Die germanische Blutsbrüderschaft

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Spricht man allerdings von einem völkerkundlichen „Typus der Blutsbrüderschaft“ (etwa synonym mit „der Elementargedanke Blutsbrüderschaft“), dann gäbe es in diesem Sinne natürlich überhaupt keine „atypischen“ Elemente: denn alle Elemente, die als Teile der Blutsbrüderschaft auftreten können, wären in diesem Fall typisch. Eine immer vollständigere Sammlung des Materials würde vermutlich in allen Fällen, wo das Problem der Typik zur Entscheidung steht, immer deutlicher klären können, welche Elemente zu den typischen und welche zu den nur zufällig auftretenden in einer solchen um ihre Typik zu befragenden „Gruppe“ von Phänomenen zu rechnen sei.

Entscheidend ist der Standpunkt, den man einnimmt. Vergleicht man die konstituierenden Elemente der Institution in verschiedenen Kulturen nach typologischen Gesichtspunkten, dann werden sich typische (d. h. mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander unabhängigen Völkern gemeinsame) Merkmale erkennen lassen. Sehr seltene bzw. vollständig isolierte Elemente sind von einem solchen übergeordneten, global vergleichenden Blickpunkt aus als nicht typisch (als „atypisch“) anzusprechen. Verändert man nun seinen Standpunkt und betrachtet die zu untersuchende Institution aus dem Blickwinkel desjenigen Volkes, dessen Blutsbrüderschaft in einem oder in mehreren konstituierenden Elementen atypisch ist, dann freilich ist eben dieses Abweichen von der allgemeinen Norm gerade für dieses bestimmte Volk wiederum typisch und signifikativ. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß man nur durch einen Wechsel der Blickrichtung zu einer solchen – eben nur scheinbaren – Doppeldeutigkeit gelangt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenartigen Blickrichtungen verschwindet dieser scheinbare Widerspruch.

Doch darf man eines nicht außer acht lassen: die Erkenntnis der jeweils für ein bestimmtes Volk oder einen bestimmten Stamm typischen Elemente ist durch die Erkenntnis der (global vergleichend gesehen) atypischen Elemente bedingt. Nur dann, wenn ich erkannt habe, was allgemein betrachtet typisch oder atypisch ist, kann ich zur Konstatierung des jeweils Besonderen, für eine bestimmte Kultur Typischen vordringen. Ohne den ersten Schritt der Feststellung von typischen bzw. nicht typischen Merkmalen ist auch der zweite, die Erkenntnis des für eine bestimmte Kultur Typischen, nicht möglich.

Die Ausgangsbasis für diesen vergleichenden Teil der Arbeit bilden völkerkundliche Beschreibungen. Zweifellos besitzen dieselben recht unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert; manche von ihnen stammen von Forschern oder Missionaren, die Jahre oder sogar Jahrzehnte bei ein und demselben Volk gelebt haben, andere wiederum geben nur den oberflächlichen Eindruck wieder, den europäische Reisende, die sich zufälligerweise einmal gezwungen sahen, mit einem Eingeborenenhäuptling Blutsbrüderschaft zu schließen, von dieser Einrichtung gewonnen hatten.

Besonders wichtig jedoch ist es, sich den Umstand vor Augen zu halten, daß alle unsere Berichte von Außenstehenden stammen, wenn auch zum Teil von Außenstehenden, denen die Mittel der modernen Forschung zu Gebote standen. Trotzdem (um nicht zu sagen: gerade deshalb) wird ihren Augen so manches, was sich nicht nach außen hin kundtut, verborgen geblieben sein. Dazu kommt außerdem noch die Tatsache, daß dann, wenn einer der Beteiligten ein Europäer war, bisweilen ein vereinfachtes Ritual verwendet wurde.19 Sicherlich wissen wir dank der ethnologischen Forschung über die Blutsbrüderschaften der sogenannten „primitiven“ Völker besser Bescheid als über dieselben bei längst erloschenen Kulturen wie etwa der heidnisch-nordgermanischen, wo wir ausschließlich auf Rekonstruktionen angewiesen sind. Es darf jedoch keinesfalls übersehen werden, daß auch die völkerkundlichen Untersuchungen unserer Zeit keineswegs frei von Deutungen und Wertungen sind!


II.
BELEGSITUATION

Um eine gesicherte und leicht nachprüfbare Basis für alle weiteren Ausführungen zu schaffen, werden im folgenden diejenigen Stellen, aus denen sich Angaben über die Institution der nordgermanischen Blutsbrüderschaft entnehmen lassen, im originalen Wortlaut wiedergegeben.

