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12. Juli 1995

Jugoslawien

Ayyub Zlatar

Sein Urgroßvater war Goldschmied gewesen. Sein Großvater war Goldschmied gewesen. Sein Vater war Goldschmied gewesen. Und er wollte ebenfalls Goldschmied werden. Stattdessen hatte er von Vater eine Ohrfeige bekommen und musste den seit Jahren an der rauchgeschwärzten Hausmauer vor sich hin rostenden Škoda, mit dem sie früher nach Jesolo in den Urlaub gefahren waren, mit dem rötlichen Wasser aus dem Brunnen waschen, weil er den Müll auf den Wagen und nicht daneben geworfen hatte. Neben das Brennholz. Danach kippte er das Wasser in die stinkende Kanalisation.

Mit seiner älteren Schwester Camila musste er Löwenzahn, Brennnessel und wilden Spinat suchen, den ihre Mutter zu einer Suppe verkochte, die in der Nacht in den Mägen und Gedärmen donnerte. Die beiden durften nicht weiter als bis zu den Hügeln, auf denen verdorrte Sonnenblumen die Köpfe hängen ließen. Weiter oben war der Kopf ihres Schulfreundes Sulejman explodiert wie eine Melone. Vater und Großvater schwärmten in die umliegenden Dörfer aus, um bei anderen Familien Essen zu ergattern, das Wort betteln nahmen sie nicht in den Mund. Die Wölfe und Bären waren verschwunden, dafür war Ayyubs Onkel Mirsad zurückgekehrt, durch einen Fluss voller Leichen. Die Einzigen, die sich weit über die Stadtgrenzen hinausgetraut hätten, wären die Ratten gewesen, doch die blieben gerne.

Ayyub wollte endlich wieder mit seinem bestem Freund Ratko auf der Straße bolzen. Mit ihm die Wälder erkunden, Lager mit steinumrandeten Feuerstellen bauen, Dämme errichten oder die Schafe ihrer Nachbarn hüten. Schließlich hatten sie Blutsbrüderschaft geschlossen, mit dem Messer, das Ayyubs Großvater ihm geschenkt hatte. Ayyub dachte täglich an Ratko, weil er Angst hatte, ihn zu vergessen. Wenn er den Rauch von verbranntem Holz roch, strich er über die verhärtete Narbe an seiner Hand.

Auch jetzt dachte der siebenjährige Ayyub wieder an Ratko, weil kleine Feuer auf dem Gelände der alten Fabrik loderten und Ratkos Onkel sie mit einem Gewehr aus dem Haus vertrieben hatte. Sie hatten Kleider, Brot, Decken gepackt, und sich den anderen Familien angeschlossen. Nur Großvater war zurückgeblieben. Er hatte Ayyub über den Kopf gestreichelt und zu Vater gesagt: Keine Sorge, wir waren doch so lange Nachbarn.

Sie reihten sich ein in den Zug aus Menschen, neben einer mageren Kuh und den Frauen in ihren Dimijes, den Pluderhosen, mit ihren schreienden Kindern auf dem Arm. Ein fremder Großvater fluchte in seinem dreckverkrusteten weißen Hemd auf die Soldaten aus Holland. Der Schweiß rann unter seiner blauen Kappe über sein Gesicht. Sogar die Luft zitterte in der Hitze.

