Za darmo

Anna Karenina, 2. Band

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10

Solange Lewin darüber nachdachte, was er sei und wozu er lebe, fand er keine Antwort und geriet in Verzweiflung, doch als er aufgehört hatte, sich selbst darnach zu fragen, erfuhr er gewissermaßen, was er sei und wozu er lebte, weil er fleißig und zweckmäßig thätig war und lebte. Gerade in dieser jüngsten Zeit hatte er bei weitem konsequenter und zweckbewußter, als früher gelebt.

Im Anfang des Juli aufs Dorf zurückgekehrt, widmete er sich wieder seinen gewöhnlichen Arbeiten. Die Landwirtschaft, die Beziehungen zu den Bauern und Nachbarn, die Hauswirtschaft, die Angelegenheiten seines Bruders und der Schwester, die in seinen Händen lagen, sein Verhältnis zu den Verwandten, zu seinem Weibe, die Sorge um sein Kind, die ihm neue Bienenjagd, der er sich seit dem heurigen Frühling gewidmet hatte, alles das nahm seine Zeit in Anspruch.

Diese Beschäftigungen interessierten ihn nicht deshalb, weil er sie vor sich selbst mit gewissen allgemeinen Anschauungen rechtfertigen konnte, so wie er dies früher gethan hatte, sondern im Gegenteil hatte er jetzt, wo er einerseits durch das Mißlingen seiner einstigen Unternehmungen für das allgemeine Wohl ernüchtert worden, andererseits von seinen Ideen und der Menge der Geschäfte viel zu sehr in Anspruch genommen war, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, alle Gedanken über das allgemeine Wohl fahren lassen, und diese Dinge interessierten ihn nur, wie ihm schien, deshalb, weil er eben thun mußte, was er that – weil er nicht anders konnte. Wenn er sich früher bemühte, etwas zu thun (dies hatte fast von seiner Kindheit auf angefangen und sich bis zu seiner vollen Mannbarkeit mehr und mehr entwickelt) was eine Wohlthat für jedermann, für die Menschheit, für Rußland, für das ganze Dorf gewesen wäre – so hatte er bemerkt, daß das Nachdenken darüber ihm angenehm, die Thätigkeit selbst aber stets eine nicht damit harmonierende gewesen war; es hatte die volle Zuversicht dazu, daß die Unternehmung wirklich notwendig sei gefehlt, und die Wirksamkeit selbst, die ihm anfangs so erhaben erschienen war, schwand, immer mehr und mehr abnehmend, in ein Nichts zusammen. Jetzt hingegen, wo er verheiratet war und sein Leben für sich selbst mehr und mehr mit bestimmten Grenzen zu umziehen begonnen hatte, empfand er, obwohl er keine Freude mehr bei dem Gedanken an seine Thätigkeit fühlte, die Überzeugung, daß diese Thätigkeit eine notwendige sei, erkannte er, daß sie weit ersprießlicher, als sie früher war, und größer und größer werde.

Jetzt drang er, gleichsam wider seinen Willen, immer tiefer und tiefer in die Erde ein, wie ein Pflug, so daß er gar nicht wieder heraus konnte, ohne die Furchen aufzureißen.

Seiner Familie zu leben, so wie dies Vater und Mutter gewohnt gewesen waren, das heißt, unter den nämlichen Grundlagen der Bildung und Erziehung der Kinder – war ohne Zweifel die Aufgabe. Dies war ebenso notwendig, wie das Essen, wenn man Appetit hat, und zu diesem Zwecke nun war es ebenso notwendig, wie die Bereitung des Essens, das wirtschaftliche Getriebe in Pokrovskoje so zu leiten, daß Einkünfte flossen.

Ebenso sicher, wie man eine Schuld zurückzahlen muß, war es erforderlich, das angestammte Land immer in dem nämlichen Zustande zu erhalten, damit der Sohn, der das Erbe einmal empfing, dem Vater ebenso Dank wisse, wie Lewin seinem Vater für das, was derselbe gebaut und gepflanzt hatte. Hierzu aber war erforderlich, daß kein Boden mehr verpachtet wurde, sondern man diesen selbst bewirtschaftete, Vieh züchtete, die Felder düngte und Waldungen anlegte.

Es war ihm unmöglich, die Führung der Geschäfte für Sergey Iwanowitsch und seine Schwester und alle Bauern, die gewohnt waren, sich Rats bei ihm zu erholen, aufzugeben, ebensowenig wie man ein Kind fortwerfen kann, welches man schon auf den Armen hielt. Es galt, für die Bequemlichkeit der eingeladenen Schwägerin mit ihren Kindern zu sorgen, des Weibes mit dem eigenen Kinde, und er mußte auch wenigstens einen kleinen Teil des Tages bei ihnen weilen.

