Za darmo

Anna Karenina, 2. Band

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27

„Er ist fort. Es ist zu Ende!“ sprach Anna zu sich selbst, am Fenster stehend und zur Antwort auf diese Worte erfüllten jene Eindrücke in der Finsternis nach dem Erlöschen des Lichtes, und des furchtbaren Traumbildes in Eins zusammengeflossen, ihr Herz mit kaltem Entsetzen. „Nein, es kann nicht sein!“ schrie sie auf und schellte heftig, durch das Zimmer eilend. Ihr war es jetzt so bange, allein zu bleiben, daß sie, ohne das Erscheinen des Dieners abzuwarten, diesem entgegenkam.

„Erkundigt Euch, wohin der Graf gefahren ist,“ sagte sie.

Der Diener versetzte, der Graf sei nach den Marställen gefahren.

„Der Herr haben befohlen zu melden, daß der Wagen sogleich zurückkehren würde, falls es Euch gefällig wäre, auszufahren.“

„Gut. Bleibt. Ich werde sogleich ein Billet schreiben. Schickt Michail mit dem Billet nach den Marställen, so schnell als möglich.“

Sie setzte sich und begann zu schreiben:

„Ich bin schuld. Kehre heim, wir müssen ins Klare kommen. Um Gott, komm, mir ist furchtbar.“

Sie siegelte und übergab dem Diener das Billet.

Jetzt fürchtete sie sich allein zu bleiben und begab sich, nachdem der Diener gegangen war, aus dem Zimmer nach der Kinderstube.

„Was ist das? Das ist er nicht! Das ist nicht Er! Wo sind seine blauen Augen, wo ist sein mildes, sanftes Lächeln?“ war ihr erster Gedanke, als sie ihr dralles, rotbäckiges kleines Mädchen mit den schwarzen krausen Haaren anstatt Sergeys, den sie in einer Verwirrung ihrer Gedanken in der Kinderstube zu sehen erwartet hatte, erblickte.

Das Kind saß am Tische, hartnäckig und geräuschvoll mit einem Korkpfropfen auf den Tisch pochend, und schaute mit seinen zwei schwarzen Augen verständnislos die Mutter an.

Nachdem Anna der Engländerin geantwortet hatte, daß sie sich völlig wohl befinde und morgen aufs Land gehen werde, setzte sie sich zu ihrem Kinde und begann vor demselben den Pfropfen von einer Karaffe zu drehen. Das laute, tönende Lachen des Kindes und die Bewegung, welche dasselbe mit den Brauen machte, brachten ihr aber Wronskiy so lebhaft in die Erinnerung, daß sie, ein Aufschluchzen unterdrückend, hastig aufstand und hinausging.

„Ist denn wirklich alles zu Ende? Nein, es kann nicht sein,“ dachte sie. „Er wird zurückkehren! Aber wie soll er mir jenes Lächeln erklären, seine Lebhaftigkeit, nachdem er mit ihr gesprochen hatte? Indessen auch wenn er mir es nicht erklärt, will ich ihm glauben. Glaube ich ihm nicht, dann bleibt mir noch Eins – aber ich will nicht.“ —

Sie sah nach der Uhr. Es waren zwanzig Minuten vergangen.

