Za darmo

Anna Karenina, 2. Band

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26

Im September war Lewin wegen der Niederkunft Kitys nach Moskau gefahren. Er hatte schon einen ganzen Monat müßig in Moskau verweilt, als Sergey Iwanowitsch, welcher ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß und großes Interesse für die Fragen der bevorstehenden Wahlen hegte, sich fertig machte, zu diesen zu fahren. Er nahm dazu auch den Bruder mit sich, der im Sjeleznewskischen Kreis ansässig war. Lewin hatte überdies in Kaschin ein sehr notwendiges Geschäft für seine Schwester, die im Ausland lebte, in Vormundschaftssachen und wegen der Empfangnahme von Geldern für einen Kauf zu erledigen.

Lewin war noch immer unentschlossen, aber Kity, welche gewahrte, daß er sich in Moskau langweile, hatte ihm angeraten, zu fahren und ihm obendrein noch hinter seinem Rücken eine Adelsuniform, welche achtzig Rubel kostete, bestellt. Diese achtzig Rubel, welche für die Uniform bezahlt worden waren, bildeten den Hauptgrund, der Lewin bewog, zu reisen, und so fuhr er nach Kaschin.

Er war bereits den sechsten Tag daselbst, besuchte täglich die Sobranje und befaßte sich mit der Angelegenheit seiner Schwester, die noch nicht in Ordnung war. Die Oberrichter waren sämtlich von den Wahlen in Anspruch genommen und man kam daher nicht bis zu einer so einfachen Angelegenheit, die von der Vormundschaft abhing. Die andere Angelegenheit, die Erhebung der Gelder, begegnete den gleichen Schwierigkeiten. Nach langen Mühen um die Beseitigung der Hindernisse lag das Geld endlich bereit zur Aushändigung, aber der Notar, ein sehr dienstfertiger Mann, konnte den Talon nicht herausgeben, weil die Unterschrift des Präsidenten dazu erforderlich war, dieser selbst aber sich in der Session befand. Alle diese Plagen, das Umherlaufen von Ort zu Ort, die Auseinandersetzungen mit den sehr guten freundlichen Leuten, welche alle die Unannehmlichkeit der Lage des Petenten vollkommen begriffen, diesem aber nicht helfen konnten, diese ganze Anstrengung die keine Resultate ergab, erzeugte in Lewin ein peinliches Gefühl, ähnlich jener ärgerlichen Ohnmacht, welche man im Schlafe empfindet, wenn man physische Kraft anwenden will. Er empfand dies oft, wenn er sich mit seinem sehr gutmütigen Pächter unterhielt. Dieser Pächter that, wie es schien, alles Mögliche, und strengte alle seine Kräfte an, um Lewin der Mühewaltung des Probierens zu entheben; nicht nur einmal hatte er gesagt, dieser solle da oder dorthin fahren, indem er einen ganzen Plan machte, wie er das Geschick umgehen könne, das alles hinderte. Gleichwohl aber hatte er hinzugefügt, „man wird sich freilich weiter sperren, doch probiert nur“. Und Lewin versuchte und ging und fuhr. Jedermann war gut und liebenswürdig, aber es zeigte sich, daß das bereits gangbar Gemachte am Ende wieder überwachsen war und von neuem den Weg verlegte. Besonders unangenehm war es, daß Lewin in keiner Weise erkennen konnte, mit wem er kämpfe, wer einen Vorteil davon habe, daß die Angelegenheit nicht zur Erledigung gelangte. Dies schien niemand zu wissen; auch der Pächter wußte es nicht. Hätte Lewin es erfahren können, wie er wußte, weshalb man zur Kasse auf der Eisenbahn nicht anders als in der Reihe Zutritt hat, so würde es ihm nicht beleidigend und ärgerlich erschienen sein, aber bei den Hindernissen, auf welche er in der Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand erklären, weshalb sie vorhanden wären.

Lewin hatte sich indessen seit der Zeit seiner Verheiratung vielfach geändert; er war duldsam geworden, und wenn er nicht gleich verstand, wozu Etwas in einer bestimmten Weise eingerichtet sei, sagte er zu sich selbst, daß er, wenn er nicht alles wisse, auch nicht urteilen könne; daß es wahrscheinlich so sein müsse, und bemühte sich alsdann, nicht in Aufregung zu geraten.

