Za darmo

Anna Karenina, 2. Band

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8

Vom Tische aufstehend, ging Lewin, in dem Gefühl, daß ihm beim Gehen die Hände eigentümlich sicher und leicht in der Bewegung waren, mit Gagin durch die hohen Zimmer nach dem Billardsaal. Als er durch den großen Saal schritt, traf er seinen Schwiegervater.

„Nun, was sagst du? Wie gefällt dir unser Tempel der Muße?“ sagte der Fürst, ihn am Arme nehmend. „Komm, gehen wir weiter!“

„Auch ich wollte gehen und ein wenig zuschauen. Es ist interessant.“

„Ja, für dich. Doch für mich ist das Interesse schon ein anderes, als für dich. Du schaust freilich auf diesen Alten da,“ sprach er, auf ein gebücktes Mitglied des Klubs mit herabhängender Lippe zeigend, welches, nur mit Mühe die Füße in den weiten Stiefeln weiterschiebend, ihnen entgegenkam, „und denkst dabei, daß sie schon als solche alte Ruinen geboren worden sind.“

„Was ist das, Ruinen?“

„Du kennst diese Benennung wohl noch nicht. Es ist das unser Klubausdruck. Weißt du: wenn Einer Jahr aus Jahr ein in den Klub kommt, so wird endlich eine Ruine aus ihm. Ja, du lachst darüber, aber unser einer muß schon aufpassen, wenn er selbst unter die Ruinen kommt. Du kennst doch den Fürsten Tschetschenskiy?“ frug der Fürst und Lewin sah an seinem Gesicht, daß er im Begriff sei, etwas Witziges zu sagen.

„Nein, ich kenne ihn nicht.“

„Nun, gewiß doch; der Fürst Tschetschenskiy ist ja bekannt. Doch gleichviel! – Der spielt also ewig Billard. Vor drei Jahren war er noch nicht unter den Ruinen und noch rüstig. Ja, er selbst nannte andere Ruinen. Doch da kommt er einstmals an, und unser Portier, du kennst ihn doch, den Wasiliy? Nun, der Dicke! Der ist groß in Bonmots! Den frägt der Fürst Tschetschenskiy, ‚he, Wasiliy, wer ist denn alles gekommen? Sind Ruinen mit dabei?‘ Wasiliy antwortet ihm: >Ihr seid die dritte darunter.‘ – Ja, Bruder; so ist es.“ —

Unter Gespräch und Begrüßungen mit begegnenden Bekannten ging Lewin mit dem Fürsten durch alle Zimmer; durch das große, in welchem bereits die Tische standen und die an nicht hohes Spiel gewöhnten Partner spielten, dann in das Diwanzimmer, wo man Schach spielte, und wo Sergey Iwanowitsch im Gespräch mit jemand saß – hierauf durch das Billardzimmer, wo in einer Zimmernische bei dem Diwan eine lustige Champagnergesellschaft, an welcher Gagin teilnahm, sich etabliert hatte. Sie warfen auch einen Blick in das „infernalische Zimmer“, wo sich um einen Tisch, hinter welchem Jaschwin bereits Platz genommen hatte, viele Setzende drängten.

Sich bemühend, Geräusch zu vermeiden, begaben sie sich auch nach dem dämmrigen Lesezimmer, wo unter den Lampen einsam ein junger Mann mit galligem Gesicht saß, der ein Journal nach dem andern ergriff, und ein kahlköpfiger General, der in seine Lektüre vertieft war. Sie gingen auch nach dem Zimmer, welches der Fürst „das verständige“ nannte. In diesem Raume sprachen drei Herren eifrig über die letzte politische Neuigkeit.

„Fürst, wenn es gefällig ist; alles bereit,“ sagte einer seiner Partner, ihn hier findend, und der Fürst ging. Lewin blieb sitzen, hörte zu, aber plötzlich wurde es ihm, indem er sich des heutigen Morgens erinnerte, entsetzlich langweilig zu Mute. Er erhob sich hastig und ging, um Oblonskiy und Turowzyn zu suchen, in deren Gesellschaft es heiter zuging.