Jetzt stand der Mond über der verfallenen Autobatteriefabrik. Ayyub schwitzte noch immer und hielt sich die Nase zu, weil alle in die Ecken machten. Trotzdem knurrte sein Magen, und sein Mund war ausgetrocknet. Weshalb er auch hoffnungsvoll zu Mutter hinübersah, als sie das Küchenmesser auspackte. Aber anstatt Brot zu schneiden, fasste sie Camila an den Haaren. Und schnitt Haarsträhne für Haarsträhne ab. Die Haare, die sie täglich gekämmt, gepflegt, die sie so geliebt hatte. Camila zuckte bei jedem Schnitt zusammen, begann zu weinen. Warum schneidest du Camila die Haare ab, obwohl sie weint?, wollte Ayyub Mutter fragen, fragte aber lieber nicht, nicht, dass sie noch wütender wurde. Anstatt Camila zu trösten, schlich Mutter zum Feuer. Sie bückte sich, griff nach der erkalteten Kohle, verbranntem Holz, das nicht mehr glühte. Mit der Kohle rieb sie Camilas Gesicht ein. Ließ sich auch nicht von den Tränen abhalten, die noch immer über das rußgeschwärzte Gesicht rollten und graue Streifen hinterließen. Normalerweise nahm Mutter Camila in den Arm, wenn sie weinte. Heute wanderten ihre Augen durch die mit Menschen vollgestopfte Halle, in der zwei junge Frauen beteten. Ayyub wollte Mutter gerade fragen, warum die serbischen Soldaten ihnen die Beine auseinanderrissen und sich auf sie legten. Aber da stand sie auf, zog Camila in eine dunkle Ecke und wechselte ihre Jeans gegen eine Pluderhose. Ayyub wollte Vater fragen, warum der fremde Großvater mit einem Stein auf seinen eigenen Kopf einschlug, bis ihm das Blut über das Gesicht lief. Doch da zog ihn Vater mit sich. Mit der anderen Hand hielt sich Ayyub die Ohren zu, weil es ständig krachte, Männer, Frauen und Kinder wimmerten und weinten. Ayyub spürte, wie der Boden bebte, wich einem Jungen aus, dessen schwarze Füße in viel zu großen Schuhen steckten. Vater befahl ihm, er solle sich von Mutter und Camila verabschieden. Vater gab Mutter die Kleider seiner Schwester, Mutter gab ihm ein Bündel Dinar und Ayyubs Ersatzhose. Ayyub verstand nicht, wollte nicht, fing an zu weinen. Er küsste Camila auf die rußige Wange, die bitter schmeckte. Umarmte Mutter, die streifte ihm die viel zu lange grüne Jacke der Schwester über. Zog ein Halstuch aus ihrer Kittelschürze und band es Ayyub hastig um den Kopf. »Nimm es bloß nicht ab«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Dann riss ihn Vater von Mutter fort. Von den Berghängen tönte Hundegebell zu ihnen herunter.

12. Juli 1995

Auffing (Oberbayern)

Roja Özen

»Warum Roja?«, hat sie ihren Baba gestern Abend vor dem Zubettgehen gefragt. Die Nacht hatte es noch nicht geschafft, den heißen Sommertag zu vertreiben.

»Weil du mit dem Sonnenaufgang geboren wurdest«, hat Vater geantwortet und ihr über die langen schwarzen Haare gestrichen. »Du hast uns die Sonne gebracht«, lachte er und küsste sie auf die Stirn. Sein schwarzer Schnurrbart kitzelte an den Augenlidern, sie atmete erleichtert aus. Hatte es doch geholfen, dass sie Baba gestern erlaubt hatten, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Der Onkel aus dem Fernseher hatte ihnen dabei zugesehen. Sein Bart war buschiger als der von Vater, und er hatte schon mehr graue Haare. Mindestens zweimal in der Woche saßen Vater und Mutter vor dem Fernseher, um seinen Worten zu lauschen. Normalerweise durften Roja und ihr großer Bruder Serhat dann nicht stören. »Roja«, sagte Vater. »Du kennst doch den Mann, der einmal zum Teetrinken bei uns gewesen ist und dir Märchen erzählt hat.«

Roja nickte. Sie mochte ihn, er lachte häufiger als Vater.

»Er wird ab sofort bei uns wohnen.«

Sie dachte an die Geschichte vom Ferkel im Hundestall, die ihr der Onkel erzählt hatte, und bekam eine Gänsehaut.

Jetzt schlenderte Roja neben den eiligen Autos den Berg hinab, ihren Schulranzen auf dem Rücken. Die Sonne kämpfte sich durch die zotteligen Wolken, kündete von einem warmen Sommertag. Ein Spatz saß auf einem Jägerzaun. Roja blieb stehen, holte ihr Pausenbrot aus dem Schulranzen und bröselte Krümel vom Fladenbrot.

»Roja!«, schrie ihre Mutter, aus dem Fenster der Wohnung gelehnt. »Beeil dich bitte, sonst kommst du wieder zu spät zur Schule.«

Roja stopfte das Pausenbrot in ihren Schulranzen, hastete den Berg hinunter, überquerte am gefährlichen Eck die Straße. Dort, wo die Autos erst kurz bevor sie um die Kurve rasten zu sehen waren.