Daran anschließend sollen die wesentlichen Elemente der einzelnen Belegstellen in Form von Tabellen zusammengestellt werden. Dies scheint insbesondere deshalb angebracht, weil sich manche der Abschnitte, die sich auf die Blutsbrüderschaft beziehen, naturgemäß ziemlich ähnlich sind, die wirklich gesicherten Elemente aber doch von Fall zu Fall variieren. Allerdings werden die Tabellen nur diejenigen Merkmale erfassen können, die an den betreffenden Stellen expressis verbis erwähnt werden und sie werden dementsprechend auch lediglich eine praktische Hilfe zu einer synoptischen Betrachtung der konstituierenden Elemente sein.

Weiters soll eine Situierung der einzelnen Belege den Stellenwert der Episode im Rahmen des Erzählgeschehens, dem sie entnommen ist, in Erinnerung rufen.

Zuerst sollen nur diejenigen Stellen angeführt werden, in denen tatsächlich von einer Vermischung des Blutes zwischen den sich Verbrüdernden gesprochen wird oder in denen zumindest auf eine solche angespielt ist. Wie aber bereits in der Einleitung angedeutet wurde20, ist es praktisch unmöglich, diejenigen Stellen, die tatsächlich von einer Blutmischung sprechen, von solchen, die offenbar dieselbe Institution meinen, ohne aber eindeutige Hinweise auf das Ritual zu geben, abzugrenzen. Es wäre gewiß verfehlt, diejenigen Stellen, in denen die Blutmischung expressis verbis erwähnt wird, von solchen, welche die Annahme zulassen, daß es sich um dieselbe Institution gehandelt haben muß, zu trennen. Wie verfehlt eine solche Trennung wäre, zeigt sich unter anderem darin, daß der Terminus „fóstbrœðralag“ weit über die Grenzen der durch Blutmischung geschlossenen Brüderschaft hinausgeht21: diejenigen Stellen, welche die Institution nicht nur umschreiben, sondern sie auch beim Namen nennen, verwenden durchwegs den Ausdruck „fóstbrœðralag“22. Andererseits konnte ein fóstbrœðralag z. B. nach Ausweis der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana (Kap. IV)23 durch gegenseitigen Handschlag geschlossen werden: in einem solchen Fall ist wohl kaum an eine Blutmischung zu denken.

Es sollen daher im weiteren auch diejenigen Stellen mit in die Arbeit einbezogen werden, die den Schluß zulassen, daß den erwähnten Handlungen oder Konsequenzen ebenfalls die Institution des fóstbrœðralag zugrunde gelegen sein muß. Dies kann jedoch im Rahmen der gegenwärtigen Arbeit nur dann sinnvoll sein, wenn aus ihnen mehr zu entnehmen ist als bloß die Erwähnung der Tatsache, daß zwei oder mehr Personen eine „Brüderschaft“ geschlossen hätten, d. h., wenn sich in ihnen Angaben über das Verbrüderungsritual bzw. etwaige Konsequenzen finden. Bloße Erwähnungen der Institution, aus denen sich nichts weiter als ein Hinweis auf ihre Existenz entnehmen läßt, sind zwar insoferne aufschlußreich, als sie beim Leser oder Zuhörer die Bekanntschaft mit einer institutionalisierten Verbrüderungsart offenbar voraussetzen, indem sie nichts erklären oder veranschaulichen, sie sind aber für die gegenwärtige Arbeit, die sowohl eine deskriptive Darstellung als auch eine Deutung der nordgermanischen Blutsbrüderschaft anstrebt, völlig unergiebig und werden dementsprechend auch nicht als Belege gewertet.

A) DIE GERMANISCHEN BELEGE FÜR BLUTSBRÜDERSCHAFT

1. Lokasenna, Strophe 9

In der neunten Strophe der Lokasenna findet sich eine deutliche Anspielung auf die Einrichtung der Blutsbrüderschaft.

Loki betritt den Saal der Götter. Alle verstummen bei seinem Erscheinen. Bragi macht Loki darauf aufmerksam, daß er von niemandem zum Gelage der Götter geladen worden sei. Daraufhin wendet sich Loki an Odin und fordert ihn auf, sich zu besinnen, daß er mit ihm in der Urzeit sein Blut vermischt habe:

Mantu Þat, Óðinn, er við í árdaga

blendom blóði saman;

ölvi bergia léztu eigi mundo,

nema ocr væri báðom borit.24

Diese Aufforderung hat zur Folge, daß Odin seinem Sohn Widar befiehlt, Loki Bier einzuschenken. Loki beginnt sogleich mit seinen Zankreden.

