Der Gesang des Sturms

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Hier rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und weinte.


Es war Efnor, der Elendar in der Nacht weckte.

»Sirany ist im Wald und weint. Ich habe sie bei einem meiner Rundgänge gefunden. Sie weiß nicht, dass ich sie gesehen habe«, sagte er leise zu seinem Anführer.

Der war schneller auf den Beinen, als Efnor gucken konnte. Sekunden später waren sie auch schon unterwegs.

»Was macht sie zu dieser Zeit im Wald?«, fragte Elendar besorgt.

»Keine Ahnung. Das musst du sie schon selbst fragen.«

Genau das hatte Elendar vor. Als sie in die Nähe des besagten Baumes kamen, blieb Efnor zurück. Elendar bedankte sich stumm mit einem Nicken. Dann trat er auf die zusammengerollte Gestalt zu und zog sie aus dem Erdloch.

»Es ist gefährlich, sich unter einen entwurzelten Baum zu legen«, schalt er sanft und zog die weinende junge Frau zu sich auf den Schoß. »Man weiß nie, wie viel Spannung noch in dem toten Ding ist. Der Baum könnte zurückschnappen und dich unter seiner Wurzel zerquetschen.«

»Weißt du, wie egal mir das im Moment ist?«, schniefte Sirany.

Wie selbstverständlich legte sie beide Arme um seinen Hals und weinte an seiner Schulter. Ihre Berührungen ließen Elendar atemlos werden und ihr Duft verlangsamte sein Denken. Hastig konzentrierte er sich auf die Tatsache, dass sie offensichtlich sehr traurig war.

»Was ist passiert?«, fragte er sanft und erhielt zunächst keine Antwort. Nach einer Weile kam ein geschnieftes: »Ich hab dich vermisst«, was er sich zunächst einzubilden glaubte. Dann lächelte er. »Ich dich auch. Verzeih mir meine harschen Worte.«

Sirany lehnte sich zurück, um ihn besser sehen zu können. »Wirst du mich an Kuma verraten?«, fragte sie. »Falls er dich unter Druck setzt? Mit was auch immer? Ich wäre ein interessantes Geschenk für ihn.«

»Ich würde dich niemals verraten. Nie! Und schon gar nicht auf diese Weise.«

Sirany sah ihm eine Weile forschend in sein Gesicht und nickte beruhigt. »Meine Mutter macht sich deshalb große Sorgen. Sie sagt, dass du mit den falschen Leuten verkehrst und gefährlich für mich bist. Dieser Brief, den du bekommen hast. Er kam aus dem sharischen Königsschloss, nicht wahr? Das allein zeigt, dass an den Gerüchten was dran sein muss. Du kennst zu viele Shari und arbeitest für sie.«

»Deine Mutter ist eine kluge Frau. Sie hat recht. Ich arbeite mit Männern zusammen, die nicht besser sind als dieser Dreck unterm Baum. Ich muss aber für sie arbeiten. Mach dir keine Sorgen. Sie werden sich nicht für ein Bauernmädchen interessieren, solange sie nicht sehen, wie hübsch du bist.«

Sirany spürte, dass das nicht die volle Wahrheit war. Elendar war unwohl zumute. Sie hatte etwas angesprochen, was ihm selbst Sorgen bereitete. Etwas, das er ihr verheimlichen wollte. Sie nahm sich fest vor, herauszufinden, was genau das war. Welche Art von Verbindung unterhielt er zum Königshof? Was war das für ein Spion, der ihm Warnungen zukommen ließ?

Zunächst war sie froh, Elendar zurückzuhaben. Sie ließ sich erneut in seine Arme sinken und gestattete sich einen Moment, um sich auszuweinen. Die Gemeinheiten der Dorfmädchen steckten ihr tief in den Knochen. Sie hatte nicht erwartet, an dieser Front kämpfen zu müssen. Allerdings hatte sie den Streit gewonnen. Schon allein deswegen hatte sich Elendars Training bezahlt gemacht.


Sirany besuchte die Assaren von Stund an wieder. Es war ihr egal, was die anderen sagten, dachten oder schnodderig behaupteten. Sie fühlte sich in ihrem Dorf wie eine Gefangene und das Lager war ihr Zufluchtsort.