An der Bäckerei Steigele lockte der Geruch von Frischgebackenem. Roja blieb vor dem Schaufenster mit den vollbeladenen Blechen stehen, ihr Magen knurrte. Da läutete die Kirchenuhr achtmal. Sie schreckte zusammen, griff nach den Trägern ihres verschlissenen Schulranzens und rannte los. Erst die Gasse an einem weiteren Jägerzaun entlang, die lange Treppe hinab. Links der steile Berg, den sie im Winter hinunterrodelten, an den Reihenhäusern vorbeischossen. Gegenüber die Schule, der Betonklotz, in den sie sich jeden Morgen quälte. Schwungvoll riss sie die große Tür auf, tauchte ein in die eigentümliche Welt aus Brezen, Sunkist und Negerkusssemmeln. Ihr Klassenzimmer befand sich am Ende des Gangs, der trotz des Sonnenscheins im Dunkeln lag. Zögerlich klopfte sie und trat ein. Die grauhaarig-gelockte Lehrerin teilte gerade Blätter aus. »Setz dich hin. Wir schreiben eine Probe.«

Roja wühlte im Schulranzen, griff in etwas Klebriges. »Kar«, entfuhr es ihr, was niemand gehört hatte und niemand verstanden hätte. Sie Esel hatte vergessen, das Brot wieder in das Papier einzuwickeln, bevor sie es in den Schulranzen gepackt hatte. Langsam zog sie ihre verpappten Hände heraus, sah sich um, sah, wie sich Traudel erhob und zum Abfalleimer wackelte. Sie widerstand dem Impuls, die klebrigen Hände an ihrer abgewetzten Jeans abzuwischen, die sie von Serhat vererbt bekommen hatte. Im Gegensatz zu Traudels Jeans war ihre Hose bleich, wie Vater, wenn er nicht aus dem Bett kam. Sie wischte ihre Hand mit einem Stofftaschentuch ab. Dann zog sie ihr Federmäppchen aus dem Rucksack, es rutschte ihr aus den Händen und fiel zu Boden. Die Lehrerin warf ihr einen strengen Blick zu.

Roja beugte sich über die Matheaufgaben. Darauf war ein Würfel mit schwarzen Punkten abgebildet. Sie sollte die Punkte aufteilen, in zwei andere Würfel. Sie stellte sich vor, wie jeder aus ihrer Familie einen Punkt darstellte. Der Gedanke an den Märchenonkel ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Gerade schob Traudel den Rucksack, der zwischen ihr und Vroni stand, beiseite und schaute auf Vronis Probe.

Sie zögerte, ihre Hand fuhr nach oben. Flüsternd rief sie die Lehrerin auf.

»Traudel hat gespickt.«

Ein Raunen ging durch die Klasse.

Auf dem Nachhauseweg holten Traudel und Vroni sie ein.

»Hast dich heut noch rasieren müssen? Und bist deswegen zu spät gekommen?«, frotzelte Traudel, die ein Jahr älter war als die anderen und zwei größere Schwestern hatte.

Vroni kicherte. Roja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.

Roja stieß sie zur Seite und rannte davon. Auf halber Strecke musste sie anhalten. Keuchend stützte sie sich auf ihre Oberschenkel. Dann ging sie langsam nach Hause.

Mutter kam von der Arbeit, drückte Roja zehn Mark, einen Einkaufszettel und den Korb in die Hand. Vor dem Kramerladen trottete ihr Traudel entgegen.

 

»Traudel«, sagte Roja.

»Was willst?«

»Es tut mir leid, dass ich dich heute verpetzt habe.«

Traudel schaute in den Korb und entdeckte den Zehnmarkschein. »Gibst ein Eis aus?«

»Okay«, sagte Roja und Traudel folgte ihr in den Kramerladen.

Am Stadtbrunnen knackten sie die Schokolade des Magnum-Eises. Eine Biene schwirrte um ihre Köpfe. Das Wasser plätscherte hinter ihnen in das vermooste Becken. Wolken schoben sich vor die Sonne.

»Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«, fragte Roja.

»Sag.«

»Nur, wenn du’s nicht weiterverrätst.«

Traudel schüttelte den Kopf. Biss in die Schokolade. Ein Stück blieb an ihrer Lippe kleben.

»Ein Onkel wohnt jetzt bei uns.«

Ein Eichhörnchen flitzte am Stamm der Eiche gegenüber hinunter, dass es aussah, als würde es fallen.

