweichen. Der sonst so hartgesottene Mousson wandte den Blick ab. Johnny wischte sich mit dem rechten Unterarm über die feuchtglänzende Stirn. Sein Blick streifte Lorna. »Frau Hoy, ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

 

»Ja, ja – alles in Ordnung. Es ist nur…«

»Ja«, ergänzte Johnny, »es… ist… auch bei weitem schlimmer… als ich erwartet hatte…« Er beugte den Kopf wieder über das verletzte Bein und zog die Arbeitslampe zu sich heran. Was im hellen Lichtschein vor ihm lag, war selbst für seine an Extremen geschulten Sinne eine Herausforderung. Mechanisch murmelte er: »Sieht nach einer vollständigen Quetschung der linken unteren Extremität aus, vermutlich multiple Fraktur von Tibia und Fibula… bei gleichzeitiger Zerstörung des gesamten Muskel- und Bänderapparats…« Er betastete mit einem Spatel die breiige Masse aus zusammengeschnurrter Haut, grobkörnigem Fettgewebe und Muskelmasse. Das, was noch vor einer Stunde ein gesundes Körperteil gewesen war, befand sich nun in einem derart schlimmen Zustand, dass Johnny mit dem Spatel vereinzelte Nervenstränge anheben konnte, als seien es die gerissenen Saiten einer Gitarre.

»Und was bedeutet das nun?« Mousson zog seine Mütze vom Kopf und fuhr sich ratlos durch das Haar.

Johnny sah zu der hochgewachsenen Gestalt auf. »Das bedeutet, dass das Bein… selbst bei einem vollausgestatteten Operationssaal…« Er besann sich. »Frau Hoy… wählen Sie bitte sofort den Notruf! Noch sind wir im Hafen. Wir brauchen umgehend ein Rettungsteam… sonst stirbt uns der Mann unter den Händen weg…«

»Das… ist… Ihre Prognose?« Moussons Stimme klang fahl, während Lorna sich den Telefonhörer ans Ohr presste.

»Ja. Das ist die Prognose.« Johnny pumpte erneut die Blutdruckmanschette an Brovnys Oberarm auf und sah hinüber zu Lorna. »Was ist? Geht niemand ran?« Lorna entgegnete nichts und lauschte.

»Das kann nicht sein. Das ist schließlich die Nummer der Rettung«, brüllte Johnny sie an.

Lorna schüttelte den Kopf. »Die Leitung scheint gestört zu sein.« Sie legte hastig auf und wählte erneut. »Nichts. Nur ein Summen.«

»Summen? So eine verdammte… hier… nehmen Sie mein Handy…« Er schleuderte das Telefon durch die Luft und setzte sich das Stethoskop wieder auf die Ohren. Langsam entwich die Luft aus der Manschette.

»Blutdruck fällt weiter. --- Scheiße!« Mit leisem Klopfen tropfte ein unappetitliches Gemisch aus Blut und öligem Schleim von der Liege auf den Boden.

Lorna ließ das Mobiltelefon sinken. »Hier auch. Keine Verbindung. Nur dieses Summen.«

»Wie vorhin auf der Brücke«, murmelte Mousson und setzte die Mütze wieder auf. Dann knetete er seine Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Herzfrequenz 138.« Johnny betätigte ein weiteres Mal die Luftpumpe.

Brovny stöhnte. Mit den Händen griff er wirr in die Luft, als erwehre er sich eines unsichtbaren Gegners. »Ro-si-na.«

»Herr Mousson, halten Sie Herrn Brovny bitte fest. Frau Hoy, wir müssen ihm mehr Schmerzmittel geben… und hoffen, dass uns sein Kreislauf dadurch nicht vollständig absackt. Hier, nehmen Sie! Hm… warten Sie, ich mache es selbst…« Mit geübtem Griff köpfte er eine Ampulle und zog den Kolben einer Spritze zurück. »Frau Hoy, messen Sie bitte im Halbminutentakt Puls und Blutdruck. Wir dürfen ihn nicht verlieren. Und ich… muss eine Entscheidung fällen…«

»Eine Entscheidung…?« Mousson unterbrach das Kneten seiner Hände.