Schließlich hörte das Gerede auf. Das hatte zum einen damit zu tun, dass das Thema langweilig wurde, und zum anderen damit, dass auch die Mädchen begriffen, wie gefährlich ihr Getratsche sein konnte. Sirany ging zu einem Assaren. Zu einem Mann im Wald. So jemanden wollte man nicht verstimmen.

Das Verhältnis zwischen Elendar und Sirany normalisierte sich wieder. Elendar gab ihr wie zuvor Unterricht und sie brachte ihn als Gegenleistung zum Lachen. Das leichte Prickeln zwischen ihnen erwähnte keiner von beiden. Sie waren Freunde. Mehr nicht. Das redeten sie sich zumindest ein.

Nach ein paar weiteren Wochen schaffte Sirany es sogar, dass Elendar ein klein wenig aus seinem früheren Leben erzählte. Leider war es verworren und unzusammenhängend, da er die Hälfte ausließ und Sirany sich den Rest selbst zusammenreimen musste.

Er hatte zwei Schwestern gehabt. Die eine hieß Cloey und war gestorben. Woran, ließ er sich partout nicht aus der Nase ziehen. Sobald dieses Thema auch nur im Ansatz aufkam, blockte er ab und wechselte es geschwind. Die andere Schwester hieß Caina und lebte momentan in sharischer Gefangenschaft. Er schien ein sehr herzliches Verhältnis zu ihr gehabt zu haben.

»Sie war so schön wie die Morgenröte. Wenn sie den Raum betrat, wurde dieser ein Stückchen heller. Sie hatte braune Locken und weigerte sich, sie zusammenzubinden. Abends weinte sie oft, wenn Mutter sie kämmte, denn ihre Haare waren hoffnungslos ineinander verknäuelt. Danach brauchte ich meist mehrere Minuten, um sie wieder froh zu stimmen.«

»Und dein Vater? Erzähl mir von deinem Vater.«

»Er war ein Krieger und ein Bauer. Morgens hat er mit mir geübt. Schwertkampf, Bogenschießen, Selbstverteidigung, halt die Sachen, die wir gerade tun sollten.«

Statt zu trainieren, lagen sie nebeneinander im Laub der Bäume und starrten hinauf zu den Kronen, die sich wie ein mächtiges Dach über sie erstreckten. Der Himmel war nicht zu sehen.

»Sobald der Hahn krähte, rief uns meine Mutter herein und wir frühstückten. Danach ging ich meist zu unserem Dorfältesten, der uns ein wenig in den weltlichen Dingen unterrichtete und uns Lesen und Schreiben lehrte. Mein Vater ging in dieser Zeit allein aufs Feld oder kümmerte sich um Haus und Hof. Ab Mittag wurden die Mädchen bei uns unterrichtet und wir Jungen wurden zur Feldarbeit geschickt. Ich musste meistens die größeren Steine von unseren Feldern tragen. Es ist mühsam, in unseren Bergen etwas anzubauen. Das Geröll wächst dort wie Pilze aus dem Boden. Und wenn ich genug Geröll geschleppt hatte, war es meist später Nachmittag. Dann wurde ich zum Spielen nach draußen geschickt. Hauptsache, ich bewegte mich noch ein wenig, sonst wurde ich abends nörgelig und wollte nicht ins Bett.« Jetzt grinste Elendar breit.

»Wie alt warst du da?«

»Fünf oder sechs. Als ich acht Jahre alt wurde, habe ich meine Ausbildung zum Dachdecker angefangen.«

»Du warst Dachdecker?«

Siranys Augenbraue wanderte bis unter ihren Haaransatz und ihr Unglauben beleidigte Elendar beinahe.

»Nicht wirklich. Wie gesagt. Ich fing die Ausbildung erst an. Bei uns bestehen die Dächer aus Stroh. Kinder sind schön leicht und können daher die Dächer am ehesten mit Stroh auslegen. Das ist keine besonders anspruchsvolle Arbeit. Wenn man diese Ausbildung hinter sich gebracht hat, wird einem beigebracht, ganze Hütten zu bauen. Dazu gehört Bäume fällen, Zersägen, Zurechtschneiden, Zusammenzimmern … halt das Übliche.«

»Aber?«

»Was, aber?«

»Du hast diese zweite Ausbildung nicht mehr gemacht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Die Shari kamen, Sirany. Da brauchten wir niemanden mehr, der die Dächer mit Stroh auslegen konnte, weil es keine Häuser mehr gab, die es zu bearbeiten galt. Wir brauchten auch niemanden mehr, der Hütten bauen konnte, weil es niemanden mehr gab, der sie hätte bewohnen können.«

Ein kurzes Schweigen folgte.

»Ich hasse es, wenn du das machst.«

»Was?«

»In einer Sekunde erzählst du mir etwas über deine glückliche Kindheit, in der nächsten haust du mir den Tod um die Ohren.« Sirany seufzte tief. »Ich bin selbst schuld. Was frag ich auch so dumm.«

Elendar starrte blicklos hinauf zu den Bäumen und wirkte regelrecht entrückt.

»Meine Kindheit endete leider sehr abrupt mit dem Eintreffen der Shari. Es gab keinen sanften Übergang. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr so wie bisher.«

»Wie alt bist du?«

»Einundzwanzig.«

»Und wann kamen die Shari?«

»Da war ich acht.«

»Deine Eltern starben bei dem Angriff?«

»Ich nehme es an.«

Wie immer gestaltete sich ein Gespräch mit Sirany urplötzlich zu einer Frage- und Antwortstunde und Elendar fühlte sich wie bei einem Verhör, nur ohne Folter.

»Das weißt du nicht? Warum weißt du das nicht?«

Elendar schloss die Augen, um die Welt oder auch den Schmerz auszublenden. »Ich habe meinen Vater nie wiedergesehen. Deshalb nehme ich an, dass er bei dem Angriff ums Leben kam oder danach umgebracht worden ist. Es ist egal, denn er lebt auf keinen Fall mehr. Meine Mutter … ich weiß es nicht. Lass gut sein, Sirany.«

Mit einem Ruck richtete er sich auf und stand auf. Sie war zu weit gegangen. Seufzend erhob auch sie sich aus dem Laub und klopfte sich die Kleider ab.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was man als Achtjähriger empfinden muss, wenn die ganze Familie auf einmal nicht mehr da ist. Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, was ich machen sollte, falls meinen Eltern etwas zustoßen würde.«

»Dann würdest du bei mir bleiben«, sagte Elendar leichthin.

Während Sirany ihn mit offenem Mund anstarrte, warf er ihr auch schon ihren Bogen hin. »Na los, du faules Tier. Du musst noch viel lernen.«

 

Kapitel 7

An Siranys neunzehntem Geburtstag erschütterte ein gewaltiger Sturm das ganze Land. Ab Mittag grollte eine Böe nach der nächsten über Wald, Wiese und Dorf, ließ das Holz knacken und die Tannen stürzen. Ein Heulen und Donnern hing wie eine tödliche Drohung über ihren Köpfen und bei jedem Krachen erschrak Sirany.

Der Wald fiel regelrecht in sich zusammen.

Im Haus ihrer Eltern herrschte ebenfalls Chaos. Sie hatten alle ihre Tiere in den Wohnraum geholt, denn die Hühner in dem klapperigen Hühnerhaus wären schon längst vom Wind weggeweht worden und die Ziegen und die drei Kühe schon lange panisch fortgaloppiert.

Das Gatter, das normalerweise ihre Weide markierte, lag platt auf dem Erdboden, als wäre eine ganze Armee über es hinweggetrampelt.

Ein Blitz erhellte das Zimmer. Der darauffolgende Donner tat sogar in den Ohren weh. Die Hühner gackerten, die Ziegen meckerten und die Kühe muhten. Sie hatten Ziegen und Kühe fest an die nächste Wand gebunden und jetzt sprangen die Tiere panisch in ihrem geringen Bewegungsfeld hin und her. Die Hühner flatterten aufgeregt im ganzen Zimmer herum und man musste achtgeben, damit man nicht versehentlich auf sie trat.

Aileen ließ sich auf ihre Knie sinken und begann zu beten, während Sarn unruhig im Zimmer hin und her wuselte und besorgte Blicke auf die vom Wind gebeutelte Scheune warf. Sirany machte sich eher Sorgen um ihr Haus, das wie ein Verwundeter stöhnte und ächzte.

Plötzlich ertönte ein seltsames Brummen, das von weit hinter den nördlichen Wäldern heranpreschte. Es wurde lauter und lauter und erfüllte mit einem Mal den ganzen Raum, übertönte sogar das angst­erfüllte Geheul der Tiere.

»Oh Gott«, sagte Sarn. »Da kommt eine gewaltige Böe auf uns zu.«

Mit einem Satz packte er Sirany, warf sie zu seiner Frau auf den Boden und beugte sich schützend über Frau und Kind.