„Jetzt hat er mein Billet bereits erhalten und kehrt zurück. Nicht lange mehr, noch zehn Minuten – aber wie, wenn er nicht zurückkehrt? Doch nein, das kann nicht sein! Er darf mich indessen nicht mit verweinten Augen sehen. Ich will gehen und mich waschen. Bin ich denn frisiert oder nicht?“ frug sie sich, ohne sich erinnern zu können. Sie fühlte sich nach dem Kopfe, „ja, ich bin frisiert, aber wann es geschah, weiß ich wirklich nicht mehr.“ Sie glaubte nicht einmal der eigenen Hand und ging zu dem Trumeau, um nachzusehen, ob sie in der That frisiert sei oder nicht. Sie war frisiert und konnte sich dennoch nicht erinnern, wann sie es gethan hatte. „Wer ist das?“ dachte sie, in den Spiegel blickend, und ein fieberhaft glühendes Antlitz mit seltsam blitzenden Augen, die sie erschreckt ansahen, gewahrend. „Das bin ich doch,“ erkannte sie plötzlich und ihre ganze Erscheinung musternd, fühlte sie plötzlich seine Küsse auf sich und zuckte zusammenschauernd mit den Schultern. Dann hob sie die Hand zu den Lippen und küßte sie. „Was ist das; ich bin von Sinnen,“ sprach sie und begab sich in das Schlafzimmer, wo Annuschka aufräumte. „Annuschka,“ sagte sie, vor der Zofe stehen bleibend und sie anschauend, ohne zu wissen, was sie ihr eigentlich sagen wollte.

„Ihr wolltet zu Darja Aleksandrowna fahren,“ antwortete die Zofe, als ob sie verstanden hätte.

„Zu Darja Aleksandrowna? Ja, ich werde fahren.“

„Fünfzehn Minuten hin, fünfzehn Minuten zurück! Er wird schon kommen, er kommt sogleich.“ Sie zog die Uhr hervor und sah darnach. „Wie konnte er nur wegfahren, und mich in einer solchen Lage zurücklassen? Wie kann er leben, ohne mit mir ausgesöhnt zu sein?“ Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinab. Der Zeit nach hätte er schon zurücksein können. Aber ihre Berechnung konnte nicht richtig sein und sie begann aufs neue, sich zu vergegenwärtigen, wann er weggefahren war, und die Minuten zu berechnen. Gerade als sie nach einer größeren Uhr ging, um die ihrige darnach zu vergleichen, kam jemand angefahren. Durch das Fenster blickend, gewahrte sie seinen Wagen. Es kam jedoch niemand zur Treppe herauf, während unten Stimmen vernehmbar wurden. Der Bote war es, welcher im Wagen zurückkehrte. Sie ging zu ihm hinunter.

Der Graf war nicht zu treffen gewesen, er war auf der Chaussee von Nishegorod weggefahren.

„Was bringst du? Was“ – wandte sie sich zu dem rotbäckigen, fröhlichen Michail, der ihr das Billet wieder zurückgab. „Er hat es ja gar nicht erhalten,“ sagte sie sich. „Fahre mit diesem Billet auf das Dorf zur Gräfin Wronskaja, verstehst du? Und bringe sofort Antwort,“ sagte sie zu dem Boten. „Aber was soll ich selbst thun?“ dachte sie, „nun, ich werde zu Dolly fahren, oder, wahrhaftig, ich verliere den Verstand. Ich kann ja auch noch telegraphieren.“ Sie schrieb sogleich eine Depesche nieder.

„Ich muß dich sprechen, komm sogleich.“

Nachdem sie das Telegramm abgeschickt hatte, ging sie sich anzukleiden. Bereits angekleidet und im Hut blickte sie nochmals der etwas beleibt gewordenen, ruhigen Annuschka in die Augen. Offenes Mitleid war in diesen kleinen, gutmütigen, grauen Augen sichtbar.

„Liebe Annuschka, was soll ich thun?“ sagte Anna weinend, sich hilflos in einem Lehnsessel sinken lassend.

„Wozu sich so beunruhigen, Anna Arkadjewna! So geht es eben! Fahrt nur und zerstreut Euch,“ antwortete die Zofe.

„Ja, ich werde fahren,“ sagte Anna, sich ermannend und aufstehend. „Wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm einlaufen sollte, so soll es zu Darja Aleksandrowna geschickt werden – oder nein; ich werde selbst zurückkommen!“ —

„Ja, man muß nicht grübeln, sondern etwas thun, ausfahren, und hauptsächlich dieses Haus verlassen,“ sprach sie, mit Entsetzen die furchtbare Wallung wahrnehmend, welche in ihrem Herzen entstand, ging hastig hinaus und setzte sich in den Wagen.

„Wohin befehlt Ihr?“ frug Peter, bevor er sich auf den Bock setzte. „Nach Znamenka, zu den Oblonskiy!“

28

Das Wetter war klar. Den ganzen Morgen war ein dichter, feiner Regen gefallen und jetzt hatte es sich seit kurzem erst aufgehellt. Die eisernen Dächer, die Trottoirsteine und Pflastersteine, die Räder, das Lederzeug, Kupfer und Blech an den Equipagen, alles glänzte hell in der Maisonne. Es war drei Uhr, die Zeit, zu welcher es auf den Straßen am lebhaftesten ist.

In der Ecke des ruhig gehenden Wagens sitzend, der auf seinen Sprungfedern bei dem schnellen Gange der beiden Grauen kaum schaukelte, ließ Anna unter dem eintönigen Rasseln der Räder, den schnell wechselnden Eindrücken bei der klaren Luft, von neuem die Vorkommnisse der letzten Tage an sich vorüberziehen und sie erkannte ihre Lage als eine ganz andere, als wie sie ihr zu Haus erschienen war. Jetzt erschien ihr selbst der Gedanke an den Tod nicht mehr so furchtbar und deutlich, und der Tod selbst erschien ihr nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe über die Niedergeschlagenheit, bis zu welcher sie sich hatte führen lassen.

„Ich werde ihn beschwören mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm untergeordnet und mich schuldig bekannt. Aber warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?“

Und ohne sich auf die Frage, wie sie ohne ihn leben könnte, zu antworten, begann sie die Ladenschilder zu lesen. „Comptoir und Niederlage. – Zahnarzt – ja, ich werde Dolly alles sagen. Sie liebt Wronskiy nicht. Für mich wird es schmachvoll, schmerzlich sein, aber ich will ihr alles sagen. Sie liebt mich und ich werde ihrem Rate folgen. Ich werde mich ihm nicht unterwerfen, ihm nicht gestatten, mich zu erziehen. – Philippoff, Kalatschenkauf. – Man soll den Teig auch nach Petersburg bringen. Das Moskauer Wasser ist so gut; ja die Brunnen von Mytichy und die Pfannkuchen“ – und sie erinnerte sich, wie sie vor langer, langer Zeit, als sie noch siebzehn Jahre zählte, mit der Tante zum Pfingstfest gekommen war; zu Pferde noch. War ich denn das wirklich, ich mit den schönen Händen? Wie vieles von dem, was mir damals so schön und unerreichbar erschien, ist dahin, während mir das, was ich damals besaß, jetzt auf ewig unerreichbar geworden ist.

Hätte ich damals geglaubt, daß ich bis zu einem solchen Grade von Erniedrigung gelangen könnte? Wie wird er stolz und befriedigt sein, wenn er mein Billet empfängt! Aber ich werde ihm zeigen. – Wie übel doch diese Farbe hier riecht! Warum streicht und baut man nur fortwährend? – „Moden- und Putzwaaren“ – las sie weiter. Ein Mann grüßte sie; es war der Gatte Annuschkas; „unsere Parasiten,“ dachte sie, sich der Worte Wronskiys erinnernd. „Unsere? Warum unsere? Es ist entsetzlich, daß man die Vergangenheit nicht mit der Wurzel ausreißen kann! Man kann sie nicht ausreißen, aber die Erinnerung daran bedecken. Und ich will sie verhüllen.“

Und jetzt dachte sie an ihr vergangenes Leben mit Aleksey Aleksandrowitsch, daran, daß sie ihn aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte. „Dolly wird denken, daß ich nun den zweiten Mann verlasse, und daher gewiß im Unrecht bin. Kann ich denn aber im Rechte sein? Ich kann es nicht,“ fuhr sie fort und die Thränen stiegen in ihr auf. Doch sie begann sogleich, sich zu denken, warum wohl jene beiden Mädchen dort so lächelten. Wahrscheinlich in Liebesgedanken? Sie wissen nicht, wie traurig, wie niedrig das ist!