Sehr viel ist dieser Stelle nicht zu entnehmen: wir erfahren nur, daß Odin und Loki die Beteiligten waren, daß die beiden ihr Blut vermischt haben (við… blendom blóði saman), daß das erwähnte Bündnis „in alten Tagen“ (í árdaga) geschlossen worden war, und daß, wohl einer dem und inhärenten Konsequenz zufolge, der eine fortan dem anderen die Tischgemeinschaft nicht versagen dürfe.

Die Umstände, unter denen die Verbindung zustande gekommen war, bleiben genauso im Dunkeln wie die Absicht und Zielsetzung, die dem Bund innewohnten. Auch darüber, wie die Blutsbrüderschaft geschlossen worden war, erfahren wir nichts; die Frage, mit welchem Ritual in diesem Fall zu rechnen sei, ist nicht zu beantworten.

2. Brot af Sigurðarkviðu

Bedeutsamer und auch um vieles aufschlußreicher ist der Hinweis auf die Blutsbrüderschaft, die Sigurd mit Gunnar (und Högni) nach seiner Ankunft am Hofe der Gjukungen geschlossen hatte: davon berichtet das Alte Sigurdlied. Die entsprechenden Stellen der Völsunga saga und der Snorra Edda bestätigen die Erzählung des Alten Sigurdliedes.

Brünhild hat Gunnar dazu gebracht, Sigurd zu töten. Auf dem Heimweg verkündet ein Rabe den Mördern: „’Ycr mun Atli eggiar rioðá, muno vígscá of viða eiðar’“ – „an euch wird Atli Eisen röten, der Meineid wird die Mörder fällen.“25 Der Bruch der Blutsbrüderschaft, der Mord am Blutsbruder, ist in der nordischen Nibelungendichtung zum zentralen Motiv geworden, das den tragischen Untergang der Burgunden auslöst und bedingt.

 

Das Eddalied erzählt dann weiter (Str. 14 ff.), wie Brünhild früh am Morgen erwacht und den Männern weinend ihren schrecklichen Traum verkündet, in dem sie den Untergang der Nibelungen vorausgesehen hat: der Meineid, d. h. die Ermordung des Blutsbruders, ist Ausgangspunkt der Katastrophe. Anklagend wendet sich Brünhild nach geschehener Tat an Gunnar (Str. 16-18):

Hugða ec mér, Gunnar, grimt í svefni,

svalt alt í sal, ættac sæing kalda;

enn Þu, gramr, riðir glaums andvani,

fiötri fatlaðr í fíanda lið.

Svá mun öll yðor ætt Niflunga

afli gengin: eroð eiðrofa.

Mantattu, Gunnar, til gorva Þat,

er Þit blóði i spor baðir rendot;

nú hefir Þu hánom Þat alt illo launat,

er hann fremstan sic finna vildi.

Þá reyndi Þat, ęr riðit hafði

móðigr á vit mín at biðia,

hvé herglötuðr hafði fyrri

eiðom haldit við inn unga gram.26

Über die Umstände und das Ziel der Verbrüderung erfahren wir aus dieser Stelle nichts: es geht aus ihr nur hervor, daß die Blutmischung mit Eiden verbunden war. Die Völsunga saga und die Snorra Edda sind in dieser Hinsicht ausführlicher. Im Gegensatz zur Lokasenna wird hier jedoch eine überaus bedeutsame Einzelheit erwähnt: die Helden haben nämlich zum Zweck der Verbrüderung ihr Blut in die Spur träufeln lassen („Þit blóði i spor baðir rendot“).

Direkte Folgen des Verhältnisses, das hier genauso wie in der Lokasenna nur umschrieben und nicht mit einem bestimmten Begriff bezeichnet wird, werden keine genannt; der Bruch der Blutsbrüderschaft erscheint jedoch als eine zutiefst verwerfliche Handlung, woraus sich die Unverletzlichkeit und Heiligkeit erahnen lassen, die der Blutsbrüderschaft normalerweise eigen waren.

2 a) Völsunga saga

Während im fragmentarischen Alten Sigurdlied nur rückblickend auf die Blutsbrüderschaft angespielt wird, der Bericht von ihrem Abschluß jedoch dem verlorengegangenen Teil des Liedes angehört hat, macht die Völsunga saga auch eine Situierung des Zeitpunktes und der näheren Umstände dieses Ereignisses möglich:

Gunnar versucht, Sigurd mit allen nur möglichen Mitteln an seinem Königshof zu halten.