Jetzt, bei den Wahlen gegenwärtig und an ihnen teilnehmend, bestrebte er sich ebenfalls, nicht zu urteilen und zu hadern, sondern soviel als möglich die Sache zu ergründen, mit der sich ehrenhafte und wackere Männer, die er achtete, mit solchem Ernst und solcher Hingebung beschäftigten. Seit er geheiratet hatte, eröffneten sich Lewin so viele neue ernste Seiten, die ihm vordem, infolge einer oberflächlichen Stellungnahme dazu, zu unbedeutend erschienen waren, daß er auch in den Wahlen eine ernstere Bedeutung vermutete und suchte.

Sergey Iwanowitsch erklärte ihm den Sinn und die Bedeutung der bei diesen vorgeschlagenen Veränderungen. Der Gouvernementschef, in dessen Händen nach dem Gesetz soviel wichtige sociale Aufgaben lagen – wie das Vormundschaftswesen, das nämliche, an welchem Lewin jetzt laborierte, die ungeheuren Summen des Adelsvermögens, die Gymnasien, das für Mädchen, das für Knaben und ein Kadettenhaus, die Volksbildung nach den neuen Verhältnissen und endlich, das Semstwo – dieser Gouvernementschef Sjnetkoff war ein Herr von altem, adligen Schlag, der ein ungeheures Vermögen besaß, ein guter Mensch, ehrenhaft in seiner Weise war, aber nicht vollkommen die Anforderungen der Neuzeit erfaßte. Er hielt in allem stets die Partei des Adels, wirkte schnurstracks der Verbreitung der Volksbildung entgegen, und verlieh dem Semstwo, welches doch so außerordentlich große Bedeutung haben sollte, den Charakter einer Gesellschaft. Es war daher notwendig, an seinen Platz einen frischen, in der Zeit stehenden, vernünftigen und vollkommen neuen Mann einzustellen und die Sache so anzufassen, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als Adel, sondern als einem Element des Semstwo verliehen waren, die Vorteile der Selbstverwaltung gezogen würden, soviel ihrer zu ziehen waren. In dem reichen Gouvernement von Kaschin, welches in allem stets den anderen vorangegangen war, hatten sich jetzt so tüchtige Kräfte angesammelt, daß die Sache, wenn sie hier so geleitet wurde, wie es nötig war, als Muster für alle übrigen Gouvernements, ja für ganz Rußland, dienen konnte. Infolgedessen hatte sie denn eine hohe Bedeutung. Als Gouvernementschef an Stelle Sjnetkoffs hatte man entweder Swijashskiy oder noch besser Njewjedowskiy, einen früheren Professor und außerordentlich klugen Mann, den intimen Freund Sergey Iwanowitschs, in Vorschlag gebracht.

Die Sobranje eröffnete der Gouverneur selbst, der den Edelleuten eine Rede hielt, daß sie die Amtspersonen nicht nach dem Ansehen der Person, sondern nach ihren Verdiensten und zum Wohle des Vaterlandes wählen möchten, und daß er hoffe, der hohe Kaschinskische Adel werde, wie bei den früheren Wahlen, seine Pflicht pietätvoll erfüllen, und das hohe Vertrauen des Monarchen rechtfertigen.

Nachdem der Gouverneur diese Rede geendet hatte, verließ er den Saal, und die Adligen folgten ihm geräuschvoll und lebhaft, einige sogar voll Enthusiasmus, und umgaben ihn, während er sich den Pelz anlegte und mit dem Gouvernementsvorsteher freundschaftlich sprach. Lewin, welcher alles erfahren und nichts unbeachtet lassen wollte, stand mit im Haufen und hörte, wie der Gouverneur sagte: „teilt Marja Iwanowna gefälligst mit, mein Weib bedaure sehr, daß sie ins Kloster geht.“ Nach ihm suchten sich die Adligen heiter ihre Pelze und begaben sich sämtlich in den Gottesdienst.

In der Kathedrale schwor Lewin, zusammen mit den übrigen die Hand erhebend, und die Worte des Protopopen wiederholend, mit den ernstesten Eiden, alles zu erfüllen, was der Gouverneur von ihnen erhoffe.

