Krieg und Frieden

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XIX

Der Angriff des sechsten Jägerregiments sicherte den Rückzug des rechten Flügels. Im Zentrum wurde das Vorrücken der Franzosen durch die energische Tätigkeit der vergessenen Batterie Tuschins aufgehalten, die das Dorf Schöngrabern bereits in Brand geschossen hatte. Die Franzosen beschäftigten sich damit, die Feuersbrunst zu löschen, die durch den Wind weitere Ausdehnung gewonnen hatte, und ließen so den Unsrigen Zeit, sich zurückzuziehen. Der Rückzug des Zentrums über die Schlucht vollzog sich in großer Hast und mit vielem Lärm; indessen wurden die sich zurückziehenden Truppen nicht durch unnötige Befehle in Verwirrung gebracht. Aber der linke Flügel, aus dem Asower und dem Podolsker Infanterieregiment und dem Pawlograder Husarenregiment bestehend, welcher gleichzeitig von überlegenen französischen Streitkräften unter dem Kommando des Marschalls Lannes angegriffen und umgangen wurde, geriet in arge Unordnung. Bagration schickte Scherkow zu dem General, der den linken Flügel kommandierte, mit dem Befehl, sich ungesäumt zurückzuziehen.

Hurtig gab Scherkow, ohne die Hand vom Mützenschirm zu nehmen, seinem Pferd die Sporen und jagte davon. Aber kaum war er von Bagration weg, als ihm die seelische Kraft untreu wurde. Es überkam ihn eine unbezwingliche Furcht, und er war nicht imstande nach einer Stelle zu reiten, wo es gefährlich war.

Als er sich den Truppen des linken Flügels genähert hatte, ritt er nicht nach vorn, wo das Schießen stattfand, sondern er suchte den General und die übrigen Kommandeure da, wo sie nicht sein konnten, und bestellte daher den Befehl Bagrations gar nicht.

Das Kommando über den linken Flügel stand nach dem Dienstalter dem Kommandeur eben jenes Regimentes zu, welches bei Braunau von Kutusow besichtigt worden war und in welchem Dolochow als Gemeiner diente. Das Kommando über den äußersten Teil des linken Flügels war dem Kommandeur des Pawlograder Regimentes zugefallen, bei welchem Rostow stand. Hieraus ergaben sich arge Mißhelligkeiten. Die beiden Kommandeure befanden sich in sehr gereizter Stimmung gegeneinander, und zu der Zeit, als auf dem rechten Flügel der Artilleriekampf schon längst im Gange war und die französische Infanterie bereits zum Angriff vorrückte, waren diese beiden Kommandeure in einem Wortwechsel begriffen, dessen Zweck war, einander zu beleidigen. Ihre Regimenter aber, sowohl das Kavallerieregiment als auch das Infanterieregiment, waren für den bevorstehenden Kampf sehr wenig vorbereitet. Die Angehörigen dieser Regimenter, vom Gemeinen bis zum General, erwarteten keinen Kampf und beschäftigten sich in aller Seelenruhe mit friedlichen Dingen: die Kavallerie mit dem Füttern der Pferde, die Infanterie mit der Beschaffung von Brennholz.

»Er ist ja allerdings im Rang über mir«, sagte der deutsche Husarenoberst, vor Erregung errötend, zu dem Adjutanten, den der Infanteriegeneral zu ihm geschickt hatte. »Also mag er seinerseits tun, was er will. Aber meine Husaren kann ich nicht aufopfern. Trompeter! Blase zum Rückzug!«

Aber die Sache wurde brenzlig. Kanonenschüsse und Gewehrfeuer donnerten und knatterten bunt durcheinander vom rechten Flügel und vom Zentrum her, und die französischen Schützen des Marschalls Lannes in ihren Kapotmänteln hatten bereits den Damm des Mühlenteiches passiert und nahmen diesseits in doppelter Flintenschußweite Aufstellung. Der Kommandeur des Infanterieregiments ging mit seinem zuckenden Gang zu seinem Pferd, schwang sich hinauf, setzte sich sehr gerade und hoch aufgerichtet hin und ritt zu dem Pawlograder Kommandeur. Beide näherten sich einander mit höflichen Verbeugungen und mit heimlichem Ingrimm im Herzen.