Gunnar sagte: ‚Alles wollen wir dazu tun, daß du lange hier bleibst; beides, unser Reich und unsere Schwester bieten wir dir an; kein andrer würde sie bekommen, wenn er auch um sie bäte.‘

Sigurd antwortete: ‚Habt Dank für eure Auszeichnung! Ich will es annehmen.‘27

Nun schwören sie einander Blutsbrüderschaft:

Þeir sveriazt nu i brędralagh, sem Þeir se sambornir brędr.28

Im Zusammenhang mit dem geplanten Verrat an Sigurd wird mehrmals auf das zwischen ihm und Gunnar bestehende Bruderschaftsverhältnis angespielt. Als Brünhild ihren Gemahl auffordert, Sigurd zu töten, ist Gunnar zutiefst bekümmert:

Gunnar vard nu miok hugsiukr ok Þottiz eigi vita,

hvat hellzt la til, allz hann var i eidum vid Sigurd…29

Darauf wendet sich Gunnar an Högni um Rat. Dieser tritt ganz entschieden gegen einen Bruch der Blutsbrüderschaft ein:

Ecki samir ockr sęrinn at riufa med ufridi.30

So verfällt Gunnar auf den Gedanken, Gutthorm, der an der Blutmischung nicht teilgenommen hatte und der demzufolge trotz seiner nahen Verwandtschaft für nicht gebunden gilt, zum Mord an Sigurd anzustiften:

Eggium til Gutthorm rodur ockarnn. Hann er ungr ok fas vitande ok fyrir utan alla eida.31

Nach der Schilderung des Bettmordes folgt wiederum Brünhilds Traum, dem Inhalt nach mit der Strophe 17 des Alten Sigurdliedes identisch. Brünhild schildert Gunnar, was sie im Traum vorausgesehen hat:

Þat dreymde mic, Gunnar, at ek atta kalda sęng, enn Þu ridr i hendr uvinum Þinum ok aull ętt ydr man illa fara, er Þer erut eidrofa, ok mundir Þu at uglaukt er Þit blaundudut blode saman Sigurdr ok Þu, er Þu rett hann, ok hefir Þu honum allt illu launad Þat, …32

Erst an dieser Stelle wird unmißverständlich gesagt, auf welche Weise das „broeðralag“, von dessen Eingehung in Kap. 28 berichtet worden war, geschlossen wurde: durch das Vermischen des Blutes der Beteiligten (Þit blaundudut blode saman). Dies ist übrigens ganz genau dieselbe umschreibende Wendung wie in der Lokasenna (við… blendom blóði saman). Jan DE VRIES hat darauf hingewiesen33, daß Loki den Satz, mit dem er Odin an ihren Blutbund erinnert, mit den Worten „Mantu Þat, Óðinn…“ beginnt, Brünhild im Alten Sigurdlied Gunnar mit den gleichen Worten („Mantattu, Gunnar…“) auf sein Blutsbruderverhältnis mit Sigurd verweist, und daraus den Schluß auf einen literarischen Zusammenhang der beiden Stellen gezogen. Vielleicht war im verlorenen Teil des Alten Sigurdliedes die Blutsbrüderschaftsschließung ebenfalls mit dem Ausdruck „Blut zusammenmischen“ umschrieben worden und hatte der Dichter der Lokasenna diese Worte ebenso wie die erwähnte Anredeformel aus dem – ihm noch zur Gänze bekannten – Alten Sigurdlied übernommen.

Daß die Beteiligten ihr Blut in der Fußspur vermischten, wird von der Völsunga saga im Gegensatz zum Alten Sigurdlied nicht erwähnt. Auch sonst finden sich in ihr keine Angaben über das Ritual: „Blut zusammenmischen“ steht hier für die gesamte Institution mit allem, was sie umfaßte – und offenbar genügte dies den Zuhörern. Die Einrichtung der Blutsbrüderschaft war ihnen also nichts Fremdes, über das der Dichter sie erst hätte belehren müssen.

Die Völsunga saga ist andererseits aber auch wieder ausführlicher als das Alte Sigurdlied, indem sie besonders hervorhebt, welcher Art das Verhältnis zwischen den Blutsbrüdern war, nämlich so, „als wenn sie von der selben Mutter geboren wären“ („sem Þeir se sambornir brędr“).

Besonders ist zu bemerken, daß hier häufig das Wort „eiÞr“ im Zusammenhang mit der Blutsbrüderschaft verwendet wird: Gunnar ist mit Sigurd durch Eide verbunden, („hann var i eidum vid Sigurd“), Gutthorm dagegen steht außerhalb aller Eide („fyrir utan alla eida“) und dann heißt es, daß Gunnar und Högni durch ihr Verbrechen an Sigurd eidbrüchig geworden sind („Þer erut eidrofa“)34.