Am Abend lag Roja in ihrem Bett, das Asthmaspray griffbereit neben ihrem Kopfkissen. Die Äste der Bäume kratzten an den geöffneten Fenstern. Ihre Schatten glichen dürren Armen, die versuchten, nach ihr zu greifen. Sie faltete ihre Hände. »Bitte lass mich heute durchschlafen.«

Aus dem Wohnzimmer drang Licht durch die mit Kinderbildern abgeklebte Glastür. Eines davon hatte Roja noch im Kindergarten gemalt. Es zeigte einen blauen Drachen, der Feuer spie. Darunter ein Bild ihres Bruders Serhat, auf dem ein Pirat über einen Berg kletterte. Berge wie in ihrer Heimat. Das Licht bewegte sich, wechselte die Farben. Ausnahmsweise liefen im Fernsehen die deutschen Nachrichten, was allemal besser war als das Streiten ihrer Eltern, das sie mit Tränen in den Schlaf begleitete. Wenn Mutter vom Elternabend zurückkam und nichts verstanden hatte. Oft war das Kopfkissen, das sich Roja auf Gesicht und Ohren gedrückt hatte, am Morgen feucht. Dann wünschte sie sich, ihr Bruder würde lauter schnarchen, um die Stimmen nicht mehr hören zu müssen. Serhat kümmerte das Geschrei seiner Eltern wenig. Wenn er mit den anderen Jungs gebolzt hatte, mit grünen Knien und aufgeschlagenen Beinen nach Hause kam, schickte ihn die Erschöpfung sofort nach dem Abendessen in den Schlaf. Auch Mutter kümmerte ihn wenig, die versuchte, mit Waschbrett und Seife seine Hose zu retten. Die Flecken aus dem Stoff schrubbte und Löcher mit Stoff aus zerschnittenen, abgetragenen Anziehsachen übernähte. Ihr Vater erklärte, dass Jungs Fußball spielen müssten, um stark zu werden. Mutter erzählte oft von den starken Frauen in ihrer Heimat, die für die Freiheit kämpften. Wenn Roja nachfragte, Namen oder Orte wissen wollte, zog sich Mutter das bunte Kopftuch mit den Blumen fester über die langen dunkelbraunen Haare. Sprach über die nächste Mahlzeit oder flocht Roja ihre Zöpfe neu.

»Wenn du älter bist, erzähle ich es dir«, sagte sie ausweichend. Insgeheim wünschte sich Roja, dass ihr Vater davon erzählen würde.

Roja wollte Ärztin werden, die Geister aus der Vergangenheit und Krankheiten wie Asthma vertreiben.

Heute war der Onkel da und die Eltern stritten nicht. Vor dem Zubettgehen hatte er ihr die Geschichte vom Newrozfest erzählt. Jetzt saß er mit Vater und Mutter im Wohnzimmer und sie tranken Ça. Da läutete es.

Freitag, 4. März 2016

Auffing (Oberbayern)

Ayyub Zlatar

Der Motor seines alten Fords röhrt seltsam blechern, als er auf dem Parkplatz der Polizeiwache den Schlüssel zieht. Er steigt aus, dreht sich nicht um, schließt nicht ab. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Dafür schließt er seine Jacke. Darunter sein Rollkragenpullover. Geht direkt auf die Eingangstür der Wache zu. Der Geruch von verbranntem Holz. Die Narbe. Das Nach-vorne-Sehen strengt an. Der Kiefer spannt. »21, 22.« Die Treppe hinauf. Stufe für Stufe. Das blaue Schild mit weißer Schrift: Polizei. Verräter. Goldene Strahlen. Gefüllt mit blau-weißen Rauten. Die kalte Türklinke. Wie der Griff seines Colts. Die Aufrechten. Die Patronen. Metall, stark, auf ewig gegossen in Metall. Bumm … Bumm … Bumm … »23, 24.« Die Tür schwankt, er tritt trotzdem ein. Ein Hund bellt. Hinein, bevor sie das Tier auf ihn hetzen. Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. »25, 26.« Hinter der Glasscheibe ein Wächter in Uniform, funkt. Rauschen dringt zu Ayyub durch die durchsichtige Wand. Jetzt, das Zeichen. Finger an den Kopf. »Grüß Gott.« Mein Gott. Euer Gott. Ruhig. Lächeln. Die Eintrittskarte. Der Wächter grüßt freundlich zurück. Weiß, dass er kommt. Lässt ihn passieren. Sie wollten es so.