»Ich muß mich noch einmal an Sie wenden, Oberst«, sagte der General. »Ich kann doch nicht die Hälfte meiner Leute im Wald umkommen lassen. Ich bitte Sie, ich bitte Sie«, sagte er noch einmal, »Ihre Stellung einzunehmen und sich zur Attacke fertigzumachen.«

»Und ich muß Sie bitten, sich nicht in Dinge zu mischen, die Sie nicht verstehen«, erwiderte der Oberst hitzig. »Wenn Sie Kavallerist wären ...«

»Kavallerist bin ich nicht, Oberst; aber ich bin russischer General, und wenn Ihnen das nicht bekannt sein sollte ...«

»Das ist mir sehr wohl bekannt, Euer Exzellenz«, schrie plötzlich der Oberst, welcher dunkelrot wurde und seinem Pferd die Sporen gab. »Haben Sie die Güte, sich mit mir in die Vorpostenlinie zu bemühen; dann werden Sie sehen, daß diese Position ganz ungeeignet ist. Ich habe keine Lust, mein Regiment zu Ihrem Vergnügen aufreiben zu lassen.«

»Sie vergessen sich, Oberst. Mein Vergnügen habe ich dabei nicht im Auge und lasse mir dergleichen von niemand sagen.«

Der General nahm die Einladung des Obersten zu einem Wettstreit in der Tapferkeit an; er drückte die Brust heraus, machte ein finsteres Gesicht und ritt mit ihm nach der Vorpostenkette hin, als ob ihre ganze Meinungsverschiedenheit dort, in der Vorpostenkette, im Kugelregen, mit Notwendigkeit zur Entscheidung kommen werde. Sie gelangten zu der Vorpostenkette; einige Kugeln flogen über sie weg, und sie hielten schweigend ihre Pferde an. Zu sehen war in der Vorpostenkette eigentlich nichts Besonderes, da es schon von der Stelle aus, wo sie vorher gestanden hatten, völlig klar gewesen war, daß auf dem von Buschwerk und Schluchten durchzogenen Terrain die Kavallerie nicht operieren konnte, und daß die Franzosen den linken Flügel umgingen. Der General und der Oberst blickten einander grimmig und bedeutsam an, wie zwei Hähne, die sich zum Kampf bereitmachen, und ein jeder wartete vergebens auf ein Anzeichen von Feigheit bei dem andern. Beide bestanden die Prüfung. Da weiter nichts zu sagen war und keiner dem andern Anlaß zu der Behauptung geben wollte, er sei zuerst aus dem Schußbereich weggeritten, so würden sie dort noch lange gehalten und wechselseitig ihre Tapferkeit erprobt haben, wenn nicht in diesem Augenblick im Wald, beinahe in ihrem Rücken, Gewehrknattern und wirres Durcheinanderschreien hörbar geworden wären. Die Franzosen hatten die Soldaten, die im Wald mit der Beschaffung von Brennholz beschäftigt waren, überfallen. Nunmehr war es den Husaren unmöglich, sich mit der Infanterie zusammen zurückzuziehen. Sie waren von der Rückzugslinie zur Linken durch die französische Vorpostenkette abgeschnitten. Jetzt also war, mochte das Terrain noch so ungeeignet sein, eine Attacke notwendig, um sich einen Weg zu bahnen.

Sowie die Eskadron, bei welcher Rostow diente, aufgesessen war, stellte sie sich sofort mit der Front nach dem Feind zu auf. Wieder, wie an der Ennsbrücke, befand sich niemand zwischen der Eskadron und dem Feind, und zwischen beiden lag, sie trennend, dieselbe furchtbare Linie der Ungewißheit und der Angst, gleichsam eine Linie, welche die Lebenden von den Toten trennt. Alle fühlten diese Linie, und die Frage, ob sie diese Linie überschreiten würden oder nicht, und wie sie sie überschreiten würden, versetzte alle in Erregung.