Das Krachen berstenden Holzes kam näher, dann erschütterte ein gewaltiges Beben das ganze Haus. Sekunden später wirbelten Splitter und Steine um Sirany herum und sie schrie vor Angst und Schmerz.


Gewaltige Winde hatten einen Großteil des Dorfes platt gewalzt. Später würde man dieses Wetterphänomen als Orkan bezeichnen, der seit diesem ersten Mal regelmäßig in den Regionen auftauchte.

Der Sturm hatte ein Drittel des Waldes zerstört. Hauptsächlich waren die wenig verwurzelten Tannen umgestürzt, und überall, wo sich Laubbäume angesiedelt hatten, standen sie wie unheimliche Überlebende inmitten eines Meeres aus totem Gehölz.

Am wenigsten Schaden hatten die Burgen genommen. Die gewaltigen Bauten aus Stein warfen sich dem Sturm entgegen, und obwohl der mächtige Orkan alles darangesetzt hatte, sie zu zerstören, hatte er es dennoch nicht geschafft.

Am Abend der Katastrophe sah das Land der Farreyn aus, als hätte eine gewaltige Faust ausgeholt und einmal kräftig auf die Erde gehauen. An manchen Stellen war außer Schutt und Staub nichts mehr übrig geblieben, an anderen stand noch der eine oder andere Baum und in manchen Bereichen sah es aus, als hätte es den Sturm nie gegeben.

Siranys Dorf war ein Zwischending aus allem.

Die Burg hatte den Sturm gut überstanden und die im Land verbliebenen Shari, die sich dort in Sicherheit gebracht hatten, lebten noch. Das Dorf selbst war zweigeteilt. In dem einen Teil herrschte Verwüstung, Tod und eine seltsame Stille, in dem anderen standen die Hütten noch teilweise. Die ersten Überlebenden kletterten aus ihren windschiefen Verstecken und ein überwältigendes Geschrei erfüllte die Luft.

Sirany und ihre Eltern befreiten sich als eine der Ersten aus dem Chaos ihres Heims. Gemeinsam rannten sie ins Freie. Das halbe Dorf lag in Schutt und Asche. Allmählich regte sich hier und dort etwas Lebendiges und kroch zwischen den Trümmern hervor.

Die Hütte der kleinen Familie stand sogar noch halbwegs. Eine Kuh war vor Schreck tot umgefallen und lag nun in einer Ecke, die andere war halb wahnsinnig vor Angst. Die Ziegen standen zitternd zusammengedrängt und gaben keinen Laut von sich und die Hühner waren so dünn wie Spargel.

»Wir leben noch«, stellte Sarn trocken fest und umarmte ganz fest seine Frauen. Einen Moment hielten sie einander fest an den Händen. »Ich wünschte, wir hätten dir einen schöneren Geburtstag bereiten können.«

Erst nach einigen Minuten brachte Sirany den Mut auf, Richtung Wald zu blicken. Er war noch da, aber wie sah er aus? Bäume lagen über Bäume, Gestrüpp über Gestrüpp. Vereinzelt hörte sie das Krachen erst jetzt umstürzender Tannen, dann senkte sich wieder Stille über den Wald.

»Elendar«, sagte Sirany leise.

Ihre Mutter legte einen Arm um sie und zog sie tröstend an sich.


Die Shari mochten grausam und menschenverachtend sein, aber sie waren keine Monster. Es gab viele Soldaten, die sich nach dem ersten Schreck daran beteiligten, den Bewohnern des eroberten Landes zu helfen, und auch die neu eingesetzten Lehnsherren reagierten auf die Not der Bauern.

Befehle wurden erteilt, den Menschen zu helfen. Tausende Soldaten tauschten ihre Schwerter gegen Axt und Säge ein und begannen, Verschüttete, Verwundete und Tote aus den Trümmern ihrer Häuser zu ziehen.

Das war natürlich nicht ganz uneigennützig. Wie wertvoll war das Land für sie, wenn es in Schutt und Asche lag? Ein verschütteter Bauer brachte keine Ernte ein und keine Ernte bedeutete eine schlechtere Versorgung der Armee.