Zimmer Nr. 7, rechts, am Ende des Ganges, haben sie gesagt. »27, 28.« Jetzt dreht er sich um. Weil seine Zukunft vor ihm liegt. Er aus dem Sichtfeld des Wächters ist. Knöpft sein Jackett auf. Die nächste Tür. Der Griff warm. Keine Sicherheit. Schwäche. »29, 30.« Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. Die Kirchturmglocken. Die Kirche in Bosnien. Lauter als der Ruf des Muezzins. »Allahu akbar.« Öffnet die Tür. Die zwei Lakaien. Sitzen an ihren Schreibtischen. Vornübergebeugt. Über seinen Waffen, seiner Munition! Bummbumm. Bummbumm. Bummbumm. »31, 32.« Das Kreuz an der Wand. Blut, Leiden, Christen, Serben. Vaters Kopf. Die Kalaschnikow. Die Stiefel des Skorpions. Das Maschinengewehr fährt hinab. Er wird vom Himmel fahren und richten. Blut spritzt. Das Kreuz an der Wand. Erhellt von der Sonne. Blitzt. Blut an seinen Händen. Blut an seinen Füßen. Blut auf seiner Stirn. Unter der Dornenkrone. Der Schädel platzt auf. Im Namen des Vaters. Der Geistliche mit Kreuz. Inschallah. Küsst Blut. Der böse Blick des Skorpions. Fährt seinen Stachel aus. Roter Pfeil.

»Gebt mir meine Waffen zurück!«

Ayyub greift mit der Hand nach dem Colt auf dem Tisch.

Der 21. September 2001 war ein Freitag. Es war der 264. Tag des Jahres. Gerhard Schröder war Bundeskanzler, Johannes Rau Bundespräsident, der FC Bayern München deutscher Meister. Die afghanischen Taliban weigerten sich, bin Laden an die USA auszuliefern, und das Oktoberfest wurde tags darauf erstmals seit 1950 ohne das traditionelle »Ozapft is« eröffnet. Die No Angels standen mit »There Must Be An Angel« auf Platz eins der Top Ten und der Wochenendkrimi »Im Fadenkreuz« begann tags darauf um 20:15 Uhr auf ZDF.

21. September 2001

Auffing (Oberbayern)

Roja Özen

Traudels roter Fingernagel bohrte sich in die Luft. Roja stand an der Tafel und zeigte auf sie, ohne ihren Namen zu nennen.

»Redest du daheim islamisch?«

Roja schaute zu ihrem Lehrer. Der nickte ihr aufmunternd zu. Noch bevor Roja antworten konnte, platzte Vroni dazwischen: »Geht deine Mama eigentlich mit ihrem Kopftuch unter die Dusche?«

Die Klasse johlte. Roja hätte gern zu ihrem Lehrer geschaut, starrte auf Vroni, die sich durch ihre gebleichten Locken fuhr, der Ärmel des ausgeleierten Wollpullis bebte vor Lachen. Es gongte. Roja drehte sich um, ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen, ihr Blick fiel auf den Jesus am Kreuz, der über ihr an der Wand hing. Gestern hatte ihre Religionslehrerin erzählt, dass er durstig am Kreuz gehangen habe. Worauf ihm ein römischer Soldat einen essiggetränkten Schwamm gab, auf einen Ysopzweig gespießt, von dem Jesus trank.

Schritte stürmten hinter ihr aus dem Klassenzimmer. Ein kühler Windzug strich über ihren Hals.

»Roja … Roja!« Ihr Lehrer stand neben ihr. Sie flüsterte ein »Ja«, versuchte, sich vom Bild des Jesus am Kreuz zu lösen. Sie hörte das Rascheln von Papier und sah ihrem Lehrer in die Augen.

»Fabio ist immer noch krank. Wärst du so lieb und würdest ihm bitte die Hausaufgaben bringen?«

Eine Hitzewelle schoss durch ihren Körper, in ihren Kopf, weckte sie.

»Natürlich.«

Sie griff nach den Blättern. Das Papier war seltsam kalt. An ihrem Platz schob sie es vorsichtig in ihren Rucksack. Der zippende Reißverschluss hallte von den Plakaten an den Wänden wider.

Roja musste sich beeilen, um rechtzeitig zu ihrem Friseurtermin zu kommen. Eine blonde Strähne musste sein. Da konnte Dayê sagen, was sie wollte.