Turowzyn saß mit einem Kruge auf einem hohen Diwan im Billardzimmer, und Stefan Arkadjewitsch und Wronskiy unterhielten sich an der Thür in einer entfernten Ecke des Zimmers.

„Nicht, daß sie sich langweilte, aber diese Unbestimmtheit, die Unentschiedenheit in ihrer Lage,“ hörte Lewin und wollte sich eiligst zurückziehen, doch Stefan Arkadjewitsch rief ihn herbei.

„Lewin!“ sagte Stefan Arkadjewitsch, und Lewin bemerkte in seinen Augen zwar nicht Thränen, wohl aber eine gewisse Feuchtigkeit, wie dies stets der Fall bei ihm war, wenn er entweder getrunken hatte, oder in Gefühl zerfloß. Jetzt war bei ihm beides der Fall.

„Lewin geh' nicht fort,“ sprach er und drückte seinen Arm fest mit seiner Hand, augenscheinlich mit dem Wunsche, ihn um keinen Preis von sich zu lassen.

„Dies ist mein aufrichtigster, vielleicht mein bester Freund,“ sagte er zu Wronskiy, „du bist mir gleichfalls mehr vertraut und teuer, und ich will und weiß, daß ihr Freunde und Vertraute werden müßt, da ihr beide gute Menschen seid.“

„Nun, dann bleibt uns nur übrig, den Bruderkuß zu tauschen,“ sagte Wronskiy, gutmütig scherzend und Lewin die Hand reichend.

Dieser nahm schnell die dargebotene Hand und drückte sie fest.

„Es freut mich sehr, sehr,“ sagte Lewin, seine Hand drückend.

„Kellner, eine Flasche Champagner,“ befahl Stefan Arkadjewitsch.

„Auch ich freue mich herzlich,“ äußerte Wronskiy.

Trotz des Wunsches Stefan Arkadjewitschs, und ihrer beiderseitigen Absicht, wußten sie doch nichts weiteres zu sagen, und beide fühlten dies.

„Du weißt, daß er mit Anna nicht bekannt ist?“ sagte Stefan Arkadjewitsch zu Wronskiy, „ich will ihn aber unbedingt mit ihr in Verbindung bringen. Komm Lewin!“

„Solltet Ihr!“ sagte Wronskiy, „sie wird sich sehr freuen! Ich würde sogleich nach Haus fahren,“ fügte er hinzu, „doch Jaschwin beunruhigt mich und ich will hier bleiben, bis er aufhört.“

„Nun, steht es schlecht mit ihm?“

„Er verliert fortwährend, und ich allein nur kann ihn abhalten.“

„Wie wäre es mit einer Pyramide? Lewin spielst du? Schön!“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „stelle eine Pyramide,“ wandte er sich zu dem Marqueur.

„Schon längst fertig,“ erwiderte dieser, der bereits die Bälle in das Dreieck gesetzt hatte und zum Zeitvertreib den roten roulieren ließ.

„Stoßt!“

Nach der Partie ließen sich Wronskiy und Lewin an dem Tische Gagins nieder, und Lewin begann, dem Vorschlage Stefan Arkadjewitschs folgend, auf die Asse zu setzen. Wronskiy saß bald am Tische, fortwährend umgeben von zu ihm kommenden Bekannten, bald begab er sich in das „Infernalische“, um nach Jaschwin zu sehen. Lewin verspürte eine angenehme Erholung von der geistigen Abgespanntheit am Vormittag. Ihn erfreute die Beilegung der Feindschaft mit Wronskiy, und ein Gefühl von Beruhigung, Standeswürde und Frohsinn verließ ihn nicht mehr.

Als die Partie zu Ende war, nahm Stefan Arkadjewitsch Lewin unter dem Arm.

„Gehen wir also zu Anna! Sogleich? Ja? Sie ist zu Haus. Ich habe ihr schon seit Langem versprochen, dich einmal mit zu ihr zu bringen. Wohin willst du für den Abend gehen?“

„Ich habe nichts Besonderes vor. Swijashskiy hatte ich versprochen, in die Gesellschaft für Landwirtschaft zu kommen. Fahren wir hin, wenn du willst,“ sagte Lewin.

„Ausgezeichnet! Fahren wir! Frage doch, ob mein Wagen gekommen ist!“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an einen Lakaien.

Lewin trat zum Tische, bezahlte vierzig Rubel, die von ihm auf die Asse verspielt worden waren, sowie mit einer gewissen geheimnisvollen Manier die Ausgaben für den Klub, die dem alten Lakaien, welcher an der Schwelle stand, bekannt waren, und schritt dann mit eigentümlichen Armbewegungen durch sämtliche Säle dem Ausgang zu.

9

„Oblonskiys Wagen!“ rief mit starkem Baß der Portier.

Der Wagen fuhr vor und beide nahmen Platz. Nur während der ersten Zeit, so lange der Wagen aus dem Thor des Klubhauses fuhr, hatte Lewin noch das Gefühl der Klubbehaglichkeit, zufriedener Stimmung und der unzweifelhaften Noblesse der Umgebung, kaum aber war der Wagen auf die Straße hinausgefahren, kaum fühlte er das Rollen des Wagens auf der unebenen Straße, hatte er den heftigen Ruf eines begegnenden Mietkutschers vernommen, und bei der mangelhaften Beleuchtung das rote Schild einer Schenke und eines Kaufladens wieder erblickt, da war dieser Eindruck vernichtet, und er begann abermals seine Handlungsweise zu überlegen und sich zu fragen, ob er gut daran thue, zu Anna zu fahren. Was würde Kity sagen?

Stefan Arkadjewitsch ließ ihn indessen nicht zum Nachdenken kommen, und, als ob er seine Zweifel erriete, zerstreute er sie.

„Wie freue ich mich,“ sprach er, „daß du sie kennen lernen wirst. Du weißt, Dolly hat dies längst gewünscht. Auch Lwoff war bei ihr und kommt noch zu ihr. Obwohl sie meine Schwester ist,“ fuhr er fort, „kann ich doch rückhaltslos sagen, daß sie ein merkwürdiges Weib ist. Du wirst ja sehen. Ihre Lage ist sehr schwierig, besonders jetzt.“

„Weshalb denn besonders jetzt?“

„Wir pflegen Verhandlungen mit ihrem Manne über die Ehescheidung. Er ist damit einverstanden, aber es giebt Schwierigkeiten bezüglich ihres Sohnes, und die Sache, welche schon längst erledigt sein müßte, zieht sich nun schon drei Monate hin. Sobald die Scheidung stattgefunden haben wird, heiratet sie Wronskiy. Wie thöricht ist doch jene alte Gewohnheit des sich Drehens und Wendens, der niemand mehr glaubt, und welche dem Glück der Leute im Wege steht!“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Nun, dann aber wird ihr Glück ein gesichertes sein, so wie das meine, das deine.“

„Worin beruht aber die Schwierigkeit?“ frug Lewin.

„Ach, das ist eine lange und langweilige Geschichte! Alles daran ist so unbestimmt. Doch die Sache ist die, sie trägt die Schuld. Indem sie diese Scheidung in Moskau erwartet, wohnt sie schon drei Monate hier, wo jedermann ihn und sie kennt. Sie fährt nirgendshin, sieht keine der Damen, außer Dolly, weil sie es, weißt du, nicht will, daß man aus Mitleid zu ihr käme. Selbst diese Närrin, die Fürstin Barbara, hat sie verlassen, weil sie ihre Gegenwart für unschicklich hält. Unter solchen Verhältnissen, in solcher Lage, würde ein anderes Weib keine Stützpunkte in sich finden. Sie aber, du wirst es sehen, wie sie sich ihr Leben eingerichtet hat, wie ruhig, wie würdevoll sie ist. – Links, durch das Seitengäßchen, gegenüber der Kirche“ – rief Stefan Arkadjewitsch plötzlich, sich durch das Wagenfenster beugend. „O, welche Hitze!“ sagte er, trotz der zwölf Grad Kälte noch mehr mit seinem Pelze fächelnd, der schon offen stand.

 

„Sie hat doch wohl eine Tochter, wahrscheinlich beschäftigt sie sich mit dieser?“ sagte Lewin.

„Du scheinst dir jede Frau nur als eine Bruthenne vorzustellen, une couveuse,“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Wenn eine Frau beschäftigt ist, muß sie es unfehlbar mit Kindern sein! Nun, sie erzieht das Kind ja vorzüglich, wie es scheint, aber man hört nichts weiter davon. Sie ist vor allem damit beschäftigt, zu schreiben. Ich sehe schon, du lächelst ironisch, aber umsonst. Sie schreibt ein Buch für Kinder und sagt niemand etwas davon; mir aber hat sie es vorgelesen und ich habe das Manuskript Workujeff gegeben – du weißt, der Verleger – er ist ja selbst Schriftsteller, wie mir scheint. Der versteht doch die Sache und sagt, daß es sich hier um einen interessanten Stoff handle. Du denkst gewiß, was ist ein schriftstellerndes Weib! Denke das nicht! Sie ist vor allem ein Weib mit einem Herzen, du wirst ja sehen. Jetzt hat sie eine kleine Engländerin und eine ganze Familie, von der sie in Anspruch genommen ist.“

„Also etwas Menschenfreundliches?“

„Du siehst doch immer nur sofort das Üble; es ist nichts philanthropisches, sondern eine Herzenssache. Sie hatten – ich meine Wronskiy – einen englischen Traineur, einen Meister in seinem Fache, aber auch Säufer. Der hat sich vollständig zu Schanden getrunken – delirium tremens – und die Familie war verlassen. Da erblickte sie die Leute, sie half, bekümmerte sich um sie, und jetzt ist die ganze Familie in ihrer Obhut; und sie hat dies nicht nur so von oben herab gethan, mit Geld, sondern bereitet selbst die Knaben auf russisch für das Gymnasium vor und hat das kleine Mädchen zu sich genommen. Du wirst dieses ja sehen.“

Der Wagen fuhr auf den Hof und Stefan Arkadjewitsch schellte laut an der Einfahrt, vor welcher ein Schlitten stand.

Ohne den öffnenden Dienstmann zu fragen, ob man daheim sei, begab sich Stefan Arkadjewitsch in den Flur. Lewin folgte ihm, mehr und mehr in Zweifel geratend, ob er recht oder nicht recht handle.

In einen Spiegel blickend, bemerkte er, daß er rot aussehe, doch war er überzeugt, nicht berauscht zu sein und stieg die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, hinter Stefan Arkadjewitsch her.

Oben frug dieser einen Lakaien, welcher sich verbeugte, wie man einen niedriger Stehenden grüßt, wer bei Anna Arkadjewna sei? und erhielt zur Antwort „Herr Workujeff“.

„Wo ist man?“

„Im Kabinett.“

Durch den kleinen Speisesalon mit den dunkeln, holzbekleideten Wänden, traten sie auf dem weichen Teppich in ein halbdunkles Kabinett, welches nur von einer Lampe mit großem dunklen Schirm erleuchtet wurde. Eine andere Lampe brannte als Refraktor an der Wand und erleuchtete das in Lebensgröße gemalte Porträt einer Frau, welchem Lewin unwillkürlich seine Aufmerksamkeit zuwandte. Es war dies das in Italien von Michailoff gefertigte Porträt Annas. Während Stefan Arkadjewitsch hinter eine Traillage schritt, und eine männliche Stimme, welche gesprochen hatte, verstummte, betrachtete Lewin das Porträt, welches in der schimmernden Beleuchtung aus dem Rahmen heraustrat, und konnte sich nicht davon losreißen. Er hatte sogar vergessen, wo er war, und verwendete, ohne zu hören, was gesprochen wurde, kein Auge von dem wunderbaren Bild.

Das war kein Bild mehr, sondern eine lebende, reizende Frau mit schwarzen wallenden Haaren, entblößten Schultern und Händen und sinnigem halben Lächeln auf den von einem zarten Flaume überdeckten geöffneten Lippen, welche ihn sieghaft und zärtlich mit ihren verwirrenden Augen anschaute. Nur insofern war sie nicht belebt, als sie schöner war, wie eine Lebende sein konnte.

„Sehr erfreut,“ vernahm er plötzlich neben sich eine Stimme, die sich augenscheinlich an ihn wandte; die Stimme desselben Weibes, in welches er sich auf dem Porträt im Anschauen verloren hatte.

Anna war ihm entgegengekommen, hinter der Traillage hervor, und Lewin gewahrte im Zwielicht des Kabinetts die nämliche Frau des Porträts, in dunklen, buntfarbig blauem Kleid, nicht in derselben Stellung, nicht mit dem nämlichen Ausdruck, wohl aber mit derselben Hoheit jener Schönheit, in welcher sie von dem Künstler auf dem Bilde erfaßt worden war. Sie war weniger glänzend in der Wirklichkeit, aber dafür lag in der Lebenden etwas Ungewohntes, Anziehendes, was nicht im Porträt war.

10

Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude, ihn zu sehen, zu verhehlen. In dieser Ruhe, mit welcher sie ihm die kleine und energische Hand entgegenstreckte, ihn mit Workujeff bekannt machte und dann auf ein rothaariges, hübsches kleines Mädchen zeigte, welches hier bei einer Arbeit saß, und das sie ihre Pflegebefohlene nannte, lagen die Lewin bekannten, angenehmen Manieren der Frau aus der großen Welt, die stets ruhig und natürlich sind.

„Es ist mir sehr, sehr angenehm,“ wiederholte sie, und in ihrem Munde erhielten diese einfachen Worte für Lewin aus unbekanntem Grunde eine eigentümliche Bedeutung. „Ich kenne und liebe Euch lange schon wegen Eurer Freundschaft für Stefan und wegen Eures Weibes; ich habe dieses nur kurze Zeit gekannt, aber es hat in mir den Eindruck einer reizenden Blüte hinterlassen, ja, einer Blüte! Sie wird also bald Mutter werden?“

Anna sprach ungezwungen und ohne Hast, bisweilen ihren Blick von Lewin auf ihren Bruder richtend. Ersterer empfand, daß der Eindruck, den er hervorbrachte, ein guter sein mußte, und sogleich wurde es ihm nun in ihrer Gesellschaft so leicht, so frei und behaglich zu Mut, als hätte er sie von Kindheit an gekannt.

„Ich habe mit Iwan Petrowitsch im Kabinett Alekseys Platz genommen,“ sagte sie, Stefan Arkadjewitsch auf dessen Frage, ob man rauchen dürfe, – antwortend „damit er eben rauchen könne,“ und nahm, auf Lewin blickend, anstatt zu fragen ob er rauche, ein Cigarrenetuis von Schildkrot, aus welchem sie eine Cigarette zog.

„Wie steht es jetzt mit deiner Gesundheit?“ frug sie ihr Bruder.

„Wie soll es gehen; die Nerven sind stets dieselben.“

„Nicht wahr, ziemlich gut?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, bemerkend, daß Lewin das Porträt betrachtete.

„Ich habe noch nie ein besseres Porträt gesehen.“

„Und ziemlich ähnlich, nicht wahr?“ sagte Workujeff.

Lewin schaute vom Porträt auf das Original. Ein eigentümlicher Glanz erleuchtete das Antlitz Annas, während sie seinen Blick auf sich ruhen fühlte. Lewin errötete, und wollte, um seine Verlegenheit zu verbergen, fragen, ob es schon längere Zeit her sei, daß sie Darja Aleksandrowna gesehen habe, doch im selben Augenblick begann Anna:

„Ich habe mit Iwan Petrowitsch soeben von den letzten Gemälden Waschtschenkoffs gesprochen. Habt Ihr sie gesehen?“

„Ja, ich habe sie gesehen,“ antwortete Lewin.

„Doch entschuldigt, ich habe Euch unterbrochen, Ihr wolltet sagen“ —

Lewin frug, ob sie vor längerer Zeit Dolly gesehen hätte.

„Gestern war sie bei mir; sie ist wegen Grischa sehr schlecht auf das Gymnasium zu sprechen. Der Lehrer im Lateinischen scheint es, ist ungerecht gewesen gegen ihn.“

„Ich habe die Bilder gesehen; sie haben mir sehr gefallen,“ wandte sich Lewin zu dem von ihr begonnenen Gespräch zurück.

Lewin sprach jetzt ganz und gar nicht mehr von jener handwerksmäßigen Stellung zum Gegenstande, aus der er am Morgen gesprochen hatte. Jedes Wort der Unterhaltung mit ihr erhielt eine eigentümliche Bedeutung. Schon mit ihr reden war ihm angenehm, noch angenehmer aber, ihr zuzuhören.

Anna sprach nicht nur natürlich, und klug, sondern auch klug und ohne Zwang, ohne ihren Gedanken Wert beizulegen, während sie den Ideen des anderen großes Gewicht beilegte.

Das Gespräch drehte sich um die neue Richtung in der Kunst, um die neue Illustration der Bibel durch einen französischen Künstler. Workujeff zieh den Künstler eines Realismus, der bis zur Derbheit ging. Lewin sagte, daß die Franzosen das Abstrakte in der Kunst entwickelt hätten wie niemand, und sie daher ein besonderes Verdienst in der Rückkehr zum Realismus erblickten. Schon darin, daß sie nicht mehr lögen, sähen sie Poesie.

Noch nie hatte Lewin etwas Vernünftiges, was er je einmal gesagt haben mochte, so viel Vergnügen gemacht, als dies. Das Gesicht Annas erglänzte plötzlich über und über, als sie diesen Gedanken momentan abwog. Sie begann zu lächeln.

„Ich lache,“ sagte sie, „wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches Porträt sieht. Das, was Ihr sagtet, charakterisiert jetzt vollkommen die französische Kunst, wie sie jetzt ist, die Malerei, und selbst die Litteratur; Zola, Daudet. Doch ist es vielleicht stets so, daß man seine conceptions aus erdachten, abstrakten Gestalten konstruiert, dann aber, nachdem alle combinaisons ausgeführt sind, die von erdachten Gestalten langweilen und man beginnt, natürlichere wahrhafte Gestalten auszusinnen.“

„Das ist vollkommen richtig,“ sagte Workujeff.

„Ihr waret wohl im Klub?“ wandte sie sich zu ihrem Bruder.

„Ja, das ist ein Weib!“ dachte Lewin, sich ganz vergessend und unverwandt in ihr schönes, bewegliches Gesicht blickend, welches sich jetzt plötzlich vollkommen verändert hatte. Lewin hörte nicht, wovon sie sprach, indem sie sich zu ihrem Bruder gewandt hatte, er war betroffen von der Veränderung ihres Ausdrucks. Vorher so herrlich in seiner Ruhe, drückte ihr Gesicht plötzlich eine seltsame Neugier, Zorn und Stolz aus. Doch dies währte nur eine Minute. Dann blinzelte sie, als denke sie an Etwas.

„Nun ja, dies ist aber doch für niemand von Interesse,“ sagte sie und wandte sich zu der kleinen Engländerin.

Please, order the tea in the drawing-room.“

Das kleine Mädchen erhob sich und ging hinaus.

„Nun; hat sie das Examen bestanden?“ frug Stefan Arkadjewitsch.

„Vorzüglich. Es ist ein sehr beanlagtes Mädchen und ein liebenswerter Charakter.“

„Und die Sache wird damit enden, daß du sie mehr liebst, als dein eigenes Kind.“

„So spricht ein Mann. In der Liebe giebt es kein mehr oder weniger; ich liebe meine Tochter mit einer bestimmten, dieses Mädchen mit einer anderen Liebe.“

„Ich sage eben zu Anna Arkadjewna,“ sagte Workujeff, „daß sie, wenn sie auch nur ein Hundertstel der Energie, welche sie für diese Engländerin einsetzt, auf das gemeinsame Werk der russischen Kindererziehung verwendete, eine große, nützliche That vollbrächte.“

„Ja, das was Ihr da wollt, konnte ich nicht. Graf Aleksey Kyrillowitsch hat mich lebhaft ermuntert“ – indem sie die Worte „Graf Aleksey Kyrillowitsch“ aussprach, schaute sie schüchtern fragend Lewin an, welcher ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen und bestätigenden Blicke antwortete, „mich mit dem Dorfschulwesen zu befassen. Ich kümmerte mich mehrmals darum; die Schulen sind mir sehr wert, aber ich vermochte es nicht, mich der Sache zu widmen. Ihr sprecht von Energie? Die Energie beruht auf der Liebe, und die Liebe läßt sich nicht irgend woher nehmen, nicht anbefehlen. So habe ich dieses Mädchen da lieb gewonnen, ohne selbst zu wissen, weshalb.“

Sie blickte wiederum Lewin an; ihr Lächeln, ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie an ihn nur ihre Worte richte, seine Meinung würdige, und dabei im voraus wisse, daß sie sich gegenseitig verstanden.

„Ich begreife das vollkommen,“ antwortete Lewin, „für die Schule und überhaupt für ähnliche Einrichtungen läßt sich nicht das Herz einsetzen, und ich glaube, daß eben infolge dessen diese humanistischen Einrichtungen stets so geringe Resultate erzielen.“

Anna schwieg eine Weile, dann lächelte sie. „Ja, ja,“ bestätigte sie, „ich habe das nie vermocht. Je n'ai pas le coeur assez large, um ein ganzes Bewahrungshaus voller häßlicher kleiner Mädchen lieb haben zu können. Cela ne m'a jamais réussi. Es giebt jedoch so viele Frauen, welche sich hieraus eine position sociale begründet haben. Und jetzt,“ sprach sie mit trauerndem, zutraulichem Ausdruck, äußerlich zu ihrem Bruder gewendet, augenscheinlich aber nur zu Lewin: „jetzt, wo mir eine Beschäftigung so nötig ist, kann ich es um so weniger.“

Plötzlich finster werdend – Lewin nahm wahr, daß sie es über sich selbst wurde, weil sie über sich gesprochen hatte – veränderte sie aber das Thema.

„Ich weiß von Euch,“ sagte sie zu Lewin, „daß Ihr ein schlechter Bürger seid, und ich habe Euch doch verteidigt, so gut ich es verstand.“

„Wie habt Ihr mich denn verteidigt?“

„Bezüglich gewisser Angriffe. Indessen, ist nicht ein wenig Thee gefällig?“ Sie erhob sich und nahm ein in Saffian gebundenes Buch zur Hand.

„Gebt mir dasselbe, Anna Arkadjewna,“ sagte Workujeff, auf das Buch zeigend, „es ist recht wohl wert.“

„O nein; es ist noch so ungefeilt.“

„Ich habe ihm davon gesagt,“ wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Schwester, auf Lewin deutend.

 

„Das hast du unnötigerweise gethan. Meine Schrift ist so nach Art jener Körbchen und Schnitzereien, die mir die Lisa Marzalowa aus den Ostrogs bisweilen verkaufte. Sie besuchte in seiner Gesellschaft die Ostrogs. Die Unglücklichen haben da Wunder an Geduldsproben geleistet.“

Lewin entdeckte einen neuen Zug an diesem Weibe, das ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Grazie und Schönheit besaß sie auch Treuherzigkeit. Sie wollte vor ihm all das Drückende ihrer Lage gar nicht verheimlichen; und als sie dies gesagt hatte, seufzte sie, und ihr Gesicht, welches plötzlich einen strengen Ausdruck annahm, hatte sich gleichsam versteinert. Mit diesem Ausdruck auf den Zügen aber war sie noch schöner als vorher, doch derselbe war ein fremdartiger; er stand außerhalb dieses von Glück schimmernden, Glück erzeugenden Kreises von Ausdrücken, wie sie von dem Künstler auf dem Porträt aufgefangen worden waren. Lewin blickte noch einmal auf das Bild und auf ihre Gestalt, wie sie, den Arm des Bruders nehmend, mit diesem durch die hohe Thür schritt, und er empfand eine Zärtlichkeit und ein Mitleid mit ihr, das ihn selbst in Erstaunen versetzte.

Sie hatte Lewin und Workujeff gebeten, in den Salon zu treten, während sie selbst zurückgeblieben war, um mit dem Bruder über Etwas zu sprechen.

„Spricht sie von ihrer Ehescheidung, von Wronskiy, oder darüber, was er im Klub macht, oder von mir?“ dachte Lewin, und die Frage, was sie mit Stefan Arkadjewitsch besprechen möchte, versetzte ihn so in Aufregung, daß er fast gar nicht vernahm, was ihm Workujeff über die Vorzüge des von Anna Arkadjewna geschriebenen Kinderromans erzählte.

Beim Thee wurde das nämliche, so angenehme, gehaltvolle Gespräch fortgesetzt. Es gab nicht nur keine einzige Minute, während welcher man nach einem Stoff für die Unterhaltung hätte suchen müssen, sondern im Gegenteil war fühlbar, daß man nur aussprach, was man sagen wollte, um sogleich bereitwillig innezuhalten und zu hören, was der andere sagte. Alles aber, was man auch sprechen mochte, sagte sie es nun selbst, oder Workujeff, oder Stefan Arkadjewitsch, alles erhielt wie Lewin schien, dank ihrer Aufmerksamkeit und ihren Bemerkungen, ein eigenartiges Gewicht.

Das interessante Gespräch verfolgend, versenkte sich Lewin während der ganzen Zeit in ihren Anblick und in ihre Schönheit, ihren Geist, ihre Bildung, und zugleich in ihre Natürlichkeit und Innerlichkeit. Mochte er zuhören oder reden, fortwährend dachte er an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten.

Er, der sie früher so streng verurteilt hatte, er rechtfertigte sie jetzt nach einem seltsamen Gedankengang, bemitleidete sie zugleich, und fürchtete, daß Wronskiy sie nicht vollkommen verstehen möchte. In der elften Stunde, als Stefan Arkadjewitsch sich erhob, um vorzufahren – Workujeff war schon zeitiger aufgebrochen – schien es Lewin, als sei er soeben erst angekommen. Nur ungern stand er gleichfalls auf.

„Lebt wohl,“ sagte sie, seine Hand festhaltend und ihm mit anziehendem Blick ins Auge schauend; „ich freue mich recht sehr, que la glace est rompue.“ Sie ließ seine Hand los und blinzelte mit den Augen. „Teilt Eurer Gattin mit, daß ich sie noch so lieb habe wie früher, und daß ich, wenn sie mir meine Situation nicht vergeben kann, wünsche, sie möge mir niemals verzeihen. Um vergeben zu können, muß man durchleben, was ich durchlebt habe, und davor behüte sie der Himmel.“

„Ich werde es sicher ausrichten,“ sagte Lewin errötend.