Nicht alle Shari waren froh darüber, den Menschen ihre Hilfe anbieten zu müssen. Viele hielten das für reine Zeitverschwendung. Sollten sich die Farreyn gefälligst selbst retten. Was hatten sie damit zu tun? Waren nicht auch zahlreiche Shari im Sturm umgekommen? Viele meinten, dass man sich in erster Linie um die eigenen Verwundeten und Toten kümmern sollte.

Sirany stand in den ersten Stunden nach dem Sturm unter Schock. Wie in Trance half sie ihrem Vater, die Nachbarsfamilie aus ihrer Hütte zu befreien. Sie lebten noch alle, doch ihr Heim war zerstört.

Ständig warf Sirany einen erschütterten Blick zum Wald, der schweigend und anklagend dastand. Ein Monstrum aus umgestürzten Bäumen. Ihr Herz wurde schwer und ihre Kehle schnürte sich zu.

Die ansässigen Adligen der Shari hatten sich bisher hauptsächlich um sich selbst gekümmert. Sie riefen die letzten helfenden Soldaten zu sich auf die Burg, damit sie dort aufräumen konnten. Die Dorfbewohner waren vorerst ihrem Schicksal überlassen.

Dann, am selben Abend, ging ein Raunen durch die Menge der Überlebenden. Eine Gruppe Männer trat zwischen den entwurzelten Bäumen hervor und kam vom Waldesrand zu ihnen herüber. Sie führten einige wenige Ponys bei sich. Die meisten waren zu Fuß. Viele humpelten oder stützten sich auf andere Kameraden, andere hatte man auf die Rücken der Tiere gebunden. Sie regten sich nicht.

Es war ein trauriger Zug.

Je näher die Krieger kamen, desto unheimlicher wirkten sie. Sie trugen überwiegend Schwarz und nur der mit Fellen behangene Efnor stach wie immer hervor. Schwerter und Messer blitzten im schwindenden Licht der Sonne.

Unwillkürlich verharrte das ganze Dorf mitten in der Bewegung und wich instinktiv vor den Fremden zurück.

Und dann, endlich, erkannte Sirany Elendar. Er hielt sich sehr aufrecht und ging mit finsterer Miene und entschlossenen Schritten voran. Seine Kleidung war an einigen Stellen zerrissen, sein Gesicht blutig und zerkratzt. Ansonsten musste er den Sturm gut überstanden haben.

Sein stechender Blick glitt unruhig über die Masse schweigender Dorfbewohner und verharrte für einige wenige Sekunden auf Siranys Gesicht. Augenblicklich entspannte er sich ein wenig, nur sichtbar für Sirany und seine Männer, die ihn sehr gut kannten. Dann trat er an ihnen vorüber und ging, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, schnurstracks Richtung Burg.

Siranys Herz klopfte weiterhin viel zu schnell, als die Assaren schon längst nicht mehr zu sehen waren.


Am nächsten Morgen kehrten die unverletzten Assaren zurück. Es waren nur wenige, um die fünfzehn Mann. Ohne ein Wort zu sagen, traten sie an die Seite der Dorfbewohner und packten mit an.

Den Farreyn war nicht wohl in ihrer Haut, doch niemand wagte es, die Fremden fortzuschicken, zumal die geschickten und kräftigen Hände der Assaren wirklich dringend gebraucht wurden.

Elendar war ebenfalls unter ihnen. Er diskutierte kurz mit dem Dorfältesten, ließ den wild gestikulierenden alten Mann nach wenigen Minuten ärgerlich stehen und wandte sich der ersten Hütte zu. Siranys Nähe mied er, als hätte sie die Pest. Das tat weh, war jedoch notwendig. Auch Sirany bemühte sich nach Kräften, sich nichts anmerken zu lassen.

»Das ist er?«, fragte Aileen sie leise und deutete mit einem Nicken auf den Assaren, von dem sie Geschichten gehört, ihn jedoch noch niemals gesehen hatte.

»Das ist er«, bestätigte Sirany im Flüsterton. »Und bitte starr ihn nicht so an, Mama.«

Aileen warf ihrer Tochter einen undefinierbaren Blick zu, dann füllte sie mit Schwung eine Schale mit Hirsebrei und lief los.

Sirany hörte sofort auf, in dem riesigen Bottich zu rühren. Er war notdürftig mit Hirse, Wasser und Milch gefüllt. Ein karges Mahl, aber besser als nichts. Besorgt beobachtete sie, wie ihre Mutter an Elendar herantrat und ihm die Schüssel hinhielt.