Der Oberst kam an die Front herangeritten, gab auf die Fragen der Offiziere ärgerlich Antwort und erteilte ihnen mit der Miene eines Menschen, der den Umständen zum Trotz auf seinem Willen bestehen möchte, einen Befehl. Etwas Bestimmtes hatte bei Rostows Eskadron noch niemand gesagt; aber die Leute redeten davon, daß wohl eine Attacke stattfinden werde. Es erscholl das Kommando: »Richt't euch!« Dann fuhren die Säbel rasselnd aus den Scheiden. Aber noch immer bewegte sich niemand von seinem Platz. Die Truppen des linken Flügels, sowohl die Infanterie als auch die Husaren, fühlten, daß ihre Kommandeure selbst nicht wußten, was sie tun sollten, und die Unentschlossenheit der Vorgesetzten teilte sich den Mannschaften mit.

»Nur schnell, nur schnell!« dachte Rostow, der sich sagte, daß nun endlich der Augenblick gekommen sei, wo er den Hochgenuß einer Attacke kennenlernen sollte, über den er von seinen Kameraden, den anderen Husaren, soviel gehört hatte.

»Mit Gott, Kinder!« erscholl Denisows Stimme. »Trab, Marsch!«

In der Reihe vor Rostow begannen die Kruppen der Pferde zu schaukeln. »Rabe« zog die Zügel aus und setzte sich von selbst in Bewegung.

Vorn und rechts sah Rostow die ersten Reihen der Husaren, und noch weiter nach vorn erblickte er eine dunkle Linie, die er nicht deutlich erkennen konnte, aber für den Feind hielt. Schüsse waren hörbar, aber in weiter Entfernung.

»Galopp!« erscholl das Kommando, und Rostow fühlte, wie sein »Rabe«, in Galopp fallend, das Hinterteil stärker hob.

Er hatte diese Bewegung vorhergesehen, und es wurde ihm nun immer fröhlicher und fröhlicher zumute. Er bemerkte nicht weit vor sich einen einzelnen Baum. Dieser Baum hatte sich anfangs vor ihm mitten auf der Linie befunden, die ihm so furchtbar erschienen war. Und nun überschritten sie diese Linie bereits, und es war nicht nur nichts Furchtbares da, sondern es war im Gegenteil alles immer vergnüglicher und munterer geworden. »Oh, wie ich auf den Feind einhauen werde!« dachte Rostow und preßte die Hand fest um den Griff seines Säbels.

»Hur-r-a-a-a!!« brauste dumpf der vielstimmige Ruf. »Wehe dem, der mir jetzt vor die Klinge kommt!« dachte Rostow, gab dem »Raben« die Sporen und setzte ihn, die andern überholend, in volle Karriere. Vorn war bereits der Feind zu sehen. Auf einmal war es, als ob die Eskadron mit einem breiten Rutenbesen einen Schlag erhielte. Rostow hob den Säbel in die Höhe und machte sich zum Einhauen fertig; aber in diesem Augenblick entstand zwischen ihm und dem vor ihm galoppierenden Husaren Nikitenko ein Zwischenraum, und Rostow hatte wie im Traum eine Empfindung, als ob er fortführe, sich mit gewaltiger Schnelligkeit vorwärts zu bewegen, und dabei doch an demselben Fleck bliebe. Von hinten stieß der ihm wohlbekannte Husar Bondartschuk im Galopp gegen ihn und warf ihm einen grimmigen Blick zu. Bondartschuks Pferd scheute einen Augenblick, dann jagte sein Reiter auf ihm vorbei.

 

»Wie geht es denn zu, daß ich nicht vorwärts komme? Ich bin gestürzt, ich bin getötet!« so fragte sich Rostow, und so beantwortete er in demselben Augenblick seine Frage. Er war bereits allein mitten im Feld. Statt der dahinsprengenden Pferde und der Rücken der Husaren sah er rings um sich den unbeweglichen Erdboden und das mit Stoppeln bedeckte Feld. Warmes Blut war unter ihm. »Nein, ich bin nur verwundet, und das Pferd ist getötet.« »Rabe« machte einen Versuch, sich auf die Vorderfüße zu erheben, fiel aber wieder nieder und quetschte dabei seinem Reiter das Bein. Aus dem Kopf des Pferdes rann Blut; das Tier schlug mit den Füßen um sich und war nicht imstande aufzustehen. Rostow wollte sich erheben, fiel aber gleichfalls wieder hin: seine Säbeltasche hatte sich am Sattel festgehakt. Wo die Unsrigen waren, wo die Franzosen waren, das wußte er nicht. Rings um ihn war niemand.

