Der Gesang des Sturms

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Kapitel 5

Einige Wochen später waren Elendar und seine Männer nicht mehr im Wald zu finden. Das Lager lag einsam und verlassen da, die Pferde waren verschwunden und nur die Zelte standen wie schweigende Hüter herum. In den ersten Tagen machte sich Sirany keinen Kopf darüber, denn die Männer blieben häufig fort. Wenn sie wieder da waren, wusste Sirany, dass sie einige Tage nichts im Lager zu suchen hatte. Elendar war in dieser Zeit ausgesprochen mürrisch und schätzte ihre Gesellschaft ganz und gar nicht. Was immer die Reiterschar zu erledigen hatte, es ging ihrem Anführer offensichtlich an die Substanz.

Sirany fragte nicht näher nach, denn im Grunde wollte sie es nicht wissen. Elendars Arbeit war schmutzig und blutig und passte nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm erschaffen hatte.


Die Tage vergingen und allmählich wurde Sirany nervös. Sie waren mittlerweile deutlich länger fort als üblich. War etwas geschehen? Ihre Eltern bemerkten ihre Unruhe, sagten aber nichts. Sobald ihre Tochter wie eine gefangene Tigerin hin und her lief, hatte es etwas mit den Assaren zu tun.

»Ich glaube, sie sind fort«, sagte sie eines Abends und sie klang so traurig, dass ihre Mutter sich bewogen fühlte, sie in den Arm zu nehmen.

»Dann hätte er sich verabschiedet«, erwiderte Aileen und das beruhigte Sirany ein wenig.

Elendar hatte befürchtet, dass sie aus den Wäldern verschwinden mussten. Hatte er womöglich keine Zeit gehabt, sich zu verabschieden? Es überraschte Sirany selbst, wie entsetzlich sie diesen Gedanken fand. Den restlichen Tag über war sie das reinste Nervenbündel.

Dann kam der Abend und die Sonne verabschiedete sich hinter dem Horizont. Die Vögel stellten mit dem schwindenden Licht das Singen ein und während Sirany im letzten verbliebenden Licht die Wäsche hereinholen wollte, sah sie ihn.

Er stand am Waldrand und blickte zu ihr hinüber.


Sirany brauchte nicht lange, um eine Entscheidung zu fällen. In Windes­eile klaubte sie das bisschen Wäsche von den Leinen, hastete ins Haus zurück, stellte den Korb in eine Ecke, schnappte sich einen Mantel ihres Vaters und war auch schon wieder hinaus. Kurz bevor die Tür hinter ihr zuschlug, rief sie noch, sie sei mal kurz weg.

Die nächsten Schritte unternahm sie mit Bedacht, denn der Weg in den Wald war weiterhin gefährlich und man musste vorsichtig sein. Die meisten Soldaten waren abgezogen, doch Kumas Wachen patrouillierten weiterhin. Sirany war aber mittlerweile so geübt im Schleichen, dass sie die schützenden Bäume ohne Probleme erreichte.

Elendar erwartete sie schweigend und lächelte, als er Sirany vor sich stehen sah. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet, ansonsten wirkte ihr Gesicht blasser als sonst. Sie trug ihr Haar offen und ihr Kleid war eher zum Schlafen gedacht. Der Mantel, den sie sich angezogen hatte, war definitiv nicht ihr eigener und schleifte aufgrund seiner Überlänge auf dem Erdboden.

»Ich hatte solche Angst, dass ihr fortgegangen seid«, sagte sie voller Inbrunst, dann umarmte sie ihn völlig überraschend.

Als Elendar seine Arme fest um ihren Körper legte, registrierte er zum ersten Mal, wie klein und zierlich sie war. Wie eine zerbrechliche Puppe schmiegte sie sich einen winzigen Moment an ihn, legte ihren Kopf an seine Brust und drückte ihn fest. Es war, als gehörte sie dorthin, als wäre sie genau für ihn erschaffen worden. Es fühlte sich gut und richtig an und bei diesem Gedanken begann Elendars Herz zu rasen und kalter Schweiß brach ihm aus.

»Wir sollten hier nicht gesehen werden«, sagte er leise und löste sich widerwillig von ihr. Er nahm ihre Hand und zog sie in den Wald hinein. Sie folgte ihm.