Was Aileen sagte, konnte Sirany nicht verstehen. Sie hätte ihr rechtes Ohr dafür hergegeben und das Herz klopfte ihr fast schmerzhaft in der verkrampften Brust.

Es war das erste Treffen zwischen Siranys Mutter und Elendar. Es sollten für lange Jahre die einzigen Worte sein, die sie miteinander wechselten.

»Ihr seid also Elendar?«

»Der bin ich.«

Aileen überreichte ihm die Schüssel und starrte ihn an, als wollte sie ihn durchleuchten. Was immer sie sah, schien sie zu beunruhigen.

»Ihr seid ein Assar und sie ist eine Farreyn. Vergesst das nicht. Sie ist jung und versteht von bestimmten Dingen nichts.«

Eine unangenehme Pause trat ein, in der sich Elendar und Aileen stumm maßen. »Wenn Ihr meiner Tochter etwas zuleide tut, bringe ich Euch um. Ganz egal, ob Ihr ein Assar seid. Ihr seid trotzdem sterblich. Vergesst nicht, dass ich eine liebende Mutter bin … und sie ist mein einziges Kind.«

Ein letzter warnender Blick, dann wandte sich Aileen zum Gehen. Elendars leise Stimme hielt sie noch einmal auf. »Habe ich trotzdem Euren Segen?«

Aileen seufzte tief. »Ja, den habt Ihr.«

Damit ging sie raschen Schrittes zurück zu ihrer Tochter. Elendars und Siranys Blicke trafen sich einen Moment. In Elendars Gesicht konnte Sirany nicht ablesen, was er empfand. Ihre Unruhe wuchs.

»Was hast du zu ihm gesagt?«, fragte Sirany scharf, kaum dass ihre Mutter wieder neben ihr stand und die nächste Schüssel mit Brei füllte.

»Nichts.«

»Mutter.«

»Ich habe ihm erklärt, dass ich ihn umbringen werde, wenn er dir etwas antut.« Augenblicklich sah sie ihre Tochter erbleichen. »Und ich habe euch meinen Segen gegeben«, setzte sie beruhigend hinzu und sofort kehrte die Farbe in Siranys Gesicht zurück.


Die nächsten Tage standen ganz im Zeichen des Aufbaus. Insgesamt waren zwölf Dorfbewohner und sieben Assaren ums Leben gekommen. Man bestattete die Toten getrennt und ging übergangslos in den Hüttenbau über. Die Assaren arbeiteten hart am Tag und verschwanden spurlos in der Nacht.

Sirany nahm an, dass sie im Wald ihr eigenes Lager wieder aufbauten.

Zack half ihrer Familie bei der Hütte und war dabei ausgesprochen mundfaul. Allmählich dämmerte Sirany, dass die Assaren den Befehl von Elendar erhalten hatten, sich möglichst wenig mit den Dorfbewohnern einzulassen. Gespräche zwischen den Völkern waren somit auf das Notwendigste beschränkt.

 

Elendar tat alles, um Sirany nicht über den Weg zu laufen. An manchen Tagen sah sie ihn nicht ein einziges Mal und das schmerzte sehr. Sie vermisste die Gespräche und sehnte sich sogar nach dem Schweigen, das häufig zwischen ihnen geherrscht hatte. Ihn so nah bei sich zu wissen und ihm dennoch nicht nahe sein zu können, war quälend.

Irgendwann gab es für die Assaren nicht mehr viel zu tun und sie blieben fort. Das normale Leben hatte sie eingeholt und das Erlebte wirkte nunmehr wie ein seltsamer Traum. Ab und zu hörte man ein Rumoren im Wald, ein grummelndes Zeugnis, dass die Assaren im Wald Ordnung schafften.

Ihre Eltern verboten Sirany, für die nächste Zeit in den Wald zu gehen. Nachträglich umfallende Bäume bedrohten jeden Wanderer und auch die Pfade waren nicht begehbar.

Es war eine lange und zähe Zeit für Sirany.

Irgendwann, es war tiefste Nacht, hielt sie es nicht mehr in ihrem Bett aus. Eine unheimliche Sehnsucht hatte sie erfasst und ihr Herz flatterte in ihrer Brust wie ein gefangener Vogel. Sie wusste, was es zum Verstummen bringen konnte, und stand auf. Leise zog sie sich an, entschuldigte sich in Gedanken bei ihren Eltern und schlich sich aus der Hütte.

Der Mond stand hell und klar am Firmament und gelbliche Sternen­punkte sprenkelten den Himmel. Das Licht reichte problemlos, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.

Sirany war nervös und zittrig. Sie hatte Angst, das Lager nicht finden zu können oder sich im Wald zu verlaufen. Er wirkte anders und bedrohlicher als sonst. Der Pfad, dem sie sonst gefolgt war, existierte nicht mehr. Mühsam erkämpfte sie sich ihren Weg über umgestürzte Bäume, balancierte auf entwurzelten Stämmen und kletterte über gigantische Wurzeln. Bei jedem Knarren hielt sie erschrocken inne und lauschte. Der Wald war zur Ruhe gekommen, der letzte Baum war gefallen. Trotzdem gab sich Sirany nicht der Illusion hin, sicher zu sein.

Etwas knackte neben ihr und sie schrie erschrocken auf, als sie einen Mann im Schatten erkannte. »Ganz ruhig, Sirany. Ich bin es«, brummte der Assar und trat nahe genug heran, dass sie ihn identifizieren konnte. Es war Harun, ein schweigsamer junger Mann, der in der Masse der Assaren unterging.

»Ich hab heute Nachtwache«, erklärte er sich. »Wollte dich nicht erschrecken.«

Sirany nickte zittrig und deutete in Richtung Lager.

»Ist es an der gleichen Stelle zu finden?«

Harun verneinte. »Ich bring dich hin«, bot er an. »Elendar wird nur nicht erfreut sein, dich zu sehen.«

»Ach nein?«

»Er hat gesagt, du sollst nicht allein in den Wald gehen. So dumm wärst du nicht, hat Efnor darauf gesagt. Wär schließlich viel zu gefährlich. Du kennst Sirany nicht, hat Elendar gesagt. Nein, er wird nicht erfreut sein. Willst du trotzdem mit?«

»Ja.«

»Auf deine Verantwortung. Er wird dir den Kopf abreißen.«

Trotz der Warnung folgte Sirany dem Assaren. Schweiß stand ihr auf der Stirn und in ihrem Magen rumorte es. Sie hatte sich auf Elendar gefreut. So wie es aussah, er sich nicht auf sie.

Er sorgt sich, dachte sie, und sofort war das Kribbeln und Prickeln in ihrem Inneren zurück. Sie brauchte eine Weile, um es als Vorfreude zu identifizieren.

Sie erreichten das neue Lager. Es sah anders aus, viel kleiner. Die Zelte erschienen noch unordentlicher und geflickter und es waren weniger geworden. Die Feuerstelle wirkte traurig und verlassen. Selbst die Glut, die darin vor sich hin glomm, strahlte weniger Wärme aus als die alte.

»Wecken kannst du ihn aber allein«, brummte Harun. »Ich bin ja nicht lebensmüde.«

Fahrig deutete er auf eines der aus Stofffetzen zusammenge­nähten Zelte. An den kleinen ordentlichen Stichen erkannte sie Elendars Handschrift. »Viel Erfolg. Ich geh dann mal wieder auf meinen Posten.«

Sirany bedankte sich leise und stand lange reglos vor dem Zelt. Um sich herum vernahm sie leise schnarchende Geräusche und das Rumoren sich drehender Schläfer. Ein Mann brummelte im Traum vor sich hin.

Tief durchatmend sprach sie sich selbst Mut und ihren Nerven Stärke zu und betrat das Zelt. Es war winzig und bot gerade einmal Platz für einen Mann, einen Sattel und ein wenig Gepäck.

Sirany stand nicht ganz drin, da setzte sich Elendar auch schon kerzengerade auf und griff instinktiv neben sich. Dort lag, wie Sirany genau wusste, sein Schwert, griffbereit und jederzeit einsatzfähig.

»Ich bin es«, beeilte sich Sirany zu sagen und eine Mischung aus Unglauben und Verwirrung malte sich auf Elendars Gesicht ab.

Er musste die Lage recht schnell erfasst haben, denn er stand sofort auf und trat zu ihr. Das Zelt war zu niedrig, als dass er sich hätte aufrichten können, und so musste er gebückt dastehen.

Jetzt schreit er mich an, dachte Sirany, doch da irrte sie sich. Er lächelte und nahm sie so unvermittelt in die Arme, dass sie vor Schreck quiekte. Er hatte ohne Hemd geschlafen, aber, dem Himmel sei Dank, zumindest mit Hose. Allzeit bereit, dachte Sirany mit einem Anflug von Wehmut. Sie spürte seine nackte Haut unter ihren Fingern und seine Muskeln unter ihren Armen.