Nachdem er sein Bein freigemacht hatte, richtete er sich auf. »Wo, auf welcher Seite ist jetzt die Linie, die die beiderseitigen Truppen so scharf voneinander schied?« fragte er sich, konnte aber diese Frage nicht beantworten. »Ist mir etwas Schlimmes zugestoßen? Kommt so etwas öfter vor, und was muß man in solchen Fällen tun?« fragte er sich, während er aufstand, und fühlte in diesem Augenblick, daß etwas Überflüssiges an seinem linken, taub gewordenen Arm hing. Seine Hand kam ihm wie etwas Fremdes vor. Er besah den Arm von allen Seiten und suchte vergebens an ihm Blut. »Na, da kommen ja Leute«, dachte er erfreut, als er einige Menschen erblickte, die auf ihn zugelaufen kamen. »Die werden mir helfen!« Der vorderste von diesen Leuten war ein Mensch mit einem sonderbaren Tschako und einem blauen Mantel, mit schwarzem Haar, gebräuntem Gesicht und gebogener Nase. Hinter ihm liefen noch zwei und dann noch eine ganze Anzahl. Einer von ihnen rief etwas Fremdartiges, das kein Russisch war. In einer weiter hinten befindlichen Gruppe ebensolcher Leute mit ebensolchen Tschakos stand ein einzelner russischer Husar. Ein paar hielten ihn bei den Armen gefaßt; hinter ihm hielten andere sein Pferd.

»Gewiß ist das einer von den Unsrigen, den sie gefangengenommen haben ... Ja. Ob sie wirklich auch mich gefangennehmen werden? Was sind das für Leute?« dachte Rostow weiter, der seinen Augen gar nicht traute. »Sind das wirklich Franzosen?« Er blickte nach den herankommenden Franzosen hin, und obwohl er wenige Augenblicke vorher nur in der Absicht dahingejagt war, diese Franzosen zu erreichen und niederzuhauen, erschien ihm ihre Nähe jetzt doch so schrecklich, daß er glaubte, seine Augen täuschten ihn. »Was sind das für Menschen? Warum laufen sie so? Haben sie es wirklich auf mich abgesehen? Und was wollen sie von mir? Wollen sie mich töten? Mich, den alle Menschen so lieb haben?« Es kam ihm die Erinnerung, wie lieb seine Mutter, seine übrigen Angehörigen, seine Freunde ihn hätten, und eine Absicht der Feinde, ihn zu töten, erschien ihm als etwas ganz Unmögliches. »Aber vielleicht wollen sie mich doch töten!« Er stand länger als zehn Sekunden da, ohne sich vom Fleck zu rühren und ohne zu einem Verständnis seiner Lage zu gelangen. Der vorderste Franzose, der mit der gebogenen Nase, kam jetzt so nahe an ihn herangelaufen, daß Rostow bereits seinen Gesichtsausdruck unterscheiden konnte. Und die erregte, fremdartige Physiognomie dieses Menschen, der mit gefälltem Bajonett, den Atem anhaltend, leichten Ganges auf ihn zugelaufen kam, flößte dem jungen Rostow einen furchtbaren Schreck ein. Er griff nach seiner Pistole; aber statt sie abzufeuern, warf er damit nach dem Franzosen und lief, so schnell er nur konnte, auf das Gebüsch zu. Er lief nicht mit jenem Gefühl des Zweifels und inneren Kampfes, mit dem er auf die Ennsbrücke gegangen war, sondern mit dem Gefühl des Hasen, der vor den Hunden davonläuft. Das eine einzige, ungemischte Gefühl der Furcht für sein junges, glückliches Leben erfüllte seine ganze Seele. Schnell über die Grenzraine springend, mit derselben Hast, mit der er als Knabe gelaufen war, wenn sie Greifen spielten, flog er über das Feld dahin; ab und zu wandte er sein blasses, gutes, jugendliches Gesicht zurück, und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Nein, ich will mich lieber nicht umsehen«, dachte er; aber als er dem Gebüsch nahe gekommen war, wandte er sich doch noch einmal um. Die Franzosen waren zurückgeblieben, und in dem Augenblick, als Rostow sich umsah, hatte der vorderste sogar soeben aufgehört zu laufen, ging im Schritt weiter und rief, sich umdrehend, dem hinter ihm gehenden Kameraden laut etwas zu. Rostow blieb stehen. »Es ist doch wohl nicht so«, dachte er; »unmöglich können sie mich töten wollen.« Aber unterdessen war ihm der linke Arm so schwer geworden, als ob ein gewaltiges Bleigewicht daran hinge. Er war nicht imstande weiterzulaufen. Der Franzose blieb gleichfalls stehen und zielte. Rostow kniff die Augen zusammen und bückte sich. Eine Kugel flog summend an ihm vorbei, dann eine zweite. Er nahm seine letzten Kräfte zusammen, hielt den linken Arm mit dem rechten fest und lief vollends bis an das Gebüsch. In dem Gebüsch standen russische Schützen.