»Du siehst müde und erschöpft aus.«

»Ich weiß.«

»Du solltest schlafen.«

»Ich wollte dich vorher sehen und dir sagen, dass wir wieder zurück sind.« Elendar blieb unvermittelt stehen und fasste Sirany an der Schulter. Er sah schrecklich müde aus. Schwarze Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet, das Weiß um die braunen Iriden war mit roten Adern durchzogen. Außerdem war er über und über mit Dreck besudelt.

»Sirany, es tut mir leid. Ich hätte dich bei unserem letzten ernsten Gespräch nicht verunsichern dürfen. Wenn wir den Wald endgültig verlassen, werde ich es dir sagen. Versprochen.«

Irgendetwas stimmte nicht. Sirany musterte ihn prüfend und bemerkte die seltsame Blässe seiner Haut.

»Bist du krank?«

»Nein.«

Das kam ein bisschen zu schnell.

Sie wand sich aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück, um ihn ganz in Augenschein nehmen zu können. Erst jetzt bemerkte sie, dass er leicht nach vorn gebeugt dastand, als könnte er sich nicht richtig aufrichten.

»Ich bringe dich ins Lager«, sagte sie kurz angebunden und wollte entschlossen losgehen. Elendar hielt sie mit einer Hand auf.

»Nein. Du gehst zurück zu deinen Eltern.«

Ihre Blicke trafen sich und Elendar seufzte innerlich, als er die Entschlossenheit in Siranys Augen sah.

»Ich bringe dich ins Lager«, wiederholte sie stur. »Ich will mit eigenen Augen sehen, dass du dich hinlegst, und ich will sehen, dass alles in Ordnung ist.« Damit ging sie auch schon los und Elendar blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Elendars Bewegungen waren dabei unnatürlich langsam. Siranys Sorge wuchs.

Als sie das Lager erreichten, herrschte dort eine seltsame Stille. Viele der Männer mussten sich bereits in die Zelte zurückgezogen haben und nur wenige saßen um das Feuer herum. Sie wirkten mürrisch und zerknirscht, standen aber auf, als sie Sirany bemerkten.

Sie grüßte freundlich, blieb stehen und wartete auf Elendar, der langsam zu ihr aufschloss. Sie erkannte Efnor in der Gruppe wartender Männer. Überrascht bemerkte sie seine verärgerte Miene und erschrak, als er Elendar mit vorwurfsvollen Worten angriff. »Du solltest sie nicht hierherbringen.«

Elendar winkte müde ab. »Ich bin sicher, die Toten haben nichts dagegen. Es waren auch ihre Freunde. Sie hat ein Anrecht darauf, bei der Beerdigung dabei zu sein.«

Tote? Beerdigung? Sirany warf den umstehenden Männern einen nervösen Blick zu, dann dämmerte es ihr. Die fehlenden Männer in der Runde schliefen nicht in ihren Zelten. Sie waren tot.

Elendar warf ihr einen langen entschuldigenden Blick zu. Erst danach trat er an seinen Männern vorbei und ergriff eine bereitliegende Schaufel.

»Lasst es uns hinter uns bringen.«

Die Krieger folgten schweigend seinem Beispiel und liefen mit gesenkten Köpfen und mit Schaufeln in den Händen hinter ihm her. Sirany bildete das Schlusslicht des kleinen Trupps, zutiefst erschüttert und verwirrt.

Als sie zurückfiel, unsicher, ob sie nicht doch fehl am Platze war, wartete Zack auf sie und reichte ihr hilfreich die Hand. Auch er sah erschöpft aus und in seinen sonst munter blitzenden Augen schimmerten unvergossene Tränen.

»Komm, Sirany. Du bist ein Teil von uns. Mein Onkel hätte sich über deine Anwesenheit sehr gefreut«, sagte er leise und drückte ihre Hand.

Sirany erwiderte die Geste und folgte dem trauernden Zug.


I

nsgesamt waren neun Männer gefallen und somit war die ohnehin schon kleine Schar auf fünfunddreißig Männer zusammengeschmolzen. Es war ein harter Schlag für Elendar.

Der Abend verlief düster und schweigend. Die Männer mussten ihre gefallenen Kameraden bereits dort, wo sie gefallen waren, verbrannt haben. Ihre Asche hatten sie in kleinen Tonkrügen mitgenommen, die sie nun in die Erde legten. Sie schmückten die frisch aufgehäuften Gräber mit frischen Waldblumen und zogen sich zum Feuer zurück. Dass sie ihre Toten entgegen der geltenden Gesetze verbrannt hatten, ließ Sirany unkommentiert. Es zeigte ihr, wie anders ihre Völker waren. Ein Farreyn hätte das niemals gewagt.