Es bimmelte, als sie die Tür des Friseurs öffnete. Die Besitzerin sah kurz zu ihr herüber, begrüßte sie mit einem dürren »Griasde« und wandte sich wieder den Locken der grauhaarigen Frau zu. Gerade hatten sie sich noch angeregt unterhalten. Die Friseuse schob der Frau die Maschine, die aussah wie ein riesiger Sturzhelm, über den Kopf. Normalerweise empfing sie die Friseuse mit einem Lächeln, heute hingen ihre Mundwinkel nach unten.

Roja zog ihre Jacke aus und schob sie über einen Kleiderbügel an der Garderobe. Vorsichtig linste sie zur Friseuse hinüber, bevor sie sich auf den Stuhl setzte. Sie reagierte nicht, schaute in den Fernseher. Dort stand ein Mann vor einem Volksfestzelt und erzählte, dass das Oktoberfest nicht wie gewohnt eröffnet werden konnte. Aus Respekt. Respekt, dachte Roja, was für ein komisches Wort. Dann wurde ein anderer Mann eingeblendet, mit einem langen Bart und einem Turban, der eine Tarnjacke trug.

Als die Friseuse endlich bei Roja war, befestigte sie den Umhang und das Papierband fest um Rojas Hals. Sicherheitshalber griff Roja nach dem Asthmaspray in ihrer Hosentasche. Kalt, vom kühlen Septembertag. Wollte sie es nicht loslassen, musste sie sich verbiegen. Trotzdem versuchte sie sich aufrecht hinzusetzen, wie sie es die letzten Jahre in der Schule getan hatte, um nicht aufzufallen. Das Spiegelbild der Friseuse stand vor ihr, bewaffnet mit Schere und Kamm, als würde sie auf etwas warten.

Roja spürte das Foto in ihrer Hosentasche, die abgerissenen Ränder. Wie eine Eintrittskarte wartete es darauf, vorgezeigt zu werden.

Normalerweise fragte die Friseuse, wie es ihrem Vater, ihrer Mutter ging, wie die Ausbildung ihres Bruders zum Maschinenschlosser lief. Stattdessen fragte sie: »Wie soll ichs schneiden?«

Die Friseuse umklammerte Schere und Kamm, stierte in den Spiegel und damit auf Roja.

Roja musste an die Geschichte denken, die ihr der Märchenonkel aus seinem Heimatdorf, seiner Kindheit in Kurdistan erzählt hatte. Einmal im Jahr bewaffnete sich das Dorf. Sogar die Kinder trugen Keulen auf den Schultern oder Steinschleudern in den Händen. Im Gürtel des Onkels steckte ein verrosteter Dolch, den er auf der Straße gefunden hatte, und dessen Spitze auf sein aufgeschürftes Knie zeigte. Die Männer ritten zu der Stelle, wo sich die Eindringlinge versteckt hielten. Die Hufe der Pferde schlugen auf den harten Steinboden. Der Onkel wartete mit den anderen Kindern aus dem Dorf am Ortsrand, den Dolch gezogen. Die Rufe und Trommeln der Männer hallten von den roten Bergen wider, kamen näher. Kurze Zeit später preschten ein Rudel Schweine und ihre Ferkel auf sie zu. Die Streifen der Frischlinge schossen durch die Sonne. Schüsse ertönten, die Schweine stürzten quiekend zu Boden, über ihnen eine Staubwolke. Ein Ferkel rannte direkt in die Arme des Onkels. Er packte es und hob das bibbernde Tier hoch. Die Männer forderten ihn auf, das Ferkel loszulassen, wagten aber nicht, ihm das unreine Tier zu entreißen. Der Onkel ließ sich nicht davon abbringen, es nach Hause zu tragen. Dort sperrte er es in das Gehege zu seinen drei Hundewelpen. Obwohl seine Mutter nach dem Abendessen immer noch wetterte und zeterte, schmuggelte er, als sich die Nacht über das Tal legte, Fleisch und Brot in seinen Jackentaschen hinüber ins Hundegehege. Dort fand er das Ferkel, ausgeblutet, mit fleischigen Wunden am Hals, tot.

Roja verließ den Laden, war erleichtert, als sich die Tür hinter ihr schloss. Der Wind wehte eine abgeschnittene Locke davon, die dem Föhn der Friseuse entwischt war. In jedem Schaufenster betrachtete sich Roja, in jedem Autofenster und zuletzt in einem Rückspiegel leuchtete die blonde Strähne inmitten ihrer schwarzen Lockenpracht. Das Ferkel im Hundestall, dachte sie. Sie stieß gegen einen entgegenkommenden Mann, der sie wütend anschnaubte.