2 b) Snorra Edda

Außer im Alten Sigurdlied und der Völsunga saga wird das Blutsbrüderverhältnis Sigurds mit Gunnar und Högni auch noch in der Jüngeren Edda erwähnt, und zwar im Skáldskaparmál, Kap. 39 und 41 f. Die beiden Stellen der Snorra Edda, die sich darauf beziehen, bringen allerdings keine ergänzenden Angaben über das Ritual und die Natur des Bundes; aus ihnen ist viel weniger zu entnehmen als aus dem Alten Sigurdlied und der Völsunga saga. Die Angaben der Snorra Edda können nur als Bestätigung des dort Gesagten angesehen werden.

Nachdem Sigurd lange Zeit am Hofe der Burgunden verbracht hat, schwört er mit Gunnar und Högni Brudereide:

Sigurðr reið Þadan ok kom til Þess konungs, er Gjúki hét:

konar hans er nefnd Grímhildr; brn Þeira varu Þau

Gunnarr, Hgni, Guðrún, Guðny; Gutthorm var stjúpson Gjúka.

Þar dvalðisk Sigurðr langa hrið; Þá fekk hann Gurúnar Gjúkadóttur,

en Gunnar ok Hgni sórusk í brœðralag við Sigurð.35

Im Zusammenhang mit der Ermordung Sigurds wird das zwischen ihm und seinen Schwägern bestehende Bruderschaftsverhältnis noch einmal erwähnt, und zwar als direkter Grund dafür, daß Gutthorm die Tat ausführt:

Eptir Þat eggjaði hon Gunnar ok Hgna at drepa Sigurð,

en fyrir Því at Þeir váru eiðsvarar Sigurðar, Þá eggjuðu

Þeir til Gotthorm, bróður sinn, at drepa Sigurð; hann

lagði Sigurð sverði í gógnum sofanda, en er hann fekk sárit,

Þá kastaði hann sverðinu Gram eptir honum, svá at sundr

sneið í miðju mannin; Þar fell Sigurðr ok sonr hans

Þrévetr, er Sigmundr hét, er Þeir drápu.36

Genau mit dem gleichen Ausdruck wie in der Völsunga saga wird auch in der Jüngeren Edda gesagt, daß Gunnar und Högni mit Sigurd „Brüderschaft geschworen“ hätten („Þeir sveriazt nu i brędralag“, bzw. „… sórusk í brœðralag“). Das ist aber auch alles, was wir aus der Jüngeren Edda über dieses Verhältnis erfahren, denn es wird weder erwähnt, daß die Verbrüderung durch eine Blutmischung erfolgte, noch, daß das Blut in der Fußspur vermischt wurde.

Durch die Verbrüderung sind Gunnar und Högni zu „Eidbrüdern“ Sigurds geworden („Þeir váru eiðsvarar Sigurðar“). Auch hier findet sich die gleiche Ausdrucksweise vom „Schwören“ („sveria“) der Brüderschaft und das dadurch entstehende Verhältnis wird durch „eiÞr“ gestiftet.

Der in mehreren Varianten überlieferte Beleg von der Blutsbrüderschaft Sigurds mit Gunnar und Högni ist trotz des Fehlens einer detaillierten Beschreibung einer der wertvollsten, die wir für diese Institution aus dem Nordgermanischen besitzen.

3. Gísla saga Súrssonar

Der ausführlichste und zugleich auch bei weitem aufschlußreichste Bericht über den Abschluß einer Blutsbrüderschaft zwischen heidnischen Isländern findet sich in der Gísla saga Súrssonar, einer Isländersaga, die wohl im 12. Jh. gestaltet wurde und deren erhaltene Fassung eine Neubearbeitung des 13. Jh. ist37. Die Stelle im 6. Kapitel, in welcher der Abschluß der Blutsbrüderschaft zwischen den Habichtstalern auf dem Valseyrarthing beschrieben wird, wurde von Finnur JÓNSSON als der locus classicus für diesen eigentümlichen Brauch bezeichnet38.

Die Habichtstaler (Gísli, Þorgrímr, Þorkell und Vésteinn) benehmen sich auf dem Thing höchst übermütig. Während die anderen an den Verhandlungen teilnehmen, sitzen sie in der Hütte und trinken Bier. Es entsteht bei den anderen ein Gerede über ihren Übermut, und der weise Gest prophezeit, daß sie, „wenn der dritte Sommer kommt“, schon nicht mehr so einmütig sein werden wie jetzt. Die Habichtstaler erfahren von dieser Prophezeiung, und aus Trotz, um ihre Erfüllung zu verhindern, schließen sie Blutsbrüderschaft.