Der Gottesdienst übte auf Lewin stets einen Einfluß, und als die Worte gesprochen wurden: „Ich küsse das Kreuz“ und er auf die Schar dieser jungen und alten Männer blickte, welche alle das Gleiche wiederholten, fühlte er sich bewegt.

Am zweiten und dritten Tag wurden die Angelegenheiten der Adelsgelder und des Mädchengymnasiums erörtert, die, wie Sergey Iwanowitsch erklärt hatte, keine Wichtigkeit besaßen, und Lewin, von seinen Geschäftsgängen in Anspruch genommen, verfolgte dieselben nicht.

Am vierten Tage erfolgte am Gouverneurstisch die Prüfung der Gouvernementsgelder, und hier gab es zum erstenmale einen Zusammenstoß der neuen Partei mit der alten. Die Kommission, welcher die Prüfung dieser Summe anvertraut war, legte der Sobranje dar, daß die Gelder sämtlich unversehrt seien. Der Gouvernementsvorsteher erhob sich, dankte dem Adel für sein Vertrauen und zerdrückte eine Thräne. Die Adligen begrüßten ihn laut und drückten ihm die Hand. Aber zur selben Zeit sagte ein Adliger aus der Partei Sergey Iwanowitschs, er habe gehört, daß die Kommission die Gelder gar nicht geprüft habe, indem sie die Revision als eine Kränkung des Gouverneurs betrachte. Eines der Kommissionsmitglieder bestätigte dies auch unvorsichtigerweise. Da begann ein ziemlich kleiner, sehr jung aussehender, aber sehr scharfzüngiger Herr zu sprechen, daß es dem Gouvernementsvorsteher wahrscheinlich angenehm sein würde, Rechenschaft über die Summen ablegen zu können, und daß nur das überflüssige Taktgefühl der Kommissionsmitglieder ihn dieser moralischen Genugthuung beraubt habe. Die Kommissionsmitglieder sagten sich hierauf von ihrer Erklärung los und Sergey Iwanowitsch begann ihnen logisch zu beweisen, daß sie entweder anerkennen müßten, die Gelder seien von ihnen für richtig befunden worden, oder nicht, und nahm dieses Dilemma gründlich durch. Sergey Iwanowitsch beantwortete hierauf ein Sprecher der gegnerischen Partei. Dann sprach Swijashskiy und darauf wieder der bissige Herr. Die Debatten zogen sich in die Länge und verliefen ohne Resultat. Lewin war erstaunt, daß man hierüber so lange streiten konnte, namentlich aber darüber, daß Sergey Iwanowitsch, als er ihn frug, ob er vermute, daß die Gelder verloren seien, antwortete:

„O nein! Er ist ein ehrenhafter Mann, aber jene alte Sitte der vaterländischen, familiären Verwaltung der Adelsgeschäfte mußte erschüttert werden.“

Am fünften Tage waren die Wahlen der Kreisvorsteher. Dieser Tag war ziemlich stürmisch bei mehreren Kreisen. Im Kreise Sjelesnewo wurde Swijashskiy einstimmig ohne Ballotage gewählt und bei ihm fand an diesem Tage ein Essen statt.

27

Am sechsten Tage waren die Gouvernementswahlen. Die großen und kleinen Säle waren gefüllt von den Adligen in ihren verschiedenen Uniformen. Viele kamen nur für diesen Tag. Bekannte, die sich lange nicht gesehen hatten, der eine aus der Krim, der andere aus Petersburg, ein dritter vom Auslande kommend, begegneten sich in den Sälen. Am Gouverneurstisch, unter dem Bild des Zaren, fanden die Wahlkämpfe statt.

 

Die Adligen, im großen, wie im kleinen Saale, gruppierten sich in Lager und an der Feindseligkeit und dem Mißtrauen der Blicke, an dem bei der Annäherung fremder Personen verstummenden Gespräch, daran, daß mehrere flüsternd selbst in den abgelegenen Korridor gingen, war ersichtlich, daß eine jede Partei Geheimnisse vor der anderen hatte.