XX

Die im Wald überfallenen Infanterieregimenter waren fliehend aus dem Wald herausgestürzt, und die Mannschaften der einzelnen Kompanien waren durcheinandergeraten und zogen in unordentlichen Haufen weiter. Einer der Soldaten stieß in seiner Angst die im Krieg so schrecklichen, in diesem Fall sinnlosen Worte: »Wir sind abgeschnitten!« aus, und diese Worte verbreiteten sich, zusammen mit dem Gefühl der Furcht, durch die ganze Masse der Fliehenden.

»Wir sind umgangen! Wir sind abgeschnitten! Wir sind verloren!« riefen sie durcheinander.

In demselben Augenblick, als der Regimentskommandeur das Schießen und Schreien hinter sich hörte, war er sich auch darüber klar, daß mit seinem Regiment etwas Schreckliches geschehen sei, und der Gedanke, daß er, ein musterhafter Offizier, der so viele Jahre gedient und sich nie etwas hatte zuschulden kommen lassen, von seinem Vorgesetzten der Nachlässigkeit oder eines Mangels an Umsicht schuldig befunden werden könne, dieser Gedanke wirkte auf ihn so gewaltig, daß er in demselben Augenblick den ungehorsamen Kavallerieobersten und seine Generalswürde und namentlich auch die Gefahr und den Selbsterhaltungstrieb vollständig vergaß, sich am Sattelbogen festhielt, seinem Pferd die Sporen gab und unter einem Hagel von Kugeln, die ihm um den Kopf pfiffen, ihn aber glücklicherweise nicht trafen, zu seinem Regiment hinjagte. Er hatte nur einen Wunsch: zu erfahren, was geschehen war, und zu helfen und um jeden Preis den Fehler, wenn ein solcher auf seiner Seite war, wiedergutzumachen und, nachdem er zweiundzwanzig Jahre gedient und nie einen Verweis erhalten hatte, sondern allen ein Vorbild gewesen war, nun nicht als Schuldiger dazustehen.

Nachdem er glücklich an den Franzosen vorbeigaloppiert war, sprengte er nach dem hinter dem Wald gelegenen Feld, über welches die Unsrigen flüchteten und, ohne auf ein Kommando zu hören, bergab liefen. Es war jetzt jener Moment seelischen Schwankens gekommen, der das Schicksal der Schlachten entscheidet, und die Frage war: Werden diese in Unordnung geratenen Soldatenhaufen auf die Stimme ihres Kommandeurs hören, oder werden sie sich nach ihm nur umsehen und doch weiterlaufen? Aber mochte der vorher von den Soldaten so gefürchtete Kommandeur sie mit grimmiger Stimme noch so verzweifelt anschreien, mochte sein wütendes, blaurotes, ganz entstelltes Gesicht noch so drohend aussehen, mochte er noch so wild mit dem Degen in der Luft umherfahren: die Soldaten liefen sämtlich weiter, redeten untereinander, schossen in die Luft und hörten auf kein Kommando. Das seelische Schwanken, welches das Schicksal der Schlachten entscheidet, hatte hier augenscheinlich einen Ausschlag nach der Seite der Furcht hin zum Resultat gehabt.

Der General geriet infolge seines Schreiens und des Pulverdampfes ins Husten hinein und hielt in voller Verzweiflung sein Pferd an. Alles schien verloren. Aber in diesem Augenblick liefen die Franzosen, die den Unsrigen nachