Der Gesang des Sturms

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sirany traf unweit des Waldrandes auf ihre Mutter. Neben ihr stand die junge Frau mit den drei Kindern und starrte sie an. Natürlich hatten beide die Szene auf dem Hügel mit angesehen.

Aileen sagte nichts, sondern hob nur das kleine Mädchen wieder auf ihre Hüfte und trat tiefer in den Wald. Die anderen Frauen folgten.

Für Sirany bedeutete jeder Schritt, sich weiter von Elendar zu entfernen. Doch es musste sein. Er musste zurückkehren und sie musste fliehen. Keiner von beiden konnte daran etwas ändern.

»Hat er alle Reiter vernichtet?«, fragte Aileen nach langer Zeit in die Nacht hinein.

Ihre Stimme klang fast ein bisschen irre, übergeschnappt. Sie zitterte leicht.

»Bis auf die drei, die ich erledigt habe, alle.«

Sirany sagte es in einem leichten Ton. Innerlich drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte Menschen getötet. Es waren zwar ihre Feinde, doch hatte niemand einen solchen Tod wirklich verdient.

Ihre Mutter warf ihr einen scharfen Blick zu. »Hat er dir das Schießen beigebracht?«

»Ja.«

»Dann hat er auch diese drei auf dem Gewissen.«

Sirany wollte erst protestieren, denn ihre Mutter klang, als wolle sie Elendar Vorwürfe machen, aber Aileen sprach bereits weiter. »Und er hat damit unser aller Leben gerettet. Dafür sollten wir dankbar sein.«

Sie tappten fast zwanzig Minuten halb blind durch den Wald, bis sie endlich auf eine Gruppe anderer Dorfbewohner trafen. Gemeinsam gingen sie weiter, tiefer in den dunklen Bauch des Waldes.

Sirany wurde in dieser Zeit fast verrückt vor Angst. Sie bangte um die Menschen, die hierher geflohen waren und sich nun verstecken mussten. Sie hatte Angst vor der nahenden Reiterschar und fürchtete um ihr Dorf und ihr Vieh. Vor allem sorgte sie sich um Elendar, der zu den Leuten zurückkehren musste, die sie alle hatten umbringen wollen.

Irgendwann fand Sirany in dem undurchdringlichen Dickicht ihren Vater. Erleichtert umarmten sie einander. Sarn gab erst seiner Tochter einen kurzen Kuss auf die Stirn, danach küsste er innig seine Frau.

Die Nacht zog sich dahin, bis der Morgen graute und die ersten Vögel vorsichtig ihr Lied anstimmten. Schatten wurden zu Ästen und Dunkelheit zu Licht. Das Leben kehrte in den Wald zurück.

Mit jedem Baum, den Sirany im Licht besser erkennen konnte, wurde sie zugleich unruhiger. Sie spürte das Herannahen des Heeres und wusste, dass ihr Leben weiterhin in Gefahr war. Deshalb trieb sie die kleine Schar zu noch größerer Eile an, bis alle vor Erschöpfung zitterten.

Als der Tag schließlich in seiner vollen Blüte erwacht war, suchten sich die Flüchtenden gute Verstecke im Dickicht und warteten auf das Kommende.

Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Das ewige Warten lastete schwer auf den Nerven der Menschen, an Schlaf war in ihrer Angst ohnehin nicht zu denken.

Plötzlich richtete sich Sirany erschrocken auf und streckte den Kopf in den Wind.

»Rauch«, flüsterte sie entsetzt. Alle anderen schnupperten nun ebenfalls und rochen Qualm, brennendes Holz, tosende Flammen. »Sie fackeln den Wald ab.«

Die Erkenntnis brachte die Menschen wieder auf die Beine. Zwar war der Geruch bisher nur schwach, doch von Sekunde zu Sekunde verdichtete er sich mehr und begann bereits in ihrer Lunge zu brennen. Dann sah Sirany die ersten Flammen über den Baumwipfeln aufleuchten.

»Der Wind treibt das Feuer direkt auf uns zu.« Sarn fuhr sich nervös durch das Haar. »Wir müssen hier weg.«

Nach diesen Worten folgte eine wilde Flucht quer durch den Wald. Ein Wettrennen begann, in dem diesmal nicht die Menschen vor ihresgleichen flüchteten, sondern vor einer Macht, der sie noch weitaus hilfloser ausgeliefert waren.

Das Prasseln der Flammen grollte nun in den Ohren der Dorfbewohner, übertönte jedes weitere Geräusch und ließ die ganze Welt um sie herum in einem Meer aus Angst und Panik verschwinden. Hitze lechzte nach ihren Kleidern; Rauch brannte in ihren Augen, verstopfte ihre Münder und lähmte ihre Lungen.

Verzweifelt versuchten sie dem Feuer aus dem Weg zu gehen, doch es ließ keinen Platz zur Flucht. Unbarmherzig trieb es sie vor sich her, bestimmte jede Richtung.

Nach und nach verloren sie einander aus den Augen, Qualm und Rauch verschluckte sie. Nur ihre verzweifelten Schreie übertönten das Knacken brennender Büsche, Sträucher und Bäume.

Sirany hielt die Hand ihrer Mutter fest umklammert und stolperte vorwärts. Ihre Instinkte sagten ihr, dass hier ein Nebenfluss herführen musste. Darin hatten Elendars Männer ihre Wäsche gewaschen und ihr Trinkwasser geholt.

Die kleine dreiköpfige Familie blieb dicht beisammen, zusammengehalten durch das feste Band ihrer Hände. Die Angst verlieh ihren Füßen Geschwindigkeit, ließ sie über Wurzeln und Stämme hinweg­eilen und den Schmerz ignorieren, der in ihren Lungen brannte.

Endlich erreichten sie den Fluss. Er war an manchen Stellen tief, das wusste Sirany. Sein Strom führte direkt aus dem Wald hinaus, parallel zur Feuerfront. Die einzige Möglichkeit, sich retten zu können.

Keiner der drei zögerte lange. Sie stürzten sich in den Fluss, eilten bis zu seiner Mitte und wateten von dort am Ufer entlang. Das Feuer tobte nun seitlich und hauchte den Menschen seinen heißen Atem entgegen.

Je weiter sie gingen, desto tiefer wurde der Fluss. Das Ufer wurde steiler, türmte sich höher vor ihnen auf und schirmte sie dadurch immer mehr von den brennenden Bäumen ab.

Anfangs hatte das Wasser Sirany nur bis zur Wade gereicht, schließlich bis zum Oberschenkel, zur Hüfte … und jetzt zerrte die Strömung so heftig an ihr, dass es sie von den Füßen riss. Neben ihr verlor erst ihre Mutter, dann ihr Vater den Halt und die Strömung trug sie fort, vorbei an heulenden Feuerstürmen, zerberstenden Bäumen und stinkenden Büschen.

Und dann, auf einmal, war es vorbei. Sie waren der Flammenhölle entkommen. Der Fluss hatte sie geradewegs durch das Herz des brennenden Waldes geschwemmt und sie am äußeren Rand wieder ausgespuckt, hinein in eine Flussmündung, die nicht mehr von Bäumen umgeben war.

Nass und erschöpft, wie sie waren, zogen sie sich ans trockene Ufer und starrten den brennenden Wald an. Der türmte sich wie ein riesiges, rot glühendes Ungeheuer vor ihnen auf. Aus seinem Mund stieg grauer Rauch auf und verdunkelte die Sonne.

Sirany und ihre Eltern zögerten lange hinaus, zurück ins Dorf zu gehen. Der Weg war lang und möglicherweise gefährlich. Nach weiteren Stunden war der Lärm des Heeres verschwunden, das Klirren der Waffen und das Wiehern der Pferde fort. Es war weitergezogen.

Also ging es für die kleine Familie zurück, quer durch den Fluss, gegen die Strömung, vorbei an rauchender Asche und toten, verbrannten Tieren. Als sie in ihr Dorf kamen, sah es dort nicht viel besser aus.

Einige Häuser brannten lichterloh, die Scheune zum Beispiel und auch die Mühle. Andere waren nur noch verkohlte, rauchende Ruinen.

Schweigend standen die drei da. Sirany und Aileen hatten Tränen in den Augen und doch konnten sie sich nicht abwenden. Ihre Lebensgrundlage, das, wofür sie so hart gearbeitet hatten, ging langsam und unaufhaltbar in Rauch auf.

Viele Stunden später gesellten sich die nächsten Überlebenden zu ihnen. Sie sagten nicht viel, standen nur da und beobachteten die tanzenden Flammen. Fast alle weinten. Gleichzeitig erfüllte sie auch eine große Erleichterung, noch am Leben zu sein.

Allmählich fragte sich Sirany jedoch, wie sie die nächsten Jahre in solch einem barbarischen Land überleben sollte. Sie erkannte ihre alte Heimat kaum noch wieder. Was kam noch auf sie zu? Was würde geschehen, wenn Elendar sie nicht mehr rechtzeitig warnen konnte?


Kapitel 12

In den nächsten Tagen begann die kleine Dorfgemeinschaft mit dem Wiederaufbau ihrer Behausungen. Es war seltsam, wie selbstverständlich die Menschen ihre alten Häuser abrissen, um sie durch neue zu ersetzen. Trotzdem würde es lange dauern, bis alles wieder stand.

Zum Glück hatten recht viele Farreyn die Feuersbrunst überlebt. Sirany und ihre Familie waren einige der letzten gewesen, die in den Wald geflohen waren. Sie hatten somit das Schlusslicht gebildet – die gefährlichste Position.

Niemand sprach über die Ereignisse. Sie schmerzten zu sehr in der Seele. Einige ahnten, dass der Fremde, der sie gewarnt hatte, ein Assar aus dem Wald gewesen sein könnte. Andere spekulierten ganz richtig, dass er wegen Sirany gekommen war, um sie zu retten. Seltsamerweise sprach sie niemand direkt darauf an. Sirany bat die Menschen lediglich, Stillschweigen zu bewahren. Wenn sie jemals wieder gewarnt werden wollten, so sagte sie streng, müssten sie ihren Retter vor einer Enttarnung schützen.

Am zweiten Tag nach dem Überfall sah Numa Kamu nach dem Rechten. Augenblicklich erstarrten alle Farreyn und blickten ihren Lehnsherrn ängstlich an. Es mochte gut sein, dass er sie noch bestrafen würde. Immerhin waren Soldaten der Shari in ihrem Dorf auf unerklärliche Weise getötet worden – und einen Shari zu töten war keine gute Idee. Das hatte grundsätzlich ein schauerliches Nachspiel.

Schweigend starrte Numa Kamu die Bauern an. Dreckig und verschlammt standen sie vor ihm, blankes Entsetzen in den Augen. Hinter ihm bauten sich seine Soldaten drohend auf, Waffen klirrten.

»Ich weiß nicht, was geschehen ist. Wenn ich es mir genauer überlege, möchte ich es auch gar nicht wissen«, sagte er schließlich ruhig. »Sollte so etwas jemals wieder geschehen, dann Gnade euch unser Gottkönig Alexej persönlich.«

 

Im ersten Moment wollten die Dorfbewohner erleichtert aufatmen, denn auf den ersten Blick ließ Numa Kamu noch einmal Gnade walten. Doch dieses Gefühl verging ihnen bei seinen nächsten Worten.

»Schnappt euch die drei Burschen dahinten. Die sehen kräftig aus und wirken so, als könnten sie unsere Unruhestifter sein.«

Unter viel Geschrei und Wehklagen bahnten sich die Soldaten einen Weg zwischen den verzweifelten Dorfbewohnern hindurch und packten die drei Angesprochenen. Es waren durchweg kräftige Kerle. Sirany erkannte sie als die drei Söhne des Schmiedes. Der Schmied selbst und seine Frau beobachteten mit erschrockener Miene das Geschehen. Erst als der erste Soldat einen seiner Söhne nach vorn stieß, ging der Vater dazwischen.

»Nein, mein Herr. Bitte. Sie haben nichts damit zu tun«, rief er, verstellte den Soldaten den Weg und hob flehend die Arme. Numa Kamu saß weiterhin ungerührt auf seinem Pferd. »Sie sind wirklich keine Kämpfer.«

»Ach nein? Und wer soll es dann gewesen sein?«, entgegnete der Lehnsherr und ließ prüfend seinen Blick über die Menge gleiten. »Vielleicht er da?« Er zeigte mit seiner Reitgerte auf den zitternden Bäcker. »Oder etwa sie dort?« Die gemeinte alte Frau entblößte kampfbereit ihren zahnlosen Mund und wirkte nicht einmal im Ansatz eingeschüchtert.

»Wir brauchen die Söhne des Schmiedes«, hörte sich Sirany plötzlich selbst sagen. Augenblicklich wandten sich ihr alle Augen zu. »Ohne sie werden wir das Dorf nicht wieder aufbauen können. Ohne ein Dach über dem Kopf werden wir Euch die nächsten Abgaben auf jeden Fall schuldig bleiben.«

»Das dürfte dann euer Problem sein.«

Numa Kamu musterte das dreckverschmutzte Ding vor den Füßen seines Pferdes und befand es als hässlich und eklig. Sirany sah im Moment wirklich nicht nach sich selbst aus. Die Haare waren versengt und struppig, das Gesicht von Müdigkeit und Schrecken gezeichnet. Dunkle Ringe unter den Augen ließen sie um Jahre älter aussehen und das Kleid, das sie trug, war so schmuddelig und zerrissen, dass man es kaum noch als Kleid bezeichnen konnte.

»Es wird Euch wenig nützen, wenn Ihr uns alle zur Strafe hinrichten lasst oder was Euch dann einfallen mag. Die Abgaben werden dadurch auch nicht größer.«

Der Blick, den Numa Kamu ihr nun zuwarf, ging ihr durch Mark und Bein. »Nun, du Besserwisserin, wenn du so allwissend bist, erzähl mir gefälligst, wer außer den drei Burschen sharische Soldaten getötet haben könnten.«

»Ich weiß es nicht«, log Sirany und allmählich begann ihr Herz unruhig zu schlagen.

Ihre Mutter hatte sich längst vor Schreck neben ihr verkrampft und ihr Vater war unauffällig in Kampfstellung gegangen. Von den Dorfbewohnern durfte sie keine Hilfe erwarten. Die starrten sie alle nur mit großen Augen an.

»Ein Wanderer kam hierher und hat erzählt, er habe einen Trupp Reiter gesehen, die in schnellem Galopp näher kämen. Sie hatten angeblich Schwerter mit und sollten nicht sehr freundlich aussehen. Also sind wir geflohen. Mehr weiß ich nicht.«

»Ein Wanderer? Soso.« Numa Kamu wirkte nicht überzeugt, nur mäßig neugierig. »Und wie sah der aus?«

»Dreckig, klein, zerzaust. Vielleicht ein Niehre.« In Gedanken entschuldigte sie sich bei allen Wanderern aus dem Land der Niehren für die kommenden Unannehmlichkeiten. »Trug braune Hosen, war zu Fuß, hatte ein schwarzes Hemd an. Bewaffnet war er mit Pfeil und Bogen und einem Schwert.«

Numa Kamu schien sie mit seinen Blicken zu durchleuchten, dann ließ er seinen Blick über die zusammengeschmolzene Bauernschar schweifen. »Nun gut. Sei es drum. Ihr werdet mir ohnehin nicht verraten, was hier geschehen ist. Aber ihr könnt sicher sein, dass ich das herausfinden werde.« Mit einem Nicken bedeutete er den Soldaten, die drei Schmiede loszulassen. »Lasst sie hier. Sie sollen erst mit aufräumen helfen. Danach können wir sie uns immer noch holen.«

Ein letzter drohender Blick Richtung Dorfbewohner, dann zwang er sein Pferd herum und ritt zurück zu seiner einsamen Burg. Auf dem Weg dorthin blickte er seinen Ersten Offizier drohend an.

»Finde heraus, was wirklich geschehen ist. Niehren, pah.«

Verärgert spuckte er auf den Boden und wirkte mit einem Schlag nachdenklich und beunruhigt.

»Sorg dafür, dass ein paar Männer die Gegend nach einem einsamen Wanderer absuchen. Ansonsten versuch, die Wahrheit aus den Dorfbewohnern herauszuquetschen. Geh bedächtig zur Sache. Keine Toten, sonst werden die nur bockiger. Ich kenn das Pack. Wenn du die unter Druck setzt, werden die noch loyal zueinander. Gemeinsamer Feind und so ein Schwachsinn. Das ist das Letzte, was wir brauchen. Geh listig vor und beeil dich dabei. Der König ist aufs Höchste verärgert über diesen Vorfall und erwartet eine Erklärung.«

Der angesprochene Soldat nickte ernst.

Zen Narim war ein fähiger Mann, der stolz auf seinen Posten als Erster Offizier war. Er enttäuschte seinen Herrn niemals und somit enttäuschte er ihn auch jetzt nicht.

Es dauerte keine zwei Tage, da hatte er jemanden aus dem Dorf gefunden, der ihm Erklärungen gab. Loyalität hatte grundsätzlich ihren Preis und man konnte sie sich schnell erkaufen. Der Verräter erzählte eine Geschichte von einem Assaren und einem Mädchen aus dem Dorf.

Die Neuigkeiten, die Zen Narim daraufhin seinem Herrn erzählte, zauberten ein erfreutes Lächeln auf Numa Kamus Gesicht. Rasch schrieb er einen Brief und sandte diesen unverzüglich seinem König zu. Der las ihn wenig später mit dem gleichen Interesse.

Im Gegensatz zu Kamu verdunkelte sich jedoch seine Miene vor Ärger. Alexej war sofort klar, um wen es sich bei dem Mann handelte. Gleichzeitig wunderte er sich über Elendars unvorsichtiges Handeln.

Als er weiter darüber nachdachte, begann sein Herz vor Freude wild zu schlagen. Zum ersten Mal in der langen Zeit seit Elendars Gefangenschaft hatte der König eine Lücke in dem undurchdringlichen Panzer des Assaren gefunden.

Er hatte sich verliebt. Das war die gesuchte Schwäche, mit der Alexej beabsichtigte, ihn ein für alle Mal in die Knie zu zwingen.

Mit Elendars Schwester hatte er keinen Erfolg gehabt. Aber mit dem Mädchen, das Elendar offensichtlich so liebte, dass er unvorsichtig wurde, hatte er hoffentlich bessere Chancen.

Alexej verfasste zwei Briefe. Den einen schickte er an Numa Kamu mit der Bitte, das Mädchen in seine Gewalt zu bringen. Er solle es festhalten, bis er, der König höchstpersönlich, nach ihm sehen würde.

Den anderen Brief schickte er an Samell Mi, den Oberbefehlshaber seiner Streitkräfte im Norden. Er befahl ihm, unverzüglich den Anführer der Assaren, Elendar Assaim, zurück nach Farreyn zu schicken. Der König persönlich beabsichtige, sich mit ihm zu treffen. Sofort. Augenblicklich. Unverzüglich.


Und so begannen sich die Mühlen der Shari zu bewegen. Sie bereiteten sich unauffällig darauf vor, gleich zwei Leben ein für alle Mal in ihren Fängen zu zermalmen. Noch ahnte keiner der beiden etwas von dem drohenden Unheil, doch als Elendar den Befehl erhielt, zurück zu Numa Kamus Festung zu reiten, wusste er Bescheid.

Der Verdacht war auf ihn gefallen. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Sirany unentdeckt blieb.

Sirany hingegen wurde an dem Tag, an dem Numa Kamu den Brief des Königs erhielt, verhaftet. Der Spitzel hatte ihren Namen verraten. Gleich zehn Soldaten klopften an ihre Haustür und drängten ihren Vater zur Seite, als dieser öffnete. Sie stürmten in das Haus, packten die völlig überraschte Sirany und schleiften sie aus ihrem Heim.

Sich zu wehren hatte keinen Sinn und somit ergab sie sich kampflos in ihr Schicksal, begleitet von den verzweifelten Schreien ihrer Mutter.

Man fesselte ihre Arme mit Stricken und führte sie hinauf in die Burg des Lehnsherrn. Sie passierten das riesige Eingangstor mit seinen vier Wachen, überquerten den dahinter liegenden Hof und betraten das dunkle Gebäude mit seinen kalten, tristen Mauern. Ihre Schritte hallten wie tot auf dem reglosen uralten Stein, echoten in den engen Gängen des Gebäudes eine Weile herum und verklangen ungehört tief unten in den Kerkern.

Sirany wurde in den Saal geschleift und da, am anderen Ende des riesigen, fast leeren Raumes, auf einer Art Rampe, stand Numa Kamu und wartete auf sie. Er entblößte vor Freude eine Reihe halb verfaulter Zähne. Was für eine Perle, dachte er für sich. Was für ein schönes Ding, das da zu meinen Füßen auf dem eisigen Boden hockt.

Er kannte das Mädchen nicht, da war er sicher. Dass es die Besserwisserin aus dem Dorf war – auf die Idee kam er nicht. Langsam stand er auf und kam zu ihr hinunter.

»Wie schade, dass ich dich nicht anrühren darf. Der König hat es verboten.« Er grinste böse. »Kein Grund, dich zu freuen. Unser Gottkönig persönlich kommt hierher, um sich deiner anzunehmen.«


Elendar erreichte in Rekordtempo das Schloss. Er hatte seinem neuen Pferd alles abverlangt und entschuldigte sich in Gedanken bei dem Tier, als er es halb tot bei einem Diener in Pflege gab.

Prüfend ließ er seinen Blick über den Burghof gleiten und konnte nichts Aufschlussreiches finden. Der Hof war ein bisschen zu sauber, und es standen ein wenig mehr Soldaten herum als gewöhnlich. Außerdem war der Stall mit mehr Pferden als sonst gefüllt. Ein Anzeichen dafür, dass gerade eine größere Gruppe Reiter angekommen war.

Insgeheim wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass er wegen etwas ganz anderem hierherbeordert worden war. Irgendetwas Nerviges, das sich Alexej wieder einmal hatte einfallen lassen, nur um den Assaren zu ärgern. Irgendetwas. Nur nichts, was mit Sirany zu tun hatte.

Wenn sich jedoch der König höchstpersönlich aufmachte, um hierherzureiten, musste es um mehr gehen als nur um ein wenig Zankerei zwischen zwei Erzfeinden. Alexej plante etwas und daraus konnte niemals etwas Gutes für die Assaren erwachsen.

In Gedanken betend folgte er einem der zahlreichen Diener. Der schmächtige kleine Mann wirkte verschüchtert und ängstlich. Er war wenig begeistert davon, einem der gefürchteten Assaren den Weg zu geleiten. Elendar, an diese Art von Behandlung bereits gewöhnt, bemerkte das seltsame Verhalten nicht einmal. Schweigend folgte er dem Mann auf einen Gang nach dem nächsten und straffte sich mit jedem Schritt.


Alexej hingegen pfiff fröhlich ein Liedchen vor sich hin, während er sich auf das bevorstehende Treffen vorbereitete. Gut gelaunt zog er seine Lieblingstunika an, knotete mit flinken Fingern seinen Gürtel und setzte sich mit Schwung die Krone auf. Dann starrte er einen Moment sein Spiegelbild an. Es grinste ihn mit blitzenden Zähnen breit an.

Gut gemacht, schien es zu sagen. Heute ist es so weit. Heute wirst du den Assaren in die Knie zwingen.

»Den heutigen Tag wirst du, Elendar, bis in alle Ewigkeiten verfluchen«, flüsterte der König zwischen gebleckten Zähnen hindurch.

Selbst ihm fiel der leicht wahnsinnige Ausdruck in seinen Augen auf. Er scherte sich nicht darum. Er war König, sogar Gottkönig! Jeder Mann in solch einer Position war ein wenig verrückt. Das brachte die Macht mit sich – und die vielen Momente des Triumphs.

Es klopfte und sein Sohn trat herein. Alexej sah im Spiegel, wie Raell ihn kurz musterte und sich jeden Kommentar verkniff.

»Du siehst blass aus, mein Sohn«, stellte Alexej fest und drehte sich mit Schwung um.

Dann breitete er die Arme aus.

»Wie sehe ich aus?«

»Wie ein König.«

»Gut.« Alexej grinste wieder breit und in Raells Brust wuchs ein dicker Sorgenknoten heran. »Dann kann es gleich losgehen.«

»Willst du mir nicht endlich sagen, was du überhaupt planst?«

Wieder ein breites Grinsen und ein besorgniserregendes Glitzern in den Augen seines Vaters. »Das ist eine Überraschung. Nur so viel sei gesagt. Heute ist der Tag der Abrechnung gekommen.«

 

Leise glucksend trat der König an seinem Sohn vorbei und stolzierte aus der Tür.

Sirany verstand die Welt nicht mehr. In einer Sekunde saß sie noch neben ihrer Mutter, in der nächsten stand sie ihrem Lehnsherrn gegenüber, der sie nicht anrührte, sie aber wie ein Stück Dreck behandelte. Er sperrte sie in einen schäbigen kleinen Kellerraum, setzte ihr trockenes Brot und etwas Wasser vor und ließ sie allein. Die ganze Nacht hindurch lehnte sie an der kalten Wand, zitterte und fror ganz erbärmlich. Kaum war die Sonne aufgegangen, ging ihre Tortur weiter.

Drei Frauen kamen zu ihr, rissen ihr die Kleider vom Leib und zogen ihr einen braunen Kittel an. Der erinnerte sie verdächtig an die Kleidung einer Küchenmagd. Eine der drei verwuschelte ihr noch mehr das Haar, dann traten alle drei zurück und betrachteten ihr vor Angst bebendes Werk.

»Schau mich nicht so herausfordernd an«, sagte die Erste zu Sirany. Sie hatte triste graue Augen und nur drei schiefe Vorderzähne im Mund. Ihr Atem stank zum Himmel und ihre Kleidung roch nach ranzigem Fett.

»Sie hält sich wohl für was Besseres«, bekräftigte die Zweite. Auch sie starrte vor Schmutz und ihre strähnigen braunen Haare hingen ihr wie tote Würmer ins Gesicht.

»Wir sollten ihr eine Lektion erteilen«, erklärte die Dritte. Ihre Augen glühten vor Grausamkeit, wie Sirany entsetzt erkannte.

Ehe Sirany reagieren konnte, hatte die Dritte ihr eine schallende Ohrfeige versetzt. In ihrem Ohr dröhnte der unverhoffte Schlag noch lange nach.

»Schon besser«, erklärten nun alle drei. Die Erste grinste böse. »Du steckst ganz schön in der Klemme, meine Kleine. Zeit, zu deinem verbotenen Gott zu beten. Oder flehe unseren Gottkönig an, dich zu erhören. Leider befürchte ich, dass du ihn mächtig erzürnt hast.« Ihr grässliches Lachen dröhnte in Siranys Ohren wie das schrille Gekreische einer Hexe.

»Zum Beten ist es ohnehin zu spät«, ergänzte die Dritte. Sie hob wieder die Hand, offensichtlich, um ihr Werk ein wenig auszuschmücken. Diesmal war Sirany darauf gefasst.

Sekunden später verwandelte sich der kleine Kellerraum in einen Käfig voller kreischender, keifender und brüllender Frauen. Sirany setzte sich zur Wehr.

Am Ende mussten drei Wächter den Kampf beenden. Sirany sah danach aus, als wäre sie einmal durch den Fleischwolf gedreht worden. Aber trotz ihrer bestialischen Schmerzen war sie zufrieden mich sich. Ihre drei Gegnerinnen sahen nicht minder mitgenommen aus.

Diejenige, die nach Fett stank, hatte nun keinen einzigen schiefen Zahn mehr, sondern jede Menge Blut im Mund. Die zweite mit den strähnigen Haaren hatte um einiges weniger Haare auf dem Kopf und die Grausame würde aus ihren zugeschwollenen Augen so schnell niemanden mehr gehässig anstarren können.

Einer der Wächter stieß Sirany unsanft aus dem Raum, rief den drei wutschnaubenden Weibern etwas sehr Unfeines zu und zerrte die sich windende junge Frau die Gänge entlang. Dann ließ er sie kurz vor einer Tür warten und stieß sie gleich darauf hindurch. Sirany taumelte, versuchte sich zu orientieren – und wurde hart vom nächsten Wächter auf die Knie gezwungen.

»Wie gewünscht, die Farreyn, mein Herr.«

Sirany wollte instinktiv aufblicken. Nur ein kurzer Blick, um zu schauen, wer ihr gegenüberstand. Doch für diese Dreistigkeit erhielt sie eine heftige Kopfnuss. Die Warnung saß. Sie hielt den Blick gesenkt und blickte geradewegs auf zwei rote Stiefel, die so auf Hochglanz poliert waren, dass sie nur von einem Edelmann stammen konnten.

»Das ist sie?«

Ihr Gegenüber klang nicht gerade begeistert.

»Ja, mein König.«

Sirany wurde schwindelig vor Angst. Tatsächlich passten die roten Schuhe perfekt zu ihrer Vorstellung von einem selbstherrlichen, heraus­geputzten König. Aber wenn ein König vor ihr stand und der König der Farreyn schon lange tot war, konnte hier nur …

»Ein bisschen unscheinbar, die Kleine«, erklärte Alexej just in diesem Moment genüsslich, packte Siranys Haare und riss ihren Kopf hoch.

Ein Blick aus grauen Augen huschte prüfend über ihr geschwollenes, aufgeplatztes Gesicht. »Ich hätte Elendar mehr Geschmack zugetraut.«

Oh Elendar, dachte Sirany verzweifelt. Wie sehr hast du dich geirrt! Er hatte ihr versichert, niemals dem König gegenüberstehen zu müssen. Und jetzt das. Ihr wurde mit einem Schlag übel. Der Gestank von drohender Gefahr schwebte wie ein Pesthauch im Raum. Was immer jetzt kommen mochte, es würde für sie beide ausgesprochen grausam werden.

Alexej ließ sie los, grinste breit und ging fort, ließ Sirany als zitterndes Bündel zurück. Sie wusste, dass ihr Leben von nun an nicht mehr dasselbe sein würde und versuchte sich so gut es ging zu wappnen. Doch auf das, was sie erwartete, hätte sie niemand vorbereiten können.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?