Dem äußeren Anschein nach hatten sich die Adligen scharf in zwei Parteien geteilt, in die Alten und die Jungen. Die Alten waren größtenteils in adligen altertümlichen, zugeknöpften Uniformen, mit Degen und Hut, oder in ihren eigenen Kavallerie-, Infanterie- oder Amtsuniformen. Die Uniformen der Alten waren in altertümlicher Weise gestickt, mit Epaulettes auf den Schultern; sie erschienen klein, kurz in den Taillen und so knapp, als hätten ihre Träger sie verwachsen.

Die Jungen hingegen waren in Adelsuniformen mit niedrigen Taillen und breiten Schultern, mit weißen Westen, oder in Uniformen mit schwarzen Kragen und Lorbeer, der Stickerei des Justizministeriums. Zu den Jungen gehörten auch die Hofuniformen, die hier und da die Menge zierten.

Aber die Teilung in Junge und Alte fiel nicht mit der Teilung in die Parteien zusammen; einige der Jungen gehörten nach den Beobachtungen Lewins zur Partei der Alten, und im Gegensatz hierzu zischelten einige sehr alte Edelleute mit Swijashskiy, und waren augenscheinlich eifrige Anhänger der neuen Richtung.

Lewin stand in dem kleinen Saale, in welchem man rauchte und aß, neben einer Gruppe der Seinen, und lauschte auf das, was man sprach, indem er seine Geisteskräfte geflissentlich anstrengte um zu verstehen, was gesprochen wurde. Sergey Iwanowitsch bildete den Mittelpunkt, um welchen sich die Übrigen gesellten. Er hörte jetzt Swijashskiy und Chljustoff an, den Vorsteher eines anderen Kreises, der zu ihrer Partei gehörte.

Chljustoff stimmte mit seinem Kreis nicht dafür, Sjnetkoff um Ballotage zu bitten, und Swijashskiy überredete ihn nun, es doch zu thun, während Sergey Iwanowitsch diesen Plan guthieß. Lewin begriff nicht, weshalb man die gegnerische Partei um Ballotage gerade bezüglich desjenigen Vorstehers bitten wollte, den man ausballotieren wollte.

Stefan Arkadjewitsch, der soeben gegessen und getrunken hatte, trat, sich den Mund mit dem duftenden, eingefaßten Battisttaschentuch wischend, in seiner Kammerherrenuniform zu ihnen.

„Wir nehmen die Position,“ sagte er, sich die Hälften seines Backenbartes streichend, „Sergey Iwanowitsch!“ Und aufmerksam dem Gespräch Gehör schenkend, unterstützte er die Meinung Swijashskiys. „Es ist genug mit einem Kreis, aber Swijashskiy ist augenscheinlich schon Opposition,“ sagte er, mit Worten, die allen, nur nicht Lewin, verständlich waren. „Wie, Konstantin; es scheint, auch du kommst hinter den Geschmack?“ fügte er hinzu, sich an Lewin wendend und faßte diesen unter dem Arme. Lewin wäre recht froh gewesen, hinter den Geschmack gekommen zu sein, aber er konnte nicht verstehen, worum es sich handle, und drückte, einige Schritte von den Redenden wegtretend, Stefan Arkadjewitsch seine Unkenntnis darin aus, weshalb man den Gouvernementsvorsteher bitten wollte.

O sancta simplicitas,“ sagte Stefan Arkadjewitsch und erklärte Lewin kurz und klar, um was es sich handle.

„Wenn alle Kreise, wie in den früheren Wahlen, den Gouvernementsvorsteher bitten würden, so wählte man ihn mit allen weißen Kugeln. Jetzt ist man in acht Kreisen einverstanden, ihn darum zu ersuchen; wenn nun zwei es verweigern, mit darum anzuhalten, so kann Sjnetkoff die Ballotage verweigern, und dann wird die Partei der Alten einen anderen von den Ihrigen wählen, sodaß unser ganzer Plan verloren ist. Wenn aber nur der eine Kreis Swijashskiys nicht mit bittet, so wird Sjnetkoff ballotieren. Man wird ihn dann selbst wählen und ihm absichtlich das Amt wieder übertragen, sodaß sich die gegnerische Partei verrechnet, und wenn sie einen Kandidaten von den Unseren aufstellen, diesem das Amt überträgt.“

Lewin verstand, aber nicht vollständig, und wollte soeben noch einige Fragen stellen, als plötzlich alle durcheinander zu sprechen begannen, lärmten und sich nach dem großen Saale in Bewegung setzten.

„Was ist das? Wie? Wen wird man wählen? Vertrauen? Zu wem? Was ist? Verwirft man? Es giebt kein Vertrauen! Man läßt Phleroff nicht zu. Was; unter Anklage! So läßt man niemand zu! Das ist niedrig! Das Gesetz!“ hörte Lewin von verschiedenen Seiten rufen, und begab sich zusammen mit der Menge, die sich drängte, und zu fürchten schien, daß sie etwas versäumte, in den großen Saal. Er näherte sich in dem Gedränge der Adligen dem Gouverneurstisch, an welchem der Gouvernementsvorsteher, Swijashskiy und andere Wortführer eifrig miteinander debattierten.

28

Lewin stand ziemlich entfernt. Ein schwer und heiser atmend neben ihm stehender Adliger und ein zweiter mit knarrenden, dicken Stiefelsohlen, störten ihn, deutlich zu hören. Aus der Ferne vernahm er nur die weiche Stimme des Gouvernementsvorstehers, darauf das pfeifende Organ des scharfzüngigen Adligen und dann die Stimme Swijashskiys. Sie stritten, soviel er zu verstehen imstande war, über die Bedeutung eines Paragraphen des Gesetzes und den Sinn der Worte, „wer sich unter gerichtlicher Untersuchung befindet“.

Der Haufe teilte sich, um dem zum Tisch herantretenden Sergey Iwanowitsch Raum zu geben. Sergey Iwanowitsch sagte, nachdem er die Beendigung der Rede des scharfzüngigen Adligen abgewartet hatte, ihm scheine, daß es am richtigsten sei, sich nach dem Paragraphen des Gesetzes zu richten und bat den Sekretär, den Paragraphen aufzusuchen. In demselben war gesagt, daß man im Falle der Meinungsverschiedenheit zu ballotieren habe.

Sergey Iwanowitsch verlas den Paragraphen, und begann den Sinn desselben zu erörtern, aber da unterbrach ihn ein großer, dicker und krummer Gutsherr mit roten Ohren, in enger Uniform mit im Nacken hinten hochstehendem Kragen. Er trat an den Tisch und rief laut, mit einem Finger darauf schlagend:

„Ballotieren! Zu den Kugeln greifen! Weg da mit dem Geschwätz! Zu den Kugeln!“

Mehrere Stimmen erhoben sich jetzt plötzlich zusammen, und der große Adlige mit seinem Finger, mehr und mehr in Zorn geratend, schrie lauter und lauter. Es ließ sich jedoch nicht unterscheiden, was er sagte. Er sagte das Nämliche, was Sergey Iwanowitsch vorschlug, aber offenbar haßte er diesen und dessen ganze Partei, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun der ganzen Partei mit und rief den Widerstand einer gleichen, wenn auch gemäßigteren Erbitterung auf der anderen Seite hervor. Rufe erschallten und eine Minute lang wogte alles durcheinander, sodaß der Gouvernementsvorsteher genötigt war, um Ordnung zu bitten.

„Ballotieren! Ballotieren! Wer ein Edelmann ist, der sieht das ein! Wir vergießen unser Blut! Das Vertrauen des Monarchen! Nicht den Gouvernementsvorsteher achten; er ist kein Amtmann! Darum handelt es sich nicht! Bitte, zu den Kugeln! Es ist eine Schande!“ vernahm man zornige, sinnlose Schreie von allen Seiten.

Die Blicke und Gesichter wurden immer zorniger und die Reden immer ungebärdiger. Sie drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Lewin begriff nicht im geringsten, worum es sich handle, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit welcher die Frage, ob man über Phleroff ballotieren solle oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm später Sergey Iwanowitsch erklärte, jenen Syllogismus vergessen, daß im Interesse des allgemeinen Wohls der Gouvernementsvorsteher entfernt werden müsse; zu der Entfernung desselben aber war eine Majorität der Kugeln erforderlich; zur Erlangung dieser Majorität weiterhin mußte man Phleroff Stimmrecht erteilen, und zur Anerkennung Phleroffs als eines Stimmberechtigten mußte man erklären, wie der Paragraph des Gesetzes aufzufassen sei.

„Also eine Stimme kann die ganze Angelegenheit entscheiden, und man muß daher ernst und konsequent sein, wenn man der gemeinsamen Sache dienen will,“ schloß Sergey Iwanowitsch.

Lewin hatte dies jedoch vergessen, und es wurde ihm schwer ums Herz, diese von ihm geachteten braven Männer in einer so unangenehmen schlimmen Erregung sehen zu müssen.

Um sich von diesem beklemmenden Gefühl frei zu machen, ging er, ohne das Ende des Streites abzuwarten, in den Saal, in welchem sich niemand befand, als einige Lakaien beim Buffet. Als er die mit dem Abwischen von Geschirr, dann Aufstellen von Tellern und Gläsern beschäftigten Diener, ihre ruhigen, aber lebhaften Gesichter sah, empfand Lewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als sei er aus einem Zimmer voll widrigen Geruchs in die reine Luft hinausgetreten. Er begann auf und abzuschreiten, mit Befriedigung auf die Diener blickend. Es gefiel ihm sehr, als einer derselben, ein Mann mit grauem Backenbart, den jüngeren, die diesen zum besten hatten, voll Geringschätzung lehrte, wie man Servietten falten müsse. Lewin hatte sich gerade mit dem alten Diener in ein Gespräch eingelassen, als der Sekretär der Adelsvormundschaft, ein alter Herr, der die spezielle Eigenschaft besaß, alle Adligen des Gouvernements dem Namen und der Herkunft nach zu kennen, ihn davon abzog.

„Bitte gefälligst, Konstantin Dmitritsch,“ sagte er zu ihm, „Euer Bruder sucht Euch. Es wird ballotiert.“

Lewin trat in den Saal, erhielt eine weiße Kugel und begab sich hinter seinem Bruder Sergey Iwanowitsch zum Tische, an welchem mit wichtiger, ironischer Miene Swijashskiy stand, der seinen Bart in die volle Hand genommen hatte und daran roch.

Sergey Iwanowitsch steckte die Hand in den Kasten, legte seine Kugel hinein und blieb, Lewin Platz machend, am Orte stehen. Lewin trat heran, wandte sich aber, da er vollständig vergessen hatte, um was es sich handle und in Verlegenheit geraten war, an Sergey Iwanowitsch mit der Frage, wohin er die Kugel legen solle? Er frug leise, während man in seiner Nähe sprach, sodaß er hoffen konnte, es habe niemand seine Frage vernommen. Aber die Sprechenden verstummten und seine unziemliche Frage wurde gehört. Sergey Iwanowitsch runzelte die Stirn.

„Das ist Sache der Überzeugung für einen jeden,“ sagte er gemessen. Einige lächelten. Lewin errötete, streckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel nach rechts, da sie sich gerade in seiner rechten Hand befand. Nachdem er dies gethan hatte, besann er sich, daß er auch die linke Hand hineinstecken müsse und steckte sie hinein, doch schon zu spät, und zog sich dann, noch mehr in Verlegenheit geraten, schnell in die hintersten Reihen zurück.

„Einhundertsechsundzwanzig dafür! Achtundneunzig dagegen!“ klang die Stimme des Sekretärs, welcher den Buchstaben r nicht aussprechen konnte. Gelächter erschallte: ein Knopf und zwei Nüsse waren in dem Kasten gefunden worden. Der Adlige war zugelassen und die Jungpartei hatte gesiegt. Aber die Partei der Alten hielt sich noch nicht für besiegt. Lewin vernahm, daß man Sjnetkoff bat, zu ballotieren, und gewahrte, daß ein Trupp der Edelleute den Gouvernementsvorsteher umringte, welcher sprach. Lewin trat näher. Sjnetkoff sprach, indem er den Edelleuten antwortete, vom Vertrauen des Adels, von dessen Liebe zu ihm, deren er nicht würdig sei, da sein ganzes Verdienst nur in seiner Ergebenheit für den Adel bestehe, dem er zwölf Jahre des Dienstes geweiht hätte. Mehrmals wiederholte er die Worte „ich habe gedient, soviel es meine Kräfte gestatteten, im Glauben und in der Wahrheit; ich schätze euch hoch und danke euch!“ und plötzlich hielt er, von Rührung überwältigt, inne und verließ den Saal.