»Ich denke, uns bleibt in dieser Situation kein Spielraum, wenn wir Herrn Brovnys Leben retten wollen…« Johnny sah Lorna fest in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick und nickte kaum merklich. Ein sonderbares Gefühl von Wärme durchströmte ihn. Die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, musste die richtige sein. Johnny räusperte sich leise, und man merkte seiner Stimme die innere Zerrissenheit nicht an, als er sagte: »Wir werden amputieren.«

***

»Glaubst du, dass wir uns richtig entschieden haben?« Die junge Frau zog ein Bündel T-Shirts aus ihrem Rucksack und sortierte sie gedankenverloren vor sich auf der Bettdecke.

»Wie meinst du das… richtig?« Ihr Mann saß auf der anderen Seite des schmalen Doppelbetts in der kleinen Kabine und drehte seinen Oberkörper in ihre Richtung.

»Ob es die richtige Entscheidung war, unsere Flitterwochen nicht auf einer ruhigen, warmen Insel zu verbringen, sondern auf diesem Schiff.« Der Mann legte die Bordkarten, die er gerade in den Händen hielt, auf dem abgestoßenen Nachttisch ab und ließ sich hintenüber auf die Laken fallen. »Hm, Gegenfrage: Waren wir nicht beide der Meinung, dass wir mit Ende Zwanzig noch nicht reif für einen Rentnerurlaub sind? So viel jedenfalls zu Gran Canaria…« Er machte eine kurze Pause. »Was wir über die Elmsfeuer gehört haben, klang doch ziemlich gut, oder nicht?

Eine Schifffahrt von Hamburg über Irland nach Island – zu einem Preis, für den man auf einem richtigen Kreuzfahrer noch nicht einmal die Besenkammer haben könnte.« Er grinste zufrieden über das vermeintliche Schnäppchen.

»Tja, sehr viel anders als in der Besenkammer eines Kreuzfahrtschiffes sieht es hier, ehrlich gesagt, auch nicht aus.« Die Frau rümpfte die Nase.

»Na ja, das liegt aber vor allem daran, dass bei der kleinen Erschütterung vorhin alles ein bisschen durcheinander geraten ist. Wenn wir erst einmal ausgepackt und uns hier häuslich eingerichtet haben, sieht das meiste bestimmt schon ganz anders aus.«

»Kleine Erschütterung? Dafür warst du aber ziemlich blass um die Nase…«

»Pfff, blass. Mein Körper muss sich nur ein bisschen an die Seeluft gewöhnen, das ist alles. Was ist denn nur aus deiner Abenteuerlust geworden?« Er sah sie herausfordernd an, und sie ließ sich ebenfalls nach hinten sinken. Ihre Köpfe lagen nun nebeneinander.

»Meinst du mit…«, sie zeichnete mit den Fingern ein Paar Gänsefüße in die Luft, »`Abenteuer´ eventuell bewusstlose Stewarts…?«

Der Mann gluckste: »Putzi…«

»… oder blutüberströmte Wer-auch-immer… die wie Tiere beim Schlachter brüllen…« Die Frau schüttelte sich, als sie an den fürchterlichen Auftritt in dem dunklen Korridor dachte. Ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz. »Ob es dem Mann inzwischen wieder besser geht…?«

»Jaaa… bestimmt, der Erste Offizier, Moustache… oder wie er heißt… hat doch einen relativ kompetenten Eindruck gemacht…«

»Ja, wenn `relativ kompetent´ nur ausreicht, um uns heil ans Ziel zu bringen…«

Der Mann wechselte von der Rücken- in die Bauchlage und ließ die Finger der linken Hand zärtlich über den Bauch seiner Frau gleiten. Er wirkte plötzlich ein wenig unsicher. »Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun? Die Reise abbrechen, jetzt schon?«

»Neiiiin…« Sie zog einen Schmollmund und rollte sich in seine Arme. »Du hast ja recht… wir werden ab jetzt bestimmt eine tolle Reise haben… und wundervolle Flitterwochen.«

Er küsste sie zärtlich auf die Wange. Sie schmiegte sich noch fester an ihn und imitierte dabei das wohlige Schnurren einer Katze, was er zum Anlass nahm, sein romantisches Bemühen zu verstärken. Er rieb seinen Körper sanft an ihrem und brummte: »Was hältst du davon, wenn wir vor den Rucksäcken erst noch etwas ganz anderes auspacken?«

Sie grinste. »Bist du sicher, dass du dazu schon wieder in der Lage bist…?«

»Ich werde dir gleich zeigen, wozu ich schon wieder in der Lage bin…« Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge und fuhr mit der Hand langsam unter ihren Pullover. Sie ließ ein heiseres Kichern hören, schloss die Augen und durchpflügte mit beiden Händen fordernd seine dichten schwarzen Locken. Als seine Zunge gierig in ihr Ohr glitt, stöhnte sie leise auf.

Für einen kurzen Moment öffnete sie die Lider, nur einen Spalt breit – und jeder Ausdruck von Verlangen fiel schlagartig aus ihrem Gesicht. Ihr Körper versteifte sich. Mit geweiteten Pupillen starrte sie auf die gegenüberliegende Wand.

Der Mann registrierte die plötzliche Veränderung und löste sich widerwillig aus der weichen Halsbeuge. »Was ist?«, ächzte er, »wieso hörst du auf?« Die Erregung verlieh seinem Blick etwas Dümmliches.

»Da… da drüben?«

Er drehte sich um. Der abrupte Stimmungswandel war ihm alles andere als geheuer. »Wo?«

»Da drüben…«, stammelte sie erneut.

»Was ist… da drüben…? Ich sehe nichts.«

Die Frau löste sich aus seinem Griff, erhob sich und ging vorsichtig auf die Wand zu, die sie von der Nachbarkabine trennte. »Da… war gerade ein kleines Mädchen… ein Kind… und ein… ein… sie sind… hier durch die Wand…« Sie streckte ungläubig die Hand nach der verblichenen Tapete aus.

Der Mann hauchte: »Durch die Wand?«

***

Blutdruckmanschette. Skalpell. Knochensäge. Gefäßklemmen. Johnny brauchte Lorna nicht zu sagen, was er für die bevorstehende Operation benötigte. Sie kannte die Geräte und legte sie, eines neben das andere, auf der Platte des niedrigen Beistelltisches bereit. Dann rollte sie alles neben die Untersuchungsliege. Ihnen blieb nicht viel Zeit. Mit Hilfe eines Riemens staute Johnny das Blut in Brovnys linkem Arm. Sofort traten die Venen hervor. In eine davon schob er eine dicke Kanüle und legte einen zentralen Venenkatheter. Der Verletzte spürte davon nichts. Das Morphin wirkte.

Lorna reichte Johnny eine kleine, bereits geöffnete Ampulle und eine Einwegspritze. Konzentriert zog er den Kolben zurück, und die klare Flüssigkeit schoss aus dem Glasfläschchen in die Spritze. Mit einem Schnalzen des Zeigefingers entfernte er letzte Luftblasen aus dem Hohlraum und verband die Düse der Spritze mit der des Venenzugangs.

»So, dann wollen wir ihn mal vollständig ins Reich der Träume schicken«, murmelte er und injizierte langsam, Millimeter für Millimeter, das Ketamin in Brovnys Körper.

»Wenn es Ihnen recht ist, lass ich Sie jetzt alleine«, brummte Mousson. Wieder knetete er seine Hände, als seien sie ein Stück Teig. »Ich muss mir das nicht ansehen. Scheint, als wüssten Sie, was Sie tun, Doktor…« Johnny nickte. »Als wüssten Sie, was Sie tun…«, echote es in seinem Kopf.

Geräuschlos wurde die Tür geschlossen. Für einen Moment war das Zischen der sich füllenden und wieder erschlaffenden Blutdruckmanschette das einzige Geräusch im Raum. Lorna nahm das Stethoskop von den Ohren und flüsterte, um Johnnys Konzentration nicht unnötig zu stören: »Ich denke, er ist so weit. Sie können anfangen.« Wieder fühlte Johnny, wie ein seltsam warmes Gefühl ihn durchströmte. Seine Hände waren völlig ruhig. Er griff nach der zweiten Kunststoffmanschette auf dem Beistelltisch, legte sie knapp unterhalb der Leiste um Brovnys Oberschenkel und zurrte sie fest. Nach einigen Sekunden tat die Blutsperre ihre Wirkung. Das Gewebe wurde weiß.

Er sah hinüber zu Lorna, die sich das Stethoskop wieder auf die Ohren gezogen und die Finger der rechten Hand an Brovnys Arterie gelegt hatte. Sie presste angestrengt die Lippen aufeinander und nickte.

Johnny atmete tief durch. Dann setzte er das Skalpell an und tat den ersten Schnitt.

Brovny rührte sich nicht. Sein Brustkorb hob und senkte sich ruhig. Gleichmäßig arbeitete sich die scharfe Klinge durch die Hautschichten und das darunter liegende Muskelgewebe. Als der Stahl den Oberschenkelknochen erreichte, was ein kratzendes Geräusch verursachte, ging in Wellen ein Zittern durch Brovnys Körper. Tief in seiner Kehle begann es zu gurgeln. Lorna sah nervös von seinem Handgelenk auf. »Etwas stimmt nicht mit seinem Blutdruck. Und der Puls ist fast weg.«

Johnny hob das Skalpell an, wischte sich mit dem Kittelärmel den Schweiß von der Stirn und legte irritiert Zeige- und Mittelfinger auf Brovnys Halsschlagader. »Tatsächlich. Nichts.« Er schob sein Ohr an Brovnys Mund.

Kein Atem.

Zwischen seinen Augen bildete sich eine tiefe Falte. »Verdammt«, flüsterte er, »Kammerflimmern?«

***

Farben und Formen verschwammen vor Moussons Augen, als er durch Türen und enge Flure dem Maschinenraum entgegen stapfte. In ihm rumorte es. Vermutlich war der Kessel des Schiffes beschädigt. Wie schwer, das würde er in Kürze herausfinden. Doch das zu erwartende Ausmaß des Schadens war es nicht, das ihn beunruhigte. Mousson wusste, dass ein lädierter Kessel das Auslaufen der Elmsfeuer nicht verhindern würde. Es war Brovnys Zustand, der ihn umtrieb. Der Russe war der einzige an Bord, der den komplizierten Organismus des Schiffes kannte und seine Zeichen zu deuten vermochte; und nun lag er schwer verletzt auf der Krankenstation, wie schwer, das hatte Mousson eben selbst gesehen, und keiner konnte ihm sagen, ob Brovny die nächsten Stunden überstehen würde. Er beschleunigte seine Schritte. Hoch über ihm zog eine Sturmfront auf, wie er seit Ewigkeiten keine gesehen hatte. Der Donner war bis hier unten zu hören.Und noch etwas anderes arbeitete in ihm: Was war mit Rosina geschehen, Brovnys Tochter?

 

Hätte sich die Elmsfeuer doch nur schon draußen auf See befunden, Mousson wäre um einiges entspannter gewesen. Mochten die Wellen ruhig so hoch gehen wie ein Haus und ihren alten Kahn vor sich hertreiben wie einen Spielball. Mochten die Böen so heftig sein, dass man sich zur Arbeit an Deck festtäuen musste, es war ihm einerlei. Das Meer war sein Element, und er wusste jede Sekunde, was er zu tun hatte. Blind. Aber hier, im Hafen, kam er sich vor wie ein gestrandeter Wal, der von seinem eigenen Gewicht langsam erdrückt wurde. Es war kaum zu ertragen.

Mousson stieß eine weitere Eisentür auf. Fast war er da. Man konnte den heißen Atem aus Diesel und Schweiß, der dem Maschinenraum entströmte, bereits deutlich riechen.

Plötzlich hielt er überrascht inne. Das Telefon in seiner Jackentasche fiepte. Hatte sich diese unselige Funkstörung verflüchtigt? Er zog das Handy hervor und drückte die Rufannahme.

»Hallo? --- Ah, Captain? --- Ja, es gibt mich noch… was sich von anderen Personen auf diesem Schiff nicht ohne weiteres behaupten lässt. Wie?

Nein, das erzähl ich Ihnen besser später. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin gleich unten im Maschinenraum, danach weiß ich meh…

Captain…? Hallo? --- Captain? Scheiße!« Mousson riss sich das Handy vom Ohr und sah zornig auf das Display. Der Anzeige nach war die Verbindung zur Brücke intakt. Trotzdem war nichts mehr zu hören. Er presste das Telefon wieder ans Ohr, und da war es erneut: dieses sonderbare Surren. Im Äther knackte es leise. Einmal, zweimal.

Vielleicht befand er sich diesmal auch einfach nur zu tief unten, um guten Empfang zu haben. Es knackte erneut. Dann hörte Mousson, wie aus großer Entfernung, den leiernden Ton einer alten Schallplatte, altmodische Salonmusik – und die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten. Nach einer Weile jedoch wurde ihm klar, um wessen Stimmen es sich handelte: es waren die von Putzi Mommsen und Baronesse von Adler. Er hielt den Atem an. Was redeten die beiden? Und wieso taten sie es in seinem Telefon? Es kam ihm vor, als unterhielten Mommsen und von Adler sich in einer fremden Sprache; er hörte die Worte, doch ihr Sinn blieb ihm verschlossen. Hin und wieder brach Mommsens Stimme in lautes Gelächter aus. »Von dem Schlag auf den Kopf hat er sich also wieder erholt«, dachte Mousson grimmig.

Im selben Moment jedoch geschah etwas, das seine Aufmerksamkeit vollständig umlenkte. Das Deckenlicht begann nervös zu flackern. Ohne das Telefon vom Ohr zu nehmen, starrte er auf eine etwa fünf Meter entfernte Stelle des Korridors. Dort stand, ihm halb zugewandt, die kleine Rosina, Brovnys Tochter. Sie trug ihr dunkelrotes Lieblingskleid mit den weißen Punkten und schien ihn nicht zu bemerken. Wo war sie auf einmal hergekommen? Es gab dort nirgends eine Tür.

Mousson wollte auf das Mädchen zugehen, es ansprechen, als eine weitere Gestalt im Flur auftauchte. Er blieb stehen. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn fest. Er beobachtete, wie Rosina ihre Kinderhand ausstreckte und die der anderen Person ergriff. Gleich darauf waren beide durch die nächstliegende Wand verschwunden.

Mousson wusste, wer die andere Gestalt war… doch Rosina… jemand schrie ihm durch das Telefon ins Ohr. Mousson zuckte zusammen.

»Captain? Ja. Ich bin noch da.«

***

Johnny riss Brovnys ölverschmiertes Hemd auf. Knöpfe spritzten zu Boden. Er holte eine Ellenlänge aus und hieb mit der Faust fest auf den mächtigen Brustkorb. Rippen knackten, und in der Lunge gestaute Luft entwich mit einem lauten Seufzen. Der präkordiale Schlag zeigte jedoch keine Wirkung. Johnny befühlte Brovnys Halsschlagader und versuchte, mit dem Stethoskop Herztöne einzufangen. Doch er hörte nichts.

»Defi… schnell!«, rief er, zog seinen verschwitzten Kittel aus und warf ihn achtlos beiseite.

Lorna fuhr hastig herum und suchte in dem verwüsteten Geräteschrank nach dem Defibrillator. »Wir haben kein EKG mehr, um Ihren Befund zu verifizieren«, keuchte sie. »Was, wenn es kein Kammerflimmern ist?