Da kommt der Boulevard; Kinder spielen auf ihm. Drei Knaben laufen da und spielen Pferd. – Mein Sergey! – Alles verliere ich und ihn kann ich nicht wieder erhalten. Ja, alles verliere ich, wenn er nicht zurückkehrt. Vielleicht hat er sich mit dem Zug verspätet und ist jetzt schon zurück. Aber soll ich mich schon wieder erniedrigen?“ frug sie sich selbst, „nein, ich will zu Dolly und ihr offen sagen, ich bin unglücklich, ich habe es verdient und bin schuldig – immer aber doch unglücklich – hilf mir! – Diese Pferde, dieser Wagen, wie abscheulich komme ich mir selbst in diesem Wagen vor – alles ist ja sein; doch ich werde nichts mehr davon sehen.“ —

 

Indem sie sich die Worte überlegte, mit welchen sie Dolly alles sagen wollte, absichtlich sich ihr Herz zerreißend, betrat Anna die Treppe.

„Ist man daheim?“ frug sie im Vorzimmer.

„Katharina Aleksandrowna Lewina ist zugegen,“ antwortete der Diener.

„Kity! Die nämliche Kity, in welche Wronskiy verliebt gewesen ist,“ dachte Anna, „die nämliche, der er in Liebe gedachte. Er bedauerte, sie nicht geheiratet zu haben, aber meiner gedenkt er in Haß und er beklagt es, sich mit mir vereint zu haben.“

Unter den Schwestern fand, als Anna ankam, gerade eine Beratung betreffs der Ernährungsfrage des Kindes statt. Dolly ging allein hinaus, um den Besuch zu empfangen, der in diesem Augenblick ihr Gespräch störte.

„Ach, du bist noch nicht abgereist? Ich wollte selbst zu dir kommen“ – sagte sie, „heute habe ich einen Brief von Stefan erhalten!“

„Wir haben gleichfalls eine Depesche empfangen,“ antwortete Anna, sich umschauend, um Kity zu sehen.

„Er schreibt, er könne nicht begreifen, was Aleksey Aleksandrowitsch eigentlich wolle, würde aber nicht ohne einen Bescheid abreisen.“

„Ich dachte, es wäre jemand bei dir. Kann man den Brief lesen?“

„Ja, Kity ist da,“ sprach Dolly, in Verlegenheit geratend, „sie ist in der Kinderstube geblieben; sie war sehr krank.“

„Ich habe davon gehört. Kann ich den Brief lesen?“

„Sogleich will ihn bringen. Doch er giebt keinen abschläglichen Bescheid, im Gegenteil, Stefan hofft,“ sagte Dolly, in der Thür stehen bleibend.

„Ich hoffe und wünsche auch nichts,“ antwortete Anna. „Was heißt das, hält es Kity für entwürdigend, mit mir zusammenzutreffen?“ dachte Anna, während sie allein war. „Vielleicht ist sie damit auch im Rechte, aber nur durfte sie gerade, welche in Wronskiy verliebt gewesen ist, mir es nicht zeigen, auch wenn dies verdient wäre. Ich weiß, daß mich in meiner Lage kein ehrenhaftes Weib empfangen kann, weiß, daß ich ihm von jener ersten Minute an alles geopfert habe. Nun habe ich meinen Lohn! O, wie ich ihn hasse! Und warum bin ich hierher gefahren? Nur, damit mir noch trauriger und schwerer zu Mute wird!“

Sie vernahm aus dem Nebenzimmer die Stimmen der unter sich sprechenden Schwestern. „Was soll ich jetzt Dolly sagen? Kity ein Vergnügen damit machen, daß ich unglücklich bin, mich ihrer Gönnerschaft aussetzen? Nein, auch Dolly wird nicht begreifen, und ich brauche nichts mit ihr zu reden. Interessant wäre es mir nur gewesen, Kity einmal zu sehen und ihr zu zeigen, daß ich alle, alles verachte, wie mir jetzt alles gleichgültig ist.“

Dolly trat mit dem Briefe ein. Anna las ihn und gab ihn schweigend zurück.