Mochten nun diese Thränen von dem Gefühl einer Ungerechtigkeit gegen ihn, von der Liebe zum Adel, oder von der Gespanntheit der Situation herrühren, in welcher er sich befand, indem er sich von Gegnern umgeben fühlte – genug, die Erregung teilte sich weiter mit, die Majorität des Adels war gerührt und auch Lewin empfand ein Gefühl von Zärtlichkeit für Sjnetkoff.

In der Thür stieß der Gouvernementsvorsteher mit Lewin zusammen.

„Entschuldigt, bitte, entschuldigt,“ sagte er wie zu einem Unbekannten, lächelte aber, als er Lewin erkannt, und diesem schien es, als ob er etwas hätte sagen wollen, aber vor Erregung nicht sprechen könne.

Der Ausdruck seines Gesichts und seiner ganzen Gestalt in der Uniform, mit den Ordenskreuzen und den weißen galonnierten Beinkleidern, erinnerte Lewin, als er so hastig dahinschritt, an ein gemästetes Schlachtvieh, welches sieht, daß es mit seiner Sache übel bestellt ist.

 

Der Gesichtsausdruck des Mannes hatte etwas eigentümlich Rührendes für Lewin, welcher erst am Tage vorher in Vormundschaftsangelegenheiten in seinem Hause gewesen war und ihn in der ganzen Größe eines guten und geselligen Menschen kennen gelernt hatte. Das große Haus mit den altertümlichen Familienmeubles; keine geschniegelten oder unsauberen, sondern ehrerbietige alte Diener, offenbar noch aus der Zeit der ehemaligen Leibeigenschaft stammend, die ihren Herrn nicht geändert hatten; eine wohlbeleibte, gutmütige Hausfrau im Häubchen mit Spitzen und einem türkischen Spitzenshawl, welche ihr liebes Enkelchen, die Tochter ihrer Tochter liebkoste; ein jugendlicher Sohn, Gymnasiast der sechsten Klasse, welcher von der Schule gekommen war und den Vater begrüßte, indem er ihm die große Hand küßte; die ermahnenden, freundlichen Reden und Gebärden des Hausherrn; alles dies hatte in Lewin gestern unwillkürlich Hochachtung und Sympathie erweckt. Jetzt erschien ihm dieser alte Herr rührend und beklagenswert und er wünschte, ihm einige angenehme Worte zu sagen.

„Ihr werdet vielleicht wieder unser Vorsteher werden,“ sprach er.

„Kaum,“ versetzte jener, erschreckt aufblickend, „ich bin abgespannt, schon alt; es giebt würdigere und jüngere als ich, mögen die nun dienen,“ und der Vorsteher verschwand durch eine Seitenthür.

Es trat nun der feierlichste Augenblick ein; man mußte zur Wahl schreiten. Die Wortführer der einen und der anderen Partei zählten an den Fingern die weißen und die schwarzen Kugeln nach.

Die Debatten wegen Phleroff hatten der Jungpartei nicht nur die eine Kugel Phleroffs mehr verschafft, sondern auch einen Gewinn an Zeit herbeigeführt, sodaß noch drei Adlige herbeigeholt werden konnten, welchen es durch Intriguen der Alten unmöglich gemacht worden war, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei der Adligen, die eine Schwäche für den Wein besaßen, hatte man durch Kumpane Sjnetkoffs trunken gemacht, dem dritten die Uniform entwendet.

Als die Jungpartei dies erfahren hatte, sandte sie sogleich, während der Debatten über Phleroff, in einer Mietkutsche Freunde fort, um den Einen uniformieren zu lassen, und Einen der beiden Berauschten zur Sobranje zu bringen.

„Den Einen habe ich gebracht, ich habe ihn mit Wasser begossen,“ sagte der nach ihm gesandte Gutsherr, zu Swijashskiy tretend, „doch es ist nicht gefährlich, er taugt schon noch dazu.“

„Ist also nicht zu sehr berauscht, daß er nicht etwa umfällt?“ sagte Swijashskiy kopfschüttelnd.

„Nein; er ist ganz munter; doch hatten sie ihn bald völlig niedergetrunken. Ich habe dem Buffetier gesagt, er soll ihm auf keinen Fall Wein geben.“