Gísli svarar: ‚Hér mun han mælt mál talat hafa; en vörumz

ver, at eigi verði hann sannspár; enda sé ek gott ráð til

Þessa, at vér bindum várt vinfengi með meirum fastmælum en

áðr, ok sverjumz í fóstbrœðralag fjórir.‘

En Þeim sýniz Þetta ráðligt. Ganga nú út í eyrarodda, ok

rísta Þar upp ór jörðu jarðarmen, svá at báðir endar váru

fastir í jörðu, ok settu Þar undir málaspjót, Þat er maðr

mátti taka hendi sinni til geirnagla. Þeir skyldu Þar fjórir

undir ganga, Þorgrímr, Gísli, Þorkell ok Vésteinn; ok nú

vekja Þeir sér blóð ok láta renna saman dreyra sinn i Þeiri

moldu, er upp var skorin undan jarðarmeninu, ok hrœra saman

allt, moldina ok blóðit. En síðan fellu Þeir allir á kné,

ok sverja Þann eið, at hverr skal annars hefna sem bróður

síns, ok nefna öll goðin í vitni.39

Unmittelbar nach dem Abschluß der Blutsbrüderschaft beginnen jedoch schon die Unstimmigkeiten, als Þorgrímr erklärt, daß er Vésteinn gegenüber keine Verpflichtungen haben wolle. So geht Gests Prophezeiung rascher in Erfüllung, als irgendjemand gedacht hätte.

Die Eingehung der Blutsbrüderschaft ist also kein bloßes Motiv, sondern ihr kommt eine zentrale Funktion im Rahmen der Gesamtkonzeption der Saga zu. In dieser Hinsicht steht die Gísla saga den nordischen Dichtungen von Sigurds Tod sehr nahe. Es wurde deshalb ein Einfluß der Nibelungendichtung, die „für den Aufbau der Saga bestimmend“ gewesen sei, in Betracht gezogen40; de VRIES weist darauf hin, daß „das Streitgespräch der Schwägerinnen Auðr und Asgerðr in der dyngja wie in der senna von Guðrún und

Brynhildr den Anlaß zu den tragischen Verwicklungen zwischen den durch Blutsbrüderschaft Verwandten“ bildet41. Doch müßte, falls hier wirklich ein literarischer Zusammenhang bestehen sollte, die Schilderung des Rituals, das die Saga gibt, dadurch nicht entwertet werden.

 

Die Gísla saga übertrifft alle anderen Belege durch die Ausführlichkeit, mit der im 6. Kapitel das Ritual der Verbrüderung beschrieben wird. Die Zeremonie des „ganga undir jarðarmen“ wird hier ganz eindeutig als ein Element des Verbrüderungsrituals ausgewiesen. Die Zeremonie wird sehr eingehend beschrieben: ein Rasenstreifen („jarðarmen“) wird aus der Erde geschnitten, jedoch so, daß beide Enden mit dem Boden verbunden bleiben („svá at báðir endar váru fastir í jrðu“); unter diesen wird ein Runenspeer („málaspjót“) gestellt, der so lang ist, daß ein stehender Mann die Schaftnägel mit der Hand erreichen kann. Unter diesen Rasenstreifen treten die Beteiligten – im geschilderten Fall sind es vier Männer – und „wecken“ sich das Blut („vekja Þeir sér blóð“). Dieses lassen sie in die unter dem jarðarmen befindliche Erde fließen („láta renna saman dreyra sinn i Þeiri moldu, er upp var skorin undan jarðarmeninu“); darauf wird es mit der Erde vermengt („… ok hrœra saman allt, moldina ok blóðit“). Dann schwören sie kniend einen Eid („ok sverja Þann eið“), einander wie leibliche Brüder zu rächen („hverr skal annars hefna sem bróður síns“) und rufen dazu alle Götter als Zeugen an („nefna ll goðin í vitni“).

Wie im Alten Sigurdlied lassen die sich Verbrüdernden auch hier ihr Blut aus dem Erdboden zusammenfließen; davon jedoch, daß die Vermischung in den Fußspuren der Beteiligten erfolgte, steht in der Gísla saga nichts. Ist das in ihr geschilderte Ritual von dem im Alten Sigurdlied erwähnten grundsätzlich verschieden?42 Dies ist eine der schwierigsten Fragen im Zusammenhang mit der Form des Rituals der germanischen Blutsbrüderschaft; von ihrer Beantwortung hängt ja die Gesamtvorstellung, die wir uns vom altnordischen fóstbrœðralag machen, weitgehend ab.