„Das habe ich alles gewußt,“ sagte sie, „und es interessierte mich nicht im geringsten.“

„Aber warum nicht? Ich, im Gegenteil, habe Hoffnung,“ sagte Dolly, Anna neugierig anblickend. Noch nie hatte sie diese in einem so seltsamen Zustande von Erbitterung gesehen, „wann fährst du?“ frug sie.

Anna schaute finster vor sich hin und antwortete ihr nicht.

„Versteckt sich Kity vor mir?“ sprach sie nach der Thür blickend und rot werdend.

„O, was das für Thorheiten sind! Sie läßt das Kind trinken, aber es glückt ihr nicht recht; ich habe ihr geraten – sie ist vielmehr sehr erfreut, und wird sogleich kommen,“ sagte Dolly etwas unsicher, da sie nicht zu lügen verstand. „Da ist sie ja!“ —

Nachdem Kity erfahren hatte, daß Anna gekommen sei, wollte sie nicht erscheinen, doch Dolly redete ihr zu. Nachdem sie sich gesammelt hatte, kam sie nun und trat errötend näher, Anna die Hand reichend.

„Ich freue mich sehr,“ sprach sie mit zitternder Stimme.

Kity war verwirrt gewesen über den Kampf, der in ihr vor sich ging, und zwischen der Feindschaft gegen dieses verworfene Weib, und dem Wunsche, entgegenkommend gegen es zu sein, schwankte sie, allein sobald sie das schöne sympathische Gesicht Annas erblickt hatte, war alle Feindseligkeit sogleich verschwunden.

„Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Ihr nicht wünschtet, mir zu begegnen. Ich bin an alles gewöhnt. Ihr seid krank gewesen? Allerdings, Ihr habt Euch verändert,“ sprach Anna.

Kity empfand, daß Anna sie feindselig betrachtete. Sie erklärte sich diese Feindseligkeit aus der peinlichen Lage, in welcher sich Anna, die früher eine Protektorschaft über sie geübt hatte, vor ihr fühlte.

Sie sprachen von der Krankheit, dem Kinde, von Stefan, aber nichts von alledem interessierte Anna.

„Ich bin gekommen, mich von dir zu verabschieden,“ sagte sie aufstehend.

„Wann fahrt Ihr?“

Anna wandte sich abermals, ohne zu antworten, zu Kity.

„Es freut mich sehr, Euch wiedergesehen zu haben,“ sprach sie lächelnd. „Ich habe über Euch von allen Seiten gehört, selbst von Eurem Gatten. Er ist bei mir gewesen und hat mir sehr gefallen,“ fügte sie, augenscheinlich in übler Absicht hinzu. „Wo ist er denn?“

„Er ist aufs Dorf gefahren,“ antwortete Kity errötend.

„Grüßt ihn von mir, grüßt ihn ja von mir!“

„Gewiß,“ wiederholte Kity treuherzig, ihr voll Mitleid in die Augen blickend.

„Also leb' wohl, Dolly?“ Nachdem Anna Dolly geküßt und Kity die Hand gedrückt hatte, ging Anna eilig fort.

„Sie bleibt immer die gleiche, fesselnde; sie ist sehr hübsch,“ sagte Kity, nachdem sie mit der Schwester allein geblieben, „aber es liegt etwas Mitleiderweckendes in ihr. Es ist doch entsetzlich traurig!“

„Nein, heute lag in ihr etwas Eigenartiges,“ sagte Dolly, „als ich sie hinausbegleitete, schien mir im Vorzimmer, als ob sie weinen wollte.“

29

Anna setzte sich wieder in den Wagen, noch düsterer gestimmt, als sie es bei ihrer Wegfahrt von Hause gewesen war. Zu den früheren Qualen gesellte sich jetzt das Gefühl der Kränkung und Verstoßenheit, welches sie deutlich bei ihrer Begegnung mit Kity empfunden hatte.