Alles das, zusammen mit der Jagd auf Wild und Bienen, füllte für Lewin ein Leben aus, welches für ihn selbst keinen Sinn mehr hatte, sobald er darüber nachdachte.

Wenn aber Lewin recht gut wußte, was er zu thun habe, so wußte er auch ebenso gut, wie er zu handeln habe und welches von zwei Geschäften das wichtigere sei. Er wußte, daß er die Arbeiter so billig als möglich mieten müsse, doch sie auf eine Schuldverschreibung annehmen, indem er ihnen Vorschuß gab, war noch billiger; wie viel sie wert waren, brauchte nicht gegeben zu werden, was auch noch vorteilhaft war. Bei Futtermangel konnte er den Bauern Stroh verkaufen, wenn sie ihn dabei auch jammerten, der Gasthof und die Branntweinschenke aber mußten, obwohl sie Einkünfte brachten, beseitigt werden. Gegen das Holzhauen mußte man so streng wie möglich vorgehen, für vertriebenes Vieh hingegen sollte keine Strafe erhoben werden. Obwohl dies freilich die Karaulschtschiks erbitterte und die Furcht verringerte, mußte man das Vieh laufen lassen.

Dem Peter, welcher an einen Wucherer zehn Prozent monatlich zahlte, mußte er Geld borgen, um ihn davon zu befreien, aber deshalb brauchte er den Bauern noch nicht den Obrok zu erlassen oder den säumigen Zahlern Frist zu bewilligen. Man konnte es dem Verwalter nicht hingehen lassen, daß eine kleine Wiese nicht gemäht wurde und das Gras darauf ungenützt verkam, aber man brauchte wieder nicht die achtzig Desjatinen zu mähen, auf denen junger Wald angepflanzt stand. Man brauchte nicht dem Arbeiter zu verzeihen, der unter der Arbeit nach Hause gelaufen war, weil sein Vater starb – so leid ihm das auch that – und mußte ihn dafür billiger für die kostspieligen Monate ansetzen, in denen es nichts zu thun gab. Aber man mußte gleichwohl den Alten, die zu nichts mehr zu brauchen waren, einen Monatsauszug geben.

Lewin wußte wohl, daß er bei seiner Rückkehr nach Hause vor allem zu seiner Frau gehen mußte, wenn diese unwohl war, aber die Bauern, die schon seit drei Stunden auf ihn gewartet hatten, konnten noch länger warten. Er wußte auch, daß er bei allem Vergnügen, welches er bei dem Einfangen eines Bienenschwarms hatte, sich dieses Vergnügens begeben und es dem Alten überlassen mußte, in seiner Abwesenheit den Schwarm zu fangen, indem er zu den Bauern ging, die ihn im Bienengarten gefunden hatten, um sich zu besprechen.

Mochte er damit gut oder schlecht handeln, er wußte es nicht, und würde jetzt nicht nur nicht den Beweis dafür angetreten, sondern vielmehr alle Gespräche und Gedanken darüber vermieden haben.

Die Grübeleien versetzten ihn in Zweifel und hinderten ihn, zu sehen, was er sehen mußte, oder was nicht. Indem er jedoch nicht mehr dachte, sondern lebte, fühlte er in seiner Seele die stete Gegenwart eines unfehlbaren Richters, der entschied, welche von zwei möglichen Handlungen die bessere und welche die schlechtere war, und sobald er dann nicht so handelte, wie es nötig war, fühlte er dies sogleich.

So lebte er denn ohne die Möglichkeit einer Erkenntnis dessen, zu sehen, was er sei und wozu er auf der Welt lebe, gequält von dieser Unkenntnis bis zu einem Grade, daß er den Selbstmord fürchtete und sich doch zugleich damit fest einen sicheren Weg durch das Leben bahnend.

11

Gerade an dem Tage, an welchem Sergey Iwanowitsch nach Pokrovskoje gekommen war, befand sich Lewin in einer seiner peinlichsten Stimmungen.

Es war mitten in der Arbeitszeit, wo alles Volk eine so ungewöhnliche Anspannung in der Selbstaufopferung bei der Arbeit zeigt, wie sie sonst unter keinen Bedingungen im Leben erscheint und die hoch geschätzt werden würde, wenn die Leute, welche diese Eigenschaften zeigen, sie selbst schätzten, wenn sich nicht ein und dasselbe alljährlich wiederholte, und die Resultate dieses Kraftaufwands nicht so einfach wären.