Dann stirbt er uns.«

Johnnys Kiefer mahlten. »Was, wenn es Kammerflimmern ist, und wir nichts tun? Dann stirbt er auch. Los, machen Sie schon, was ich sage! Und danach versuchen Sie, endlich jemanden von der beschissenen Rettung ans Telefon zu kriegen. Eins – Eins – Zwei. Ist das denn so schwer?« Er hasste sich selbst, wenn er Leute, die ihr Bestes gaben, so anfuhr. Aber momentan war keine Zeit für Höflichkeit. Er griff nach dem Defibrillator, den Lorna ihm entgegenhielt, presste die Elektroden des Geräts auf Brovnys Brust und kommandierte knapp: »Los, weg von der Liege!« Lorna sprang zurück, und er schickte den ersten Stromstoß durch Brovnys Körper. Der Maschinist bäumte sich kurz auf und krachte zurück auf das Polster. Johnny fasste nach der Halsschlagader. Nichts. Erneut brachte er die Paddles in Position. »Zurück!«

Sssskkk, machte das Gerät, als der Strom ein zweites und danach ein drittes Mal durch Brovny schoss. Ohne Erfolg. Johnny legte hastig die Elektroden beiseite, und brüllte Lorna, die mit zwei Telefonen gleichzeitig versuchte, eine Verbindung zur Rettungsstelle herzustellen, an: »Lassen Sie das Scheißtelefon jetzt und geben dem Mann 1mg Adrenalin, intravenös. Wenn das nichts hilft, dann…« Er unterbrach sich und beugte sich über Brovnys Oberkörper. Mit der linken Hand maß er einen drei Finger breiten Abstand vom Sternum Richtung Brustkorb. Eine Herzmassage war die letzte Möglichkeit, den Sterbenden zu retten. Er setzte die Handballen an. Einmal, zweimal, fünfmal legte er mit kräftigem Ruck sein gesamtes Gewicht auf Brovnys Brust. Der Schweiß lief ihm aus allen Poren. »Komm schon… atme!« Er unterbrach die Massage und überstreckte Brovnys Kopf, so dass dessen Mund sich einen Spalt öffnete. Seine Lippen berührten bereits die des Maschinisten, als Lornas erschrockener Aufschrei ihn bremste. Abrupt drehte Johnny sich um und erstarrte.

Vor ihm stand ein kleines Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Es trug ein hübsches rotes Kleid mit weißen Punkten und schien weder ihn noch Lorna wahrzunehmen. Es tat schweigend, beinahe schwebend, ein paar Schritte nach vorne, fasste mit beiden Händen nach Brovnys schwerer, schmutziger Pranke und hielt sie fest umschlossen.

Johnny wagte nicht, sich zu rühren. Lorna ging es offenbar genauso. Ein paar Sekunden verharrte das Kind reglos in seiner Haltung. Gleich darauf ging ein schwaches Vibrieren durch Brovnys Körper, ein leises Gurgeln folgte und schließlich ein lautes Seufzen. Johnny sah hinüber zu Lorna, deren Blick wie gebannt an der kleinen Gestalt hing. Er trat neben das Mädchen und legte, ohne die Kleine zu berühren, zwei Finger auf Brovnys Hals. Er spürte die Aorta. Tatsächlich. Der Puls. Er war wieder da. Kräftig und gleichmäßig.

Waren sie soeben Zeugen eines jener Wunder geworden, an die Leute seines Standes sich standhaft weigerten zu glauben? Er drehte sich zu Lorna um. Ein erleichtertes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Messen Sie bitte den Blutdruck«, wollte er sagen, doch er kam nicht dazu, denn ein sanftes Beben erfasste das Schiff. Gleich darauf ertönte ein tiefes Brummen. Der Borddiesel setzte sich schleppend in Gang. Lorna griff nach der zu Boden gefallenen Blutdruckmanschette. Johnny wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich wieder der Liege zu.

Er stutzte.

»Das Kind? Wo… ist das Kind?«

***

Als Mousson auf die Brücke zurückkehrte, stand der Kapitän starr am Fenster. Sein leerer Blick war auf die pechschwarze Sturmfront vor ihnen gerichtet. In der Hand hielt er eine leere Teetasse.