„Wohin befehlt Ihr? Nach Hause?“ frug Peter.

„Ja, nach Hause,“ sagte sie, jetzt gar nicht mehr daran denkend, wohin sie fuhr.

„Wie sie mich anblickten; gerade, als wäre ich etwas Furchtbares, Unbegreifliches und Neugier Erregendes. – Wovon mag der da wohl mit solchem Eifer dem andern erzählen,“ dachte sie, auf zwei Fußgänger blickend. – „Kann man denn einem andern erzählen, was man empfindet? Ich wollte es Dolly erzählen, aber es ist gut, daß ich nicht erzählt habe. Wie froh wäre sie über mein Unglück gewesen! Sie hätte dies zwar verheimlicht, aber in der Hauptsache wäre ihr Gefühl nur die Freude darüber gewesen, daß ich für jene Lust bestraft worden bin, um welche sie mich beneidet hat. Kity nun würde sich noch mehr gefreut haben. Wie ich sie jetzt durch und durch kenne! Sie weiß, daß ich gegen ihren Mann außergewöhnlich liebenswürdig gewesen bin, ist nun eifersüchtig auf mich und haßt mich. Sie verachtete mich aber auch noch. In ihren Augen bin ich ein Weib ohne Moral. Ich hätte ihren Mann mit Liebe zu mir erfüllen können, wenn ich ein sittenloses Weib wäre. – Wenn ich gewollt hätte. – Ich habe auch gewollt! – Der dort ist zufrieden mit sich selbst“ – dachte sie beim Anblicke eines dicken, rotaussehenden Herrn, der an ihr vorübergefahren kam, sie für eine Bekannte hielt, und den Hut auf seinem glänzenden Glatzkopf lüftete, sich dann aber überzeugte, daß er geirrt habe.

„Er glaubte, mich zu kennen, und er kannte mich doch so wenig, wie mich überhaupt jemand auf der Welt kennen mag. Ich selbst kenne ihn nicht. Ich kenne nur seine appetits, wie die Franzosen sagen. – Die da möchten dieses schmutzige Gefrorene haben,“ dachte sie, auf zwei Knaben blickend, welche einen Eisverkäufer angehalten hatten, der seinen Tuber vom Kopfe nahm und mit dem Zipfel seines Handtuchs das schweißbedeckte Gesicht abtrocknete. „Uns alle verlangt nach Süßigkeit und Leckerei. Ist es nicht Konfekt, so kann es schmutziges Gefrorenes sein. Auch mit Kity ist es so; war es nicht Wronskiy, so war es Lewin. Und sie beneidet mich, und haßt mich dafür. Wir alle hassen uns gegenseitig. Ich Kity – Kity mich! Das ist die Wahrheit. – ‚Tjutkin, Coiffeur. – Je me fais coiffer par Tjutkin.‘ Dies werde ich ihm sagen, wenn er kommt,“ dachte sie und lächelte. Doch im selben Augenblick erinnerte sie sich, daß sie jetzt nicht Ursache habe, jemand etwas Scherzhaftes zu sagen; „es giebt auch nichts Scherzhaftes oder Heiteres dabei, alles ist häßlich. Man läutet zur Vesper; wie sorgsam sich dieser Kaufmann bekreuzigt. Als ob er fürchtete, etwas zu verlieren. Wozu diese Kirchen, dieses Läuten, diese Lüge? Nur dazu, um zu verbergen, daß wir uns alle einander hassen, wie diese Mietkutscher da, die sich so erbost streiten. Jaschwin sagt: Der Gegner sucht mich bis aufs Hemd auszuplündern, also thue ich dies auch mit ihm. Das ist Gerechtigkeit!“ —

In diesen Gedanken, welche sie so beschäftigten, daß sie selbst über ihre Lage nachzudenken aufgehört hatte, fand sie sich, als der Wagen vor der Freitreppe ihres Hauses anhielt. Erst als sie den ihr entgegenkommenden Portier erblickte, erinnerte sie sich wieder, daß sie ein Billet und ein Telegramm abgeschickt hatte.

„Ist Antwort da?“ frug sie.

„Ich werde sogleich nachsehen,“ versetzte der Portier, schaute in das kleine Comptoir, langte hinein und reichte ihr ein viereckiges, dünnes Couvert mit einem Telegramm. „Ich kann nicht früher als um zehn Uhr kommen. Wronskiy.“ – las sie.

„Der Bote ist nicht zurückgekehrt?“

„Nein,“ antwortete der Portier.

„Wenn es so steht, weiß ich, was ich zu thun habe,“ sagte sie und eilte in dem Gefühl eines in ihr aufsteigenden, unklaren Grimmes und des Verlangens nach Rache hinauf. „Ich werde selbst zu ihm fahren; bevor ich auf immer gehe, will ich ihm noch alles sagen! Nie habe ich einen Menschen so gehaßt, wie diesen Mann!“ dachte sie. Als sie seinen Hut am Kleidergestell erblickte, schauerte sie zusammen vor Widerwillen.

Sie bedachte nicht, daß sein Telegramm die Antwort auf das ihrige bildete, und er ihren Brief noch gar nicht erhalten hatte. Sie stellte sich ihn jetzt vor in ruhigem Gespräch mit seiner Mutter und der Sorokina, voll Freude über ihre Leiden. „Ja, ich muß möglichst bald fahren,“ sprach sie zu sich, noch ohne zu wissen, wohin. Es verlangte sie, möglichst schnell den Empfindungen entgehen zu können, welche sie in diesem furchtbaren Hause hatte. Die Dienstboten, die Wände, die Gegenstände in diesem Hause – alles forderte in ihr Widerwillen und Zorn heraus, und beklemmte sie mit einer gewissen Schwere.

„Ich muß auf die Eisenbahnstation fahren, und ist er nicht dort, zu ihm selbst und ihn überführen!“

Anna sah in den Zeitungen nach den Fahrplänen der Züge. Es ging abends acht Uhr zwei Minuten ein Zug. „Ja, da will ich eilen.“

Sie befahl andere Pferde anzuspannen, und widmete sich dem Einpacken von Sachen in eine Reisetasche, die ihr für einige Tage erforderlich waren. Sie wußte, daß sie nicht wieder hierher zurückkehren werde. In ihrer Aufregung entschloß sie sich unter den Plänen die ihr in den Kopf kamen, je nach den Vorgängen auf der Station oder auf dem Gute der Gräfin, auf der Strecke Nishegorod bis zur nächsten Stadt zu fahren und dort zu bleiben.

Das Essen stand auf dem Tische. Sie trat heran, roch an Brot und Käse und befahl, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß der Geruch alles Eßbaren ihr nur widerlich sei, den Wagen anzuspannen, worauf sie hinausging.

Das Haus warf seinen Schatten bereits über die ganze Straße; es war ein klarer, noch warmer und sonniger Abend.

Sowohl Annuschka, die ihr mit den Sachen folgte, als Peter, welcher dieselben im Wagen unterbrachte und der Kutscher, der augenblicklich schlechte Laune hatte – alle waren ihr widerlich und reizten sie mit ihren Worten und Bewegungen.

„Ich brauche dich nicht, Peter!“

„Aber das Billet?“

„Nun, wie du willst, mir ist alles gleich,“ sprach sie verdrießlich.

Peter stieg hinten auf und befahl, die Hände in die Seite gestützt, nach dem Bahnhof zu fahren.