Roggen schneiden und Hafer, und ihn hereinzubringen, Wiesen zu mähen, Korn ausdreschen und Wintersaat aussäen – alles das scheint einfach und gewöhnlich; aber um es mit Erfolg zu thun, ist es nötig, daß alle, vom Ältesten an bis zum Jüngsten rastlos, dreimal mehr als gewöhnlich, während drei oder vier Wochen arbeiten, sich nur von Kwas, Zwiebel und Schwarzbrot nährend, dreschend, des Nachts Feime abfahrend und sich zum Schlaf nicht mehr als drei Stunden den ganzen Tag gönnend. Alljährlich ist dies so in ganz Rußland.

Lewin, der einen großen Teil seines Lebens auf dem Dorfe, in nahen Beziehungen zum Volke gelebt hatte, fühlte stets während der Arbeitszeit, daß sich diese allgemeine Regsamkeit der Leute auch ihm mitteile.

Am Morgen fuhr er zum ersten Roggenschnitt oder nach dem Hafer, den man in Feime gesetzt hatte, und kehrte dann, wenn sein Weib und die Schwägerin sich erhoben, heim; trank mit ihnen Kaffee und begab sich dann zu Fuße nach dem Vorwerk, wo man eine neu aufgestellte Dreschmaschine zur Vorbereitung des Samens in Gang setzte.

Diesen ganzen Tag hatte Lewin im Gespräch mit dem Verwalter und den Bauern, zu Hause mit seinem Weib, mit Dolly und ihren Kindern, und mit dem Schwiegervater, immer nur über das Eine nachgedacht, was ihn in dieser Zeit neben seinen wirtschaftlichen Sorgen beschäftigte, und in allem nur die Antwort auf seine Frage gesucht: „Was bin ich, wo bin ich; warum bin ich hier?“

In der Kühle der neugedeckten Trockenscheune stehend, blickte Lewin bald durch die geöffnete Thür hinaus, in welcher der trockene und scharfe Staub vom Dreschen wirbelte, auf das von der glänzenden Sonne beleuchtete Gras der Tenne und das frische Stroh, das soeben erst aus dem Schuppen geholt worden war – bald nach den weißhalsigen Schwalben mit ihren bunten Köpfen, die mit Gezwitscher unter das Dach flogen und mit schlagenden Flügeln an den Fensteröffnungen der Thüre hängen blieben, bald auf die Leute, welche in der dunklen, staubigen Trockenscheune hantierten, und hatte dabei seltsame Gedanken.

„Warum geschieht das alles?“ grübelte er. „Warum stehe ich hier und lasse arbeiten? Weshalb hasten die alle und mühen sich, mir ihren Eifer zu zeigen? Warum plagt sich die alte Matrjona da, die ich kenne? Ich habe sie ja kuriert, als bei einer Feuersbrunst der Dachbalken auf sie gestürzt war,“ dachte er, indem er dem hageren Weibe zusah, welches mit der Schaufel Korn werfend, angestrengt mit den schwarzgebräunten, nackten Füßen auf den unebenen harten Tennenplatz vortrat.

 

„Sie ist damals wieder gesund geworden, aber dennoch, zwar nicht heute, doch vielleicht nach zehn Jahren verscharrt man sie, und nichts bleibt mehr von ihr; ebensowenig wie von jener Kokette dort im roten Tuch, die mit so gewandter Bewegung die Spreu von den Ähren sondert. Auch sie wird man einscharren, wie den gescheckten Wallachen dort – und sehr bald sogar,“ dachte er, auf das mit geöffneten Nüstern schnaubende Pferd mit dem schwerhängenden Bauche schauend, welches um ein liegendes Rad lief, das sich unter ihm bewegte. „Auch das Pferd wird man verscharren und den Fjodor mit seinem krausen, voll Spreu hängenden Barte und dem zerrissenen Hemd auf der hellschimmernden Schulter – man wird sie begraben! Er wühlt die Garben auseinander und ordnet an, ruft den Weibern zu und regelt mit schneller Bewegung den Riemen am Schwungrad. Aber vor allem, nicht nur sie, auch mich wird man einscharren und nichts wird bleiben. Und wozu?“ So sann er und schaute dabei nach der Uhr, um zu berechnen, wie viel in einer Stunde gedroschen werde. Er mußte dies wissen, um hiernach das Arbeitspensum für den Tag geben zu können.