Fabio wohnte mit seinen Eltern in einem Reihenhaus in Auffing. Vom Friseur aus waren es drei Berge, bis man zu ihm gelangte. Das Haus war nur von einer Seite erreichbar. Über einen Berg, vorbei an Bungalowgärten und Thujenhecken auf der einen Seite und Vorgärten und Küchenfenstern von Reihenhäusern auf der anderen Seite. Roja drückte auf den Knopf neben dem Messingschild »Stingl« und ein kurzer Klingelton erklang. Die Tür ging auf, Fabios Mutter trat unter das Vordach.

»Grüß Gott, Frau Stingl«, sagte Roja.

Fabios Mutter glotzte aus wässrigen Augen durch sie hindurch. Sie umklammerte ein schwarzes Kästchen, das neben der weißen Schürze glänzte.

»Griasde, Roja«, stieß sie hervor und hielt das Kästchen vor ihren Bauch. Weil Roja dem vernebelten Blick nicht mehr standhielt, sah sie an der Hausmauer hoch. Hinter dem Fenster strahlte Fabio bleich zu ihr hinunter. Roja setzte den Fuß in seine Richtung, hob die Hand, ließ sie fallen, lächelte. Zögerlich hob er die Hand.

 

»Kann ich dir helfen?«, erschreckte sie eine Männerstimme. Fabios Papa hetzte den Berg hinauf. Die Ledertasche in seiner Hand baumelte hin und her. Roja riss ihren Rucksack von den Schultern und stammelte: »Ich bringe Fabio die Hausaufgaben.«

»Das ist aber nett.« Spucke landete auf ihrer Nase. Sie wagte nicht, sie abzuwischen. Wagte nicht, zu Fabio hochzusehen. Wartete darauf, hereingebeten zu werden. Stattdessen sagte Fabios Papa. »Wenn er wieder gesund ist, könnt ihr ja mal zusammen spielen.«

Zusammen spielen?, dachte Roja.

Ein dumpfer Knall ließ sie zusammenzucken. Sie schauten nach oben, zu Fabios Fenster. Sein Gesicht war verschwunden. Der Vogel hatte einen Fleck hinterlassen, an Roja vorbei stürzte er zu Boden. In ihrem Hals steckte ein Stein.

Zu Hause zog sie sich zurück in das Zimmer, das sie gemeinsam mit Serhat bewohnte. Mutter steckte den Kopf herein und fragte, ob sie noch etwas essen mochte.

Roja schüttelte den Kopf und sagte: »Ich muss noch Hausaufgaben machen«, woraufhin ihre Mutter die Tür schloss.

Sie ließ sich auf das Bett fallen, umklammerte das Kissen, zog ihre Knie an, und schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, starrte sie von Serhats Seite Muhammad Ali in Shorts und Kämpferpose an. Neben ihr lief eine Spinne über die Raufasertapete. Roja beobachtete die dürren Beine, wie sie sich über die weißen Hügel bewegten. Hob die Hand. Und erschlug sie. Die zermatschte Spinne hinterließ einen bläulichen Fleck auf der weißen Wand. Der Stein in ihrem Hals zersprang. Tränen rollten aus ihren Augen. Sie wischte sich übers Gesicht.

Es klopfte. Mutter kam herein, gab ihr einen Abschiedskuss, ging putzen; ohne Kopftuch. Erschrocken sah ihr Roja hinterher.

Da war Rojas Stein im Hals zurück. Ich muss Fabio sehen!

Wütend schnappte sie sich Mutters Kopftuch, das auf der Holzkommode lag. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe, in ihre Jacke. Hetzte durch die Dämmerung zu Fabio.

In Fabios Zimmer brannte noch Licht, genau wie in der Küche darunter. In der Küche war niemand zu sehen. Roja sammelte Kieselsteine und warf sie an Fabios Fenster. Nichts geschah.

Sie suchte den Boden nach einem größeren Stein ab. Stattdessen fand sie den toten Spatz, der heute Nachmittag gegen das Fenster geflogen war. Neben dem toten Vogel lag ein kantiger Stein. Roja hob ihn auf. Nahm Anlauf. Und warf. Fabio stand vor ihr. Es klirrte, die Fensterscheibe zerbarst. Erstaunt starrte er sie an. »Roja?« Dann jagte sie davon.

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