Auch die Absicht, mit der die Blutsbrüderschaft in diesem speziellen Fall geschlossen wird, wird in der Gísla saga eindeutig ausgesprochen: aus Trotz gegen ein prophezeites Schicksalsverhängnis („at eigi verði hann sannspár“) beschließen vier – teilweise sogar miteinander verwandte – Männer, ihre Freundschaft noch fester und enger zu machen als bisher („at vér bindum várt vinfengi með meirum fastmælum en áðr“); sie tun dies, indem sie Blutsbrüderschaft schließen.

Die einzige Konsequenz, die in der Gísla saga erwähnt wird, ist die gegenseitige Rachepflicht. Der eine ist verpflichtet, den anderen wie seinen Bruder zu rächen („hverr skal annars hefna sem bróður síns“).

Von ganz besonderer Bedeutung ist die Tatsache, daß diese Stelle zugleich mit einer detaillierten Beschreibung einer „echten“ Blutsbrüderschaft auch den Terminus erwähnt, mit dem im Altnordischen diese Institution bezeichnet wurde, nämlich „fóstbrœðralag“.

4. Saxo Grammaticus: Gesta Danorum

In den Gesta Danorum finden sich mehrere Erwähnungen „künstlicher“ Brüderschaften43, nur an einer einzigen Stelle wird jedoch expressis verbis gesagt, daß die Brüderschaft durch das Vermischen des Blutes begründet wurde. Dies ist vielleicht dadurch zu erklären, daß SAXO es bei der ersten Erwähnung der Institution für nötig erachtet hatte, etwas genauer darauf einzugehen (er unterstreicht ja auch besonders, daß es sich um einen Brauch vergangener Zeiten handelt), dies aber in allen weiteren Fällen verständlicherweise nicht mehr nötig war. Vermutlich ist bei einigen der in anderen Büchern seiner Gesta Danorum erwähnten Brüderschaften jedoch keine Verbrüderung durch Blutmischung gemeint, sondern es können „Eidbrüderschaften“ oder „Schwurbruderschaften“ ohne Blutritual gemeint sein.44

Im 1. Buch der Gesta Danorum wird erzählt, wie der jugendliche Hadding, nachdem er seine Pflegemutter verloren hat, Odin begegnet. Odin bedauert ihn ob seiner Einsamkeit und stiftet zwischen Hadding und einem Wikinger namens Liser Blutsbrüderschaft:

Spoliatum nutrice Hadingum grandævus forte quidam, altero orbus oculo, solitarium miseratus Lisero cuidam piratæ solemni pactionis iure conciliat. Siquidem icturi fœdus veteres vestigia sua mutui sanguinis aspersione perfundere consueverant, amicitiarum pignus alterni cruoris commercio firmaturi. Quo pacto Liserus et Hadingus artissimis societatis vinculis colligati Lokero, Curetum tyranno, bellum denuntiant.45

Die Absicht, mit der die Brüderschaft geschlossen wird, besteht also in der Schaffung eines besonders engen Freundschaftsbundes („amicitiarum pignus… firmaturi“). Die Blutsbrüder sind „artissimis societatis vinculis colligati“.

Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, daß hier Odin selbst als Stifter der Blutsbrüderschaft genannt wird („grandævus forte quidam, altero orbus oculo“).

Ähnlich wie im Alten Sigurdlied wird auch hier erwähnt, daß das Blut der Beteiligten in die „Spuren“ vergossen wurde („vestigia sua mutui sanguinis aspersione perfundere“). Der beiderseitige Charakter dieses „Bluttausches“ wird besonders hervorgehoben („mutui sanguinis aspersione“ – „alterni cruoris commercio“).

Ebenso wie im Alten Sigurdlied wird auch hier nichts davon erwähnt, daß die Blutmischung unter einem „jarðarmen“ stattgefunden habe.

SAXO bezeichnet das Verhältnis zwischen den Blutsbrüdern mit dem Ausdruck „fœdus“: der juristische Aspekt ist ihm offenbar wichtig, denn die Blutsbrüderschaft wird unmißverständlich als ein besonders feierlicher Rechtsvertrag definiert („solemni pactionis ius“).