Die ohnehin mundfaulen Assaren sagten die verbleibende Zeit kein Wort, tranken wortlos assarischen Rum und wachten die ganze Nacht. Elendar saß ebenso in Gedanken versunken neben Sirany. Auch er nahm ab und an einen Schluck aus der Flasche, wenn sie an ihn gereicht wurde, überging Sirany jedoch bei der Weitergabe. Diese war nicht böse drum. Assarischer Rum sollte angeblich tödlich für jeden weiblichen Magen sein.

Elendar sendete ihr deutliche Signale, dass er jetzt weder angesprochen noch berührt werden wollte, und Sirany hielt sich daran. Ihr war ohnehin nicht nach Sprechen zumute. Allerdings musste sie sich schwer zurückhalten, um nicht unauffällig seine Hand zu nehmen. Sie spürte, dass er das jetzt brauchte, traute sich nur nicht. In Anwesenheit seiner Männer war das ohnehin keine gute Idee.

Sobald die ersten Sonnenstrahlen durch die Tannen flackerten, zog sich ein Mann nach dem anderen in sein Zelt zurück. Efnor war neben Elendar und Sirany der letzte. Er warf den beiden jungen Leuten einen ernsten Blick zu und seufzte leise. »Ich wollte dich eigentlich allein sprechen«, sagte er zu Elendar. Als Sirany daraufhin aufspringen wollte, winkte er ab. »Bleib sitzen. Wir vertrauen dir.« Es knisterte, als er aus seiner Hosentasche einen zerknitterten Brief zog und ihn Elendar hinhielt.

 

Der starrte das Papier irritiert an, ehe er es langsam nahm. »Was ist das?«

»Das hat mir Ra… unser Verbindungsmann im Schloss gegeben. Eine Nachricht für uns alle. Eine Warnung.« Es war offensichtlich, dass er beinahe den Namen des Verbindungsmannes ausgeplaudert hätte. Sirany bezweifelte, dass sie denjenigen gekannt hätte. Im Schloss? Welches Schloss? Doch nicht etwa …

Elendar las mit angespannter Miene. Sirany wagte nur einen kurzen Blick darauf, bevor sie ihre Neugierde zügeln konnte. Ein paar Zeilen. Mehr nicht. Sie genügten, um Elendars Gesichtszüge weiter zu verdunkeln.

»Wann hast du die Nachricht bekommen?«, fragte er tonlos.

»Eindeutig zu spät. Der Bote fand uns erst, nachdem wir in den Hinterhalt geraten waren. Elendar! Es war von Anfang an nicht vorgesehen, dass wir überleben.«

Elendar warf Efnor einen seltsamen Blick zu, dann musterte er Sirany. »Lass uns später darüber reden«, entschied er.

»Es geht auch Sirany etwas an.«

»Tut es nicht.«

»Doch. Du bist erneut in den Fokus des Königs gerückt. Das bedeutet, dass wir doppelt vorsichtig sein müssen. Sirany …«

»Ich werde es ihr erklären. Das ist alles, Efnor.« Elendar warf Efnor einen so warnenden Blick zu, dass dieser sofort aufstand und grußlos in sein Zelt verschwand.

Sie schwiegen eine Weile, bis Sirany den Mut fand, nachzufragen. »Muss ich mir Sorgen machen?«

»Nein. Ich lasse mir was einfallen. Efnor ist stets übervorsichtig.« Er nahm den Brief und warf ihn ins Feuer. Knisternd verbrannte er zu Asche. Erst als auch der kleinste Fetzen von den Flammen verzehrt war, entließ Elendar zischend den angehaltenen Atem. »Dieser Brief hätte viele Menschenleben gerettet, wenn er rechtzeitig angekommen wäre«, sagte er traurig.