„Schon bald eine Stunde und sie haben erst den dritten Feim angefangen,“ dachte Lewin, trat zu dem Zugeber und sagte zu ihm, das Geräusch der Maschine überschreiend, er gäbe zu schnell zu.

„Du giebst zu viel hinein, Fjodor – siehst du, sie bleibt hängen und geht daher nicht schnell genug! Du mußt das ausgleichen!“

Fjodor, von dem Staube der ihm am schweißbedeckten Gesicht klebte, schwarz geworden, schrie etwas als Antwort, that aber nicht, wie Lewin wollte.

Dieser trat daher an den Cylinder, ließ Fjodor beiseite treten und begann selbst zuzugeben. Nachdem er bis zu der Mittagspause der Bauern gearbeitet hatte, bis zu welcher nicht mehr viel Zeit war, verließ er zusammen mit dem Zugeber die Trockenscheune und sprach mit ihm.

Der Zugeber war aus einem entfernter liegenden Dorfe, dem nämlichen, in welchem Lewin früher Land zur Bildung der Arbeitsgenossenschaft vergeben hatte. Jetzt war das Land in Pacht gegeben.

Lewin unterhielt sich mit Fjodor über dieses Land und frug ihn, ob Platon, der reiche und tüchtige Bauer jenes Dorfes, für das nächste Jahr welches nehmen werde.

„Der Preis ist zu hoch und Ihr solltet an Platon nicht vergeben,“ sagte Fjodor, sich die Ähren von der schweißbedeckten Brust nehmend.

„Aber Kiriloff giebt ihm doch welches?“

„Mitjucha, Konstantin Dmitritsch, warum sollte der es nicht thun! Der drückt die Menschen und nimmt sich schon das Seine. Den dauert kein Christenmensch. Onkel Fokanitsch aber,“ so nannte er den Bauern Platon, „zieht der etwa dem Menschen das Fell über die Ohren? Hier giebt er eine Schuldforderung, dort erläßt er – oder nimmt selbst gar nichts. Das ist auch ein Mensch.“

„Aber warum erläßt er Etwas.“

„Nun, die Leute sind eben verschieden. Der eine lebt nur für seinen Leib, wenigstens Mitjucha; der stopft sich nur den Wanst voll, aber Fokanitsch – das ist ein rechtschaffener alter Mann. Er lebt nur für sein Seelenheil, und denkt an Gott!“

„Wie soll er denn an Gott denken? Wie soll er nur für sein Seelenheil leben?“ schrie Lewin fast.

„Nun, das ist doch bekannt, nach der Gerechtigkeit, in Gott. Die Menschen sind eben verschieden! Man braucht ja nur Euch anzusehen; Ihr beleidigt auch keinen Menschen.“

„Nun leb' wohl,“ fuhr Lewin fort, vor Erregung tief Atem holend, ergriff, sich nun umwendend, seinen Stock und schritt eilig dem Hause zu.

Bei den Worten des Bauern, daß Fokanitsch für sein Seelenheil, nach der Gerechtigkeit und in Gott lebe, waren ihm unklare, aber wichtige Ideen in Masse, als hätten sie sich aus einem Gewahrsam freigemacht, gekommen, und diese alle wirbelten nun, nach einem Ziele strebend, in seinem Kopfe herum und blendeten ihn mit ihrem Licht.

12

Lewin ging mit großen Schritten die Landstraße entlang, weniger seinen Gedanken Gehör gebend – er vermochte noch nicht, sie zu sichten – als mit seinem Seelenzustand beschäftigt, der jetzt so war, wie er ihn noch nie an sich kennen gelernt hatte.

Die Worte, die ihm von dem Bauern gesagt worden waren, brachten in seiner Seele die Wirkung eines elektrischen Funkens hervor, der plötzlich erscheint, zusammengesetzt aus einer ganzen Schar gesonderter, unkräftiger Gedanken, die nicht aufhörten, ihn zu beschäftigen. Diese Gedanken hatten ihn, ohne daß er es merkte, schon während der Zeit, als er von dem Landverkauf sprach, beschäftigt.

Er fühlte in seiner Seele etwas Neues und empfand dieses Neue mit Befriedigung, doch ohne zu wissen, was es sei.