Besonders in den Fornaldarsögur ist sehr häufig von „fóstbrœðr“ und der Institution des „fóstbrœðralag“ die Rede; nur zweimal jedoch wird erwähnt, daß das fóstbrœðralag durch Blutmischung geschlossen wurde.46

5. Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana

Ásmundr berserkjabani erzählt sein Leben: nach dem Bericht von Kindheit und Jugend schildert er, wie er sich einmal auf der Jagd verirrte und dabei mit Árán von Tattaríá zusammentraf. Nachdem sie beide miteinander gekämpft hatten, schwören sie sich Blutsbrüderschaft:

Þá talaði Árán til Ásmundar: ‚Ekki skulu vit vapnaskipti

prófa, Því Þat verðr skaði okkar beggja. Vil ek, at vit

sverjumz í fóstbrœðralag; at hvárr skal annars hefna, ok

eiga fé saman, fengit ok ófengit.‘ Þat fylgði ok svardaga

Þeirra, at hvárr sem lengr lifði, skyldi láta verpa haug

etir annan, ok láta Þar í svá mikit fé, sem Þeim pætti

sóma. Sian skal sá, sem lengr lifir, sitja hjá enum dauða

III nætr í haugi, ok fara síðan burt, ef hann vildi.

Voktu sér síðan blóð, ok létu renna saman; heldu

menn Þat Þá eiða.47

Der Vorschlag, Blutsbrüderschaft zu schließen, geht von Árán aus („vil ek, at vit sverjumz í fóstbrœðralag“). uch hier wird die Eingehung des Bundes mit der Wendung „sveria í fóstbrœðralag“ bezeichnet.

Über das Ritual wird nur gesagt, daß sie sich „das Blut weckten“ und es zusammenfließen ließen („voktu sér síðan blóð, ok létu renna saman“). Weder die Fußspuren noch das jarðarmen werden erwähnt. Mit diesen Worten war die Blutmischung schon in der bedeutend älteren Gísla saga beschrieben worden („… ok nú vekja Þeir sér blóð ok láta renna saman“). Dies könnte auf eine literarische Übernahme deuten.

Anders verhält es sich bei den Konsequenzen, die aus der Blutsbrüderschaft entspringen. Hier ist die Egils saga einhenda bei weitem ausführlicher als die Gísla saga: neben der Rachepflicht („hvárr skal annars hefna“) erwähnt sie außerdem, daß den Blutsbrüdern ihr Besitz gemeinsam gehören soll, und zwar nicht nur all das, was sie derzeit ihr Eigentum nennen, sondern auch alles, was sie erst in Zukunft erwerben werden („eiga fé saman, fengit ok ófengit“). Darüber hinaus soll der Überlebende für den Verstorbenen den Grabhügel aufwerfen lassen und ihm so viele Grabbeigaben mitgeben, als ihm geziemend erscheint („hvárr sem lengr lifði, skyldi láta verpa haug eptir annan, ok láta Þar í svá mikit fé, sem Þeim pætti sóma“) und endlich ist der Überlebende verpflichtet, drei Nächte bei seinem toten Blutsbruder im Grabhügel zu verbringen; dann kann er fortgehen, wenn er dies will („skal sá, sem lengr lifir, sitja hjá enum dauða III nætr í haugi, ok fara síðan burt, ef hann vildi“).

Dieses Motiv vom Mitbegraben, das dann in dieser Saga zu einem schrecklichen Kampf zwischen dem Toten und dem Lebenden führt, findet sich schon in der Geschichte von Asmund und Aswit, die SAXO GRAMMATICUS im 5. Buch seiner Gesta Danorum berichtet.48 Die entsprechende Erzählung der Egils saga einhenda ok Asmundar berserkjabana ist höchstwahrscheinlich aus der selben nordischen Vorform entsprungen wie die Geschichte SAXOs.49 Allerdings erwähnt SAXO nichts davon, daß die Verbrüderung durch eine Blutmischung erfolgt sei. Der Verfasser der Egils saga einhenda hat das bei SAXO geschilderte Freundschaftsverhältnis jedoch offenbar als ein solches von Blutsbrüdern aufgefaßt und es dementsprechend in seiner Erzählung mit den fast stereotyp wiederkehrenden Elementen kurz charakterisiert. Die Beschreibung dieser Blutsbrüderschaft könnte geradezu als eine Synthese zweier Vorlagen angeseen werden: der Grundstruktur des Berichts in Anlehnung an die Quelle von SAXOs Buch V, und einer Ergänzung und Verdeutlichung nach der „klassischen“ Beschreibung eines fóstbrœðralag in der Gísla saga und anderer Sogur. Sollte dies der Fall sein, dann wäre der Aussagewert dieser Stelle der Egils saga einhenda nicht sehr hoch anzusetzen. Vielleicht läßt sich aus ihr jedoch schließen, daß das bei SAXO beschriebene Freundschaftsverhältnis Asmunds und Aswits tatsächlich eine Blutsbrüderschaft war.