»Dummes Mädchen«, sagte Elendar leise, dann hob er sie ein kleines Stück vom Boden hoch und lachte glücklich.

Sirany grinste erleichtert und zappelte in seinem Griff, bis er sie wieder absetzte.

»Normalerweise verfluche ich deine Sturheit. Heute mag ich sie wirklich außerordentlich«, setzte er hinzu und sah sie mit einem seltsamen Blick an, der Siranys Beine weich werden ließ.

Sie schwiegen und nur das Klopfen ihrer Herzen hing zwischen ihnen in der Luft. Ihnen war die seltsame Zeit nur allzu bewusst. Die Wärme des anderen machte sie atemlos und ihre Gedanken drängten in die gleiche Richtung.

Als Elendar langsam seine Hand hob, um sie auf Siranys Wange zu legen, schloss diese mit einem leisen Seufzen die Augen. Elendars Berührung fühlte sich verzerrt überdeutlich an.

Sie erwartete den kommenden Kuss, doch als er kam, hätte sie am liebsten vor Enttäuschung geweint. Elendar küsste sie mitten auf die Stirn. Wie ein Bruder, wie ein Vater. Zwar sanft und auch schön, aber es war nicht das, was sie erwartet hatte. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, stand jedoch vor Überraschung wie erstarrt da.

Seine Lippen lagen weiter auf ihrer Haut und er zog sie so fest an sich, dass sie sich kaum rühren konnte.

»Nicht hier. Nicht so«, flüsterte er leise.

Sirany konnte sein Verlangen nach ihr spüren, fühlte sein heftig schlagendes Herz an ihrer Brust. Trotzdem verbat er sich das, wonach er sich offensichtlich sehnte.

»Elendar …«, setzte Sirany an, doch er gebot ihr zu schweigen, indem er ihr einen Finger auf den Mund legte.

»Vertrau mir.« Er trat einen großen Schritt von ihr fort.

Es war, als hätte man ihr einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Nicht dass sie mit der festen Absicht hierhergekommen wäre, Elendar in dieser Nacht zu verführen. Das nicht. Sie hatte ihn lediglich sehen, mit ihm sprechen müssen. Jetzt wollte sie auf einmal mehr und sie sah in seinen Augen, dass auch er ganz ähnlich dachte. Warum lehnte er sie trotzdem ab?

Elendar hob sein Hemd vom Erdboden auf, zog es sich über und nahm schweigend Siranys Hand. Sie sträubte sich leicht, doch er zog sie hinüber zu seiner Stute, legte dem Tier geschickt ein Halfter um und setzte Sirany auf den nackten Pferderücken. Dann schwang er sich hinter der jungen Frau aufs Pony, wendete das Tier und ritt hinein in den Wald.

Er hatte sich niemals so lebendig, so leicht gefühlt. Sirany erfüllte seinen ganzen Körper und ihre Anwesenheit legte sich wie Medizin auf sein Herz. Er spürte ihre Verwirrung und ihren Frust und rechnete es ihr hoch an, dass sie ihn nicht mit Fragen löcherte. Vielleicht spürte sie auch, dass er genau wusste, was er tat.

Ihr Körper zwischen seinen Beinen bereitete ihm Probleme, aber er zwang sich, vernünftig zu bleiben. Chuaya bahnte sich geschickt ihren Weg zwischen den entwurzelten Bäumen und spielte nervös mit den Ohren, als ihr Reiter sie nicht wie gewohnt Richtung Dorf lenkte.

Auch Sirany bemerkte die veränderte Wegstrecke. Unwillkürlich begann ihr Herz zu rasen. Womöglich war doch nicht alles verloren.

Die Stute trottete eine Weile vor sich hin, dann hielt Elendar sie mit einem sanften Zupfen am Zügel an.

»Dort«, sagte Elendar und deutete mit der Hand zwischen den Stämmen zweier Ulmen hindurch.

Sirany erkannte dahinter den still daliegenden Teich, auf dessen Wasser sich nun golden der Glanz des Mondes widerspiegelte. Zwei Enten schliefen darauf, die Köpfchen unter die Flügel gesteckt. Nur ab und zu paddelten sie mit den Füßen.