„Nicht für meine Notdurft allein soll ich leben, sondern für Gott. Für welchen Gott? Kann man etwas Unsinnigeres äußern, als das, was Fjodor sagte? Er sagte, man müsse nicht nur für seine Bedürfnisse leben, das heißt, für das, was wir verstehen, wozu wir Neigung empfinden, wonach uns verlangt, sondern für etwas Unbegreifliches, für einen Gott, den niemand begreifen, oder bezeichnen kann. Und was will ich? Habe ich die sinnlosen Worte Fjodors nicht verstanden? Wenn ich sie verstanden habe, zweifle ich denn an ihrer Richtigkeit? Habe ich sie thöricht, unklar und ungenau gefunden? Nein, ich habe ihn verstanden, und vollkommen so, wie er selbst versteht; er hat vollständig, und klarer verstanden, als ich Etwas im Leben verstehe, und nie im Leben habe ich daran gezweifelt, werde ich daran zweifeln können. Nicht ich allein aber, sondern jedermann, die ganze Welt, erkennt dieses Eine völlig und zweifelt nicht daran und ist damit einverstanden. Aber ich suchte Wunder, ich habe es beklagt, daß ich kein Wunder sah, welches mich überzeugte. Ein materielles Wunder hätte mich gelockt. Aber es giebt ja ein Wunder, das einzig mögliche, immerwährend vorhandene, mich von allen Seiten umgebende – und ich habe das nicht bemerkt! Fjodor sagt, daß Kiriloff nur für seinen Bauch lebt. Dies ist begreiflich und verständig. Wir alle, als vernünftige Wesen, können nicht anders leben, als für unseren Leib. Und da sagt nun dieser Fjodor plötzlich, daß es häßlich sei, nur für den Wanst zu leben; man müsse der Gerechtigkeit, für Gott leben, und ich verstehe ihn aus diesem Fingerzeig. Ich sowohl, wie die Millionen von Menschen, welche Jahrhunderte vor uns gelebt haben und jetzt noch leben, die Bauern, die Bettler am Geist und die Weisen, die, welche darüber gedacht und geschrieben haben, in ihrer unklaren Sprache dasselbe sagend – wir alle sind in dem Einen einverstanden: Weshalb man leben muß, und was gut ist! – Mit allen Menschen habe ich nur eine feste, unzweifelhafte und klare Erkenntnis, und diese Erkenntnis kann nicht vom Verstand erläutert werden, sie liegt außerhalb desselben und hat keine Gründe, kann auch keine Folgen haben. Wenn das Gute eine Ursache hat, so ist es schon nicht mehr gut; wenn es eine Folge hat, eine Belohnung, so ist es gleichfalls nicht gut. Vielleicht liegt das Gute außerhalb der Kette von Ursache und Wirkung. Und ich kenne das; wir alle kennen es. Welches Wunder könnte es geben, das größer wäre, als dies? Habe ich denn wirklich die Lösung des Ganzen gefunden, sollten jetzt alle meine Leiden vorüber sein?“ dachte Lewin, auf dem staubigen Wege hinschreitend, ohne die Hitze zu merken oder die Ermüdung, aber im Gefühl einer Abspannung von den langen Leiden.

Dieses Gefühl war ein so freudiges, daß es ihm ganz unwahrscheinlich vorkam. Er atmete schwer vor Erregung, und bog, ohne die Kraft, noch weiter zu gehen, vom Wege ab in den Wald und setzte sich in den Schatten einer Esche auf das nicht gemähte Gras. Er nahm den Hut von dem nassen Kopfe und legte sich, auf den Arm gestemmt, in das saftige, schwellende Waldgras.

„Ja, ich muß mir alles klar machen, und verstehen,“ dachte er, starr auf das nicht niedergedrückte Gras blickend, welches vor ihm stand, und den Bewegungen eines grünen Blattlauskäfers folgend, der sich an dem Stengel eines Queckengrases erhob, in seinem Aufstieg aber durch ein Blatt gehindert wurde.