»Von wem ist er?«

»Von einem Freund. Er steht dem sharischen König nahe. Mehr musst du nicht wissen. Es ist niemand, den du jemals kennenlernen wirst. Meine Vergangenheit ist kompliziert. Lass es gut sein, Sirany. Frag nicht weiter nach. Efnor hätte den Brief nicht vor deinen Augen zeigen dürfen. Er beunruhigt dich nur.«

»Ich bin kein Kind mehr.«

»Das weiß ich.«

»Kommt mir aber nicht so vor.«

»Ich … ach, Sirany. Ich kann jetzt nicht mit dir streiten. Nicht jetzt. Nicht heute. Nicht nach dem, was geschehen ist.«

Sofort verebbte Siranys Zorn. Elendar wirkte so müde und zerschlagen wie noch nie. Jeder Kampfgeist war aus ihm gewichen. Was immer geschehen war, erschütterte ihn zutiefst. Der Brief hatte es schlimmer gemacht.

Bevor sie ein weiteres Wort sagen konnte, nahm Elendar Siranys Hand und hielt sie fest umklammert. Sein Griff war fest und stark, doch es gab keine Zweifel, wer wem Trost spendete. Sirany bemühte sich, Elendar schweigend zu vermitteln, dass er nicht allein war. Dass sie mit ihm litt. So saßen sie eine ganze Weile da, die Hände ineinander verschränkt, die Knie sich berührend. Elendar entspannte sich in dieser Zeit sogar ein klein wenig und sein fester Griff lockerte sich etwas.

Nach gut einer weiteren Stunde hob sie die Finger ihrer freien Hand und schob Elendar einige Strähnen hinters Ohr, um sein Gesicht besser sehen zu können. Bei ihrer Berührung ging ein kaum spürbarer Ruck durch seinen Körper und er wandte sich ihr zu.

»Ich sollte dich nach Hause bringen«, sagte er mit kaum wahrnehmbarer Stimme.

Sirany nickte bestätigend, obwohl sich alles in ihrem Inneren bei dieser Vorstellung sträubte. Sie wollte nicht fort. Sie wollte bei ihm bleiben. Doch ihre Eltern machten sich sicherlich bereits Sorgen um sie.

Elendar erhob sich mühsam und Sirany folgte seinem Beispiel. Sie sahen einander schweigend an.

»Bevor ich gehe, möchte ich deine Verletzung sehen. Und sag mir nicht, du seist nicht verletzt. Lüg mich nicht an. Lass mich dir stattdessen helfen«, sagte Sirany ruhig und ignorierte den Funken Unmut in Elendars Augen ganz einfach.

»Was nützt das schon?«

»Mich beruhigt es und dir wird es guttun. Ich kann nicht viel, aber vielleicht lindert es ein wenig deinen Schmerz.«

Zu ihrer Überraschung gab sich Elendar geschlagen und ging in sein Zelt. Sirany folgte ihm zögernd. Mit einem Mal hatte sie Angst vor ihrem eigenen Mut.

Elendar war in der Mitte des kleinen Zeltes stehen geblieben und zog sich das Hemd über den Kopf. In der nächsten Sekunde wusste Sirany, warum er ihr erlaubt hatte, ihm zu helfen. Die Wunde musste von einem Messer oder Schwert stammen und zog sich von seinem Bauchnabel über die Seite quer über den Rücken. Dort hatte ihm die Klinge die Haut von der Hüfte bis hinauf zum Halsansatz aufgerissen. Die Verletzung musste schon einige Tage her sein, denn der hässliche Schnitt blutete kaum noch. Rund um die Wunde war die unverletzte Haut mit Blut verschmiert und auch das Hemd sah aus, als hätte man seinen Besitzer gerade abgeschlachtet. Der Mantel hatte das Blut bisher gut vor Siranys Augen verborgen.

»Du kannst dich nicht selbst verarzten«, stellte Sirany trocken fest. Nur deshalb erlaubte ihr Elendar, die Wunde zu versorgen. Ein Stich ging durch ihr Herz, doch sie kämpfte die Enttäuschung nieder. Er vertraut dir trotzdem, dachte Sirany. Das hat nichts zu bedeuten.

Elendar setzte sich auf sein Felllager. »Da hinten ist abgekochtes Wasser», sagte er und deutete auf einen Bottich in einer Zeltecke. »Tücher findest du daneben.«

Sirany ging zu der angegebenen Stelle und fand dort neben sauberen Laken auch jede Menge blutiger Lappen. Elendar hatte sich offenbar vor ihrem Besuch bereits so gut es ging das Blut vom Körper gewaschen.

Schweigend nahm Sirany das, was sie brauchen würde, ging zurück zu Elendar und machte sich an die Arbeit.

»Nur der Rücken«, wies er sie an. »Den Rest kann ich auch allein.«

Sirany antwortete gar nicht erst, sondern wusch Stück für Stück den Dreck und das Blut aus Wunde und Haut.

»Der Schnitt ist nicht tief«, sagte sie nach fast zehn Minuten Schweigen. Während dieser Zeit hatte Elendar nur ab und zu leise zischende Schmerzlaute von sich gegeben. »Ein Dolch?«

Keine Antwort. Sirany seufzte leise.

»Was ist passiert, Elendar? Ihr wart lange fort und habt viele Tote nach Hause gebracht. Was stand in dem Brief?«

Sie war gerade mit dem Rücken fertig und wandte sich nun der Seite zu, doch Elendar hielt sie auf, indem er ihre Hände packte und schmerzhaft festhielt.

»Das reicht. Danke«, sagte er, ließ sie los und bückte sich nach einem einigermaßen sauber aussehenden Hemd.

Plötzlich packte Sirany die Wut. »Ach, und das war es wieder, oder was? Das dumme Bauernmädchen aus dem Nachbardorf hat dich zusammengeflickt und für dich ist die Sache damit erledigt. Erklären braucht man ihr nichts.«

Zornig warf sie den blutigen Lappen auf den Boden und stand auf, um sich drohend vor Elendar aufzubauen. Dessen Gesicht verdunkelte sich jetzt ebenfalls.

»Lass das, Sirany«, sagte er drohend.

»Was soll ich lassen? Zu fragen? Mein Gott hat mir eine Zunge gegeben, damit ich sprechen kann, und wenn ich sprechen kann, kann ich auch fragen. Also, Elendar, ich frage dich erneut. Was ist passiert?«

»Das willst du nicht wissen.«

»Das wiederum kannst du nicht wissen. Du weißt gar nichts über mich, Elendar, gar nichts.«

»Und du noch viel weniger über mich.«

»Schön.«

»Schön.« Jetzt brüllte Sirany und es war ihr egal, dass die anderen Assaren sie hören konnten. »Dann erzähl mir endlich mal was von dir.«

Elendar wusste, dass er besser schweigen sollte, aber er war zu müde und zu erschöpft, um seine sonst so vielfach gepriesene Selbstbeherrschung an den Tag zu legen. Es war eine lange, hässliche Woche gewesen und seine überlasteten Nerven mussten sich Luft verschaffen. Nur deshalb sagte er die nächsten Worte, die er sonst niemals zu Sirany gesagt hätte. Die Angst, sie zu verlieren, ließ ihn sonst schweigen.

»Wir sind nicht die freundlichen Kerle von nebenan, so wie du denkst. Wir sind Krieger. Wir töten. Wir morden. Frauen und Männer. Wir töten, um zu überleben. Wir sind wie Tiere, die wild um sich beißen, um diejenigen zu schützen, die wir lieben.

Man gibt uns Aufträge und wir führen sie aus. Man sagt uns, wen wir töten sollen, und wir tun es. Wir fragen nicht. Wir erledigen es, selbst wenn der Auftrag zu schwierig ist. Selbst wenn wir wissen, dass wir es nicht überleben werden. Wir versuchen es und sterben dabei. Einer nach dem anderen. Keiner von uns ist älter als vierzig und keiner wird es jemals sein. Man schickt uns in den Tod und wir gehen. Aus Pflicht und aus Liebe zu unserem Volk.

Ich bin nicht stolz darauf, was wir machen. Die Ermordeten suchen mich regelmäßig in meinen Träumen heim. Sie fragen mich, warum ich sie ermordet habe, und ich antworte ihnen: Weil ich es musste! Ich weiß, dass das eine verdammt schlechte Ausrede ist. Es ist nun mal so, wie es ist – entweder ihr Leben oder das unserer Familien.

Wären wir nicht so gut im Töten gewesen, hätte man uns niemals für diese Dienste herangezogen. Leider sind wir nun einmal geborene Mörder. Wir haben diese Fähigkeiten und die Shari nutzen sie gnadenlos zu ihrem Vorteil aus. Obwohl wir wissen, dass es falsch ist, können wir nichts daran ändern.«

Elendar holte tief und zitternd Luft und sah Sirany voller Entsetzen an. Erst jetzt kam ihm voll zu Bewusstsein, was er da gesagt hatte. Sirany stand wie angewurzelt vor ihm. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Ihre Finger knackten leise, als sie sie zu einer Faust ballte. Er hatte sie angebrüllt und halb zu Tode erschreckt, das sah er in ihren Augen.

Ehe er wieder etwas sagen konnte, hob sie abwehrend die Hände. »Lass mich«, sagte sie leise. »Ich sollte jetzt gehen, ehe du noch mehr sagst, was dir hinterher leidtut. Du bist müde. Schlaf jetzt.«

Damit ging sie an Elendar vorüber und verließ eilig das Zelt. Elendar sah ihr nach und spürte, dass er sie verloren hatte. Vermutlich für immer.


Kapitel 6

Sirany kehrte lange nicht in das Lager zurück. Sie brauchte Zeit, um das Gehörte zu verdauen. Sie hatte längst geahnt, was die Männer trieben, wenn sie fort waren. Es aus Elendars Mund zu hören, erschreckte sie zutiefst. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie der sonst so sanfte und ruhige Elendar das Schwert gegen eine Frau erhob.

Sirany spürte, dass sie hier an einem Wendepunkt in ihrer Beziehung angekommen waren. Vorbei war das fröhliche Miteinander, vorbei das unbeschwerte Herumtollen. Sirany war zusammen mit der Wahrheit erwachsen geworden. Als junge Frau musste sie sich nun entscheiden, ob sie das, was Elendar war und was er tat, mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Momentan war sie sich da noch nicht so sicher und somit mied sie den Wald so gut es ging.

Bald schon stieß ihr das Dorfleben auf. Meistens blieb sie zu Hause, denn die Soldaten patrouillierten weiterhin und hielten Ausschau nach leichter Beute. Manchmal besuchte sie Freundinnen, aber es war, als wäre sie eine Fremde unter alten Bekannten. Die Mädchen tratschten über das Dorfleben, schwärmten von jungen Männern oder planten Hochzeiten mit ihren Verlobten.

Sirany konnte da nicht mitreden. Sie wollte keine Hochzeit und fand auch keinen Mann des Dorfes attraktiv. Um nicht als Außen­seiter zu gelten, verstellte sie sich. Sie gab vor, den Sohn des Müllers toll zu finden und malte allerhand Unsinn zusammen mit den anderen aus.

Doch aus einem ihr unbekannten Grund fühlte sie sich, als würde sie Elendar bei ihrem Tun verraten.

Während die Mädchen lachten und gackerten, legte Dorin, die Tochter des Metzgers, plötzlich ihr Strickzeug beiseite und blickte Sirany an. Augenblicklich verkrampfte sich ihr Magen und ein ungutes Gefühl beschlich sie.

»Jetzt mal ehrlich, Sirany. Wir wissen alle, dass du einen Geliebten haben musst«, erklärte sie inbrünstig und augenblicklich wurde es ganz still am Tisch.

Alle Augen wandten sich Sirany zu, die sich unter ihren Blicken unruhig zu bewegen begann.

»Wer soll das denn sein?«, entgegnete sie möglichst unschuldig, doch jede am Tisch hörte das leichte Zittern in ihrer Stimme.

 

»Keine Ahnung. Das möchte ich gern von dir wissen. Mit wem verschwindest du des Nachts im Wald? Mit wem vertreibst du dir die dunklen Stunden?«

»Mit niemandem, Dorin, wie kommst du denn bloß darauf?«

»Ach, komm schon, Sirany«, entgegnete Ella, ein kleines, unscheinbares Ding.

Sirany hatte vergessen, wessen Tochter sie war, und im Grunde interessierte es sie auch gar nicht. Sie hatte bisher nicht viel mit ihr zu tun gehabt und hatte auch nicht vor, das zu ändern. Schon gar nicht nach den nächsten Worten. »Wir wissen alle, dass du rumläufst wie eine läufige Hündin. Wer dir in die Augen schaut, sieht die Gier nach neuen Sünden. Ständig bist du auf der Suche nach …«

»… nach was?«, unterbrach Sirany sie scharf.

Die Mädchen kicherten und einige machten recht anzügliche Bewegungen. »Nach jemandem, der dich besteigen möchte, nach fleischlicher Befriedigung«, formulierte es Freya, die als Einzige in der Runde verlobt war und dementsprechend auch als Einzige Erfahrung hatte. Beschwörend beugte sie sich über den Tisch und starrte Sirany an, während alle Mädchen mit ihren Blicken an ihren Lippen hingen wie Hündchen an der Zitze ihrer Mutter.

»Du kostest von etwas, von dem du keine Ahnung hast. Sei vorsichtig. Es könnte dich für immer verderben.«

Sie machte eine Kunstpause. Sirany wurde schlecht vor Angst. Was mochte jetzt kommen?

»Männer können grausam sein, mein Herzchen. In der einen Sekunde umgarnen sie dich, sagen dir die herrlichsten Worte, in der nächsten reißen sie dir die Kleider vom Leib, um dich nur wenig später allein zurückzulassen.«

Alle starrten sie an, Sirany nicht minder entgeistert als die anderen. Zum Glück fand sie als Erste ihre Sprache wieder. »Ich kann nichts dafür, dass dir das ständig passiert. Du solltest mal darüber nachdenken, ob es an dir liegt«, entgegnete sie kalt, stand auf und ging so schnell wie möglich aus der Hütte.

Draußen atmete sie tief und zitternd durch und ein fauler Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Elendar war ein Mann in der Blüte seiner Jahre. Es gab keinen Zweifel daran, dass er sich durchaus körperlich zu ihr hingezogen fühlte, aber er hatte sie niemals, wirklich niemals unsittlich berührt.

Außer das eine Mal im Teich … und das eine Mal unter der Bett­decke, um sie zu wärmen … und das eine Mal nach der Feier und … plötzlich wurde ihr schlecht und sie übergab sich hinterm nächsten Busch.

Zu allem Übel hatte das eines der Mädchen gesehen. Neue Gerüchte begannen zu kreisen und man munkelte, Sirany sei schwanger. Dieses Gerücht erreichte sogar die Ohren ihrer Eltern und Aileen sah sich gezwungen, mit ihrer Tochter zu reden.

»Du weißt, was über dich erzählt wird?«, fragte sie streng.

»Ja.«

»Ist da was Wahres dran?«

»Nein«, sagte sie leise und schluchzte heiser auf. »Ich habe nichts Unrechtes getan, das musst du mir glauben. Mädchen können so grausam sein.«

Ihre Mutter nahm sie in die Arme und strich ihr tröstend über den Rücken. »Ich weiß, dass dir der junge Mann aus den Wäldern den Kopf verdreht hat. Aber du weißt gar nicht, was er von dir hält. Er ist älter als du, erfahrener, und er wird es nicht beim Händchenhalten belassen. Hast du verstanden? Sei vorsichtig, mein Kind. Er kann gefährlich für dich werden. Und damit meine ich nicht nur deinen Ruf.«

»Was meinst du genau?«

»Die Leute reden, Sirany! Man hat gesehen, wie er zu Kuma ins Schloss gerufen wurde. Zu Kuma! Das bedeutet, dass er den Mann kennt, der dir am gefährlichsten werden kann. Er arbeitet für ihn.«

»Er würde mich nie verraten, Mama. Nie!«

»Hoffen wir es. Es sieht trotzdem für die Dorfbewohner so aus, als würdest du mit dem Feind paktieren. Das kann uns auf Dauer schaden und erregt unangenehme Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die wir vermeiden müssen. Wenn Kuma dich durch Elendar bemerkt, können wir dich nicht mehr retten. Sollte das passieren, kannst du auch nicht auf deinen Freund hoffen. Auch sein Leben liegt in Kumas Händen.«

Sirany bemühte sich, weitere Tränen zurückzuhalten. Ihre Mutter hatte recht. Trotzdem tat es weh, der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen. »Wir treffen uns ohnehin nicht mehr. Es ist vorbei«, flüsterte sie und ihr Herz fühlte sich an, als müsste es zerspringen.

Aileen zog daraufhin ihre Tochter in die Arme und wiegte sie wie ein kleines Kind. »Ach, mein Mädchen. So jung und schon solche Probleme. Vielleicht ist es ganz gut, wenn ihr euch eine Weile nicht seht. Man beobachtet dich auf eine Weise, die mir nicht gefällt. Wenn du dich und ihn nicht in Gefahr bringen willst, bleib vorerst zu Hause.«


»Find dich damit ab, du hast sie vertrieben«, sagte Sheyn eine Woche später zu Elendar. »Ist auch besser so. Ein Assar gehört zu einer assarischen Frau. Farreyn … pah.« Verächtlich spuckte er auf den Boden. Efnor legte Elendar mahnend eine Hand auf die Schulter, damit dieser sich nicht wutentbrannt auf den anderen Krieger stürzen konnte.

»Sie wird kommen, wenn sie das Problem der Assaren verstanden hat«, sagte Efnor im Brustton der Überzeugung. »Sie wird es verstehen und sie wird kommen.«

Tatsächlich kam sie eines Nachts, allerdings anders als erwartet.

In ihrem Dorf wurde in dieser Nacht eine Hochzeit gefeiert. Die meisten waren schon sturzbetrunken, noch ehe der Priester das Paar getraut hatte. Die Braut war untrüglich schwanger und der Grund der Hochzeit überdeutlich. Sie wirkte auch nicht gerade, als ob sie die Feier wirklich genießen konnte.

Sirany musste an diesem Abend jede Menge Sticheleien über sich ergehen lassen.

»Schaut nur, da ist sie. Sie wird die Nächste sein. Von wem sie wohl schwanger ist?«, und andere miese Andeutungen wurden ihr hinterhergetuschelt. Sirany ignorierte die Tratschtanten weitest­gehend und versuchte erst recht, den Jungen auszuweichen. Seitdem sie als leichtes Mädchen galt, war mit ihnen nicht mehr gut auszukommen. Sie hielt sich möglichst nah bei ihren Eltern und verwünschte die närrische Bande um sich herum ein ums andere mal.

Kurz vor Mitternacht verschwand ihr Vater mit einem Bekannten in der Menge und ihre Mutter holte sich etwas zu trinken. Plötzlich stand Sirany allein da und war von einer Horde gackernder Weiber umringt, ehe sie es sich versehen konnte.

»Na, Sirany? Wie geht es dir heute?«

Dorin kam herbei. Sie war ein Jahr älter als Sirany und zog sie dennoch wie ein kleines Kind an ihrem geflochtenen Zopf.

»Und was macht dein kleiner Bastard?«

Sirany schlug Dorins Hände wutschnaubend fort und blitzte sie mit funkelnden Augen an.

»Lass das«, fauchte sie und der drohende Kreis aus Mädchen schloss sich um sie herum.

»Du bist eine Hure«, zischte jemand in ihr rechtes Ohr.

Sie wich nach links aus. Auch da stand ein Mädchen und wisperte das Gleiche.

»Lasst mich. Sucht euch eine andere, die ihr quälen könnt.«

Siranys Stimme schwankte zwischen Wut und Furcht. Sie versuchte aus dem Kreis herauszukommen, doch die Mädchen standen zu dicht um sie herum.

Irgendwer fing an, ihr einen Stoß zu geben, und sie taumelte einen kleinen Schritt nach vorn. Dort stieß sie jemand zurück und plötzlich kreiselte sie wie ein hilfloser Ball zwischen kneifenden, stoßenden und schmerzhaft schlagenden Händen umher.

Und dann reichte es Sirany. Ehe eines der Mädchen reagieren konnte, hatte sie Freya in der Menge ausgemacht und sie zu ihrem Opfer auserkoren. Blitzschnell packte sie zu, vergrub ihre eine Hand in ihren Haaren und schnappte sich eines ihrer Handgelenke. Einige Hebelgriffe später lag das andere Mädchen schreiend und sich windend in Siranys stahlhartem Griff und konnte sich nicht rühren.

»Hör auf zu zappeln oder ich kugele dir den Arm aus«, zischte Sirany drohend. Die Mädchen wichen einen Schritt vor ihr zurück, während Freya vor Schmerz zu quieken anfing.

»Lasst mich endlich in Ruhe, ihr Furien, oder euch allen geht es nicht besser als diesem Miststück hier.«

Sie riss schmerzhaft an Freyas Haaren und ihr Opfer schrie entsetzt auf, als sie den anderen Mädchen ein Büschel ausgerupfter Locken entgegenhielt. Sirany starrte die anderen einen Moment hasserfüllt an, dann gab sie Freya einen Stoß und das Mädchen taumelte gegen ihre Freundinnen.

Sirany beeilte sich, durch die entstandene Lücke zu entkommen, und rannte, was ihre Beine hergaben. In letzter Sekunde bemerkte sie einen der Wächter am Dorfrand, entging ihm um Haaresbreite, überquerte den Fluss in mehreren gewagten Sprüngen von Stein zu Stein, rannte hinein in den Wald und verkroch sich unter der Wurzel eines umgestürzten Baumes.