„Was habe ich entdeckt?“ frug er sich, das Blatt entfernend, um das Insekt nicht zu hindern, und ein anderes Gras biegend, daß der Blattlauskäfer auf dasselbe hinüberlaufen könne. „Was freut mich denn so? Was habe ich denn entdeckt? Ich habe nichts entdeckt! Ich habe nur erkannt, was ich weiß. Ich habe jene Kraft erkannt, die nicht nur in der Vergangenheit liegt, die mir das Leben gegeben hat und mir auch jetzt das Leben verleiht. Ich habe mich vom Irrtum befreit und den Herrn erkannt! Früher sagte ich, daß sich in meinem Körper, in dem Körper dieses Grases und dieses Käfers – da, er hat nicht auf das Gras gewollt, die Flügel ausgebreitet und ist fortgeflogen – nach physikalischen, chemischen und physiologischen Gesetzen ein Stoffwechsel vollzieht. In uns allen aber, gleich wie in jenen Espen, in den Wolken und den Nebelflecken, vollzieht sich eine Entwicklung. Woher stammt diese Entwicklung? Auf was geht sie? Es ist eine endlose Entwicklung, ein Kampf. Ganz ebenso nun kann eine gewisse Richtung, ein Kampf in dem Unendlichen sein. Und da habe ich mich gewundert, daß mir trotz der größten geistigen Anstrengungen auf diesem Wege, dennoch nicht der Gedanke des Lebens geoffenbart worden ist! Jetzt spreche ich es aus, daß ich den Gedanken meines Daseins kenne: Leben für Gott und für die Seele! Und dieser Gedanke ist ungeachtet seiner Klarheit geheimnisvoll und wundersam. So ist auch der Gedanke des gesamten Seins,“ sprach er zu sich selbst, sich auf den Leib wälzend und Grashalme in Bündel zusammennehmend, wobei er sich hütete, sie zu zerknicken. In Kürze wiederholte er sich nun selbst den ganzen Gang seiner Gedanken während der letzten beiden Jahre, dessen Anfang klar war; der deutliche Gedanke an den Tod bei dem Anblick des geliebten, hoffnungslos kranken Bruders.

Zum erstenmale, damals klar erkennend, daß es für jeden Menschen, und auch für ihn, in Zukunft nichts als Leiden, Tod und ewige Vergessenheit geben werde, entschied er, daß er so nicht weiter leben könne, und sich sein Leben entweder so abklären müsse, daß es nicht mehr als der böse Streich eines Satans erscheine – oder er sich erschießen müsse.

Er that indes weder das Eine noch das Andere, sondern lebte ruhig weiter und fuhr fort, zu sinnen und zu spüren; hatte sogar gerade in dieser Zeit geheiratet, erlebte viele Freuden und fühlte sich glücklich, wenn er nicht an den Zweck seines Daseins dachte.

Was aber bedeutete das? Es bedeutete, daß er rechtschaffen lebte, aber schlecht dachte. Er lebte – ohne dies zu erkennen – von jenen geistigen Wahrheiten, die er mit der Muttermilch eingesogen hatte, und dachte, ohne diese Wahrheiten anzuerkennen, ja, sie geflissentlich umgehend.

Jetzt wurde es ihm klar, daß er leben konnte nur dank jenen Überzeugungen, in denen er erzogen war.

„Was würde ich gewesen sein, und wie hätte ich mein Leben verbracht, hätte ich diese Überzeugungen nicht gehabt, nicht gewußt, daß man für Gott leben muß und nicht für die eigenen Bedürfnisse? Ich hätte geraubt, gelogen, gemordet. Nichts von dem, was die höchsten Freuden meines Lebens ausmacht, würde für mich vorhanden gewesen sein.“

Aber trotz der größten Anstrengungen seiner Vorstellungskraft, konnte er sich doch nicht jenes tierische Geschöpf vorstellen, welches er selbst gewesen sein würde, wenn er nicht erfahren hätte, wozu er lebte.

„Ich habe die Antwort auf meine Frage gesucht, aber diese Antwort kann nicht das Denken geben, welches in unmeßbarem Verhältnis zu der Frage steht. Die Antwort hat mir das Leben selbst gegeben in meiner Erkenntnis dessen, was gut und schlecht sei. Aber diese Erkenntnis habe ich nicht durch Etwas erworben, sondern sie ist mir gegeben gewesen zugleich mit allem, gegeben deswegen, weil ich sie von nirgendsher nehmen konnte. Woher habe ich sie genommen? Bin ich durch meinen Verstand darauf gekommen, daß ich meinen Nächsten lieben soll und ihn nicht erwürgen darf. Man hat mir das in der Kindheit gesagt und ich habe es freudig geglaubt, weil man mir nur gesagt hatte, was mir schon in der Seele lag. Aber wer hat dies entdeckt? Der Verstand nicht! Der Verstand hat den Kampf ums Dasein entdeckt und das Gesetz, welches fordert, daß man alle, die uns an der Befriedigung unserer Wünsche hindern, beseitigen soll. Dies ist die Lehre des Verstandes, aber die Nächstenliebe konnte der Verstand nicht lehren, weil das unverständig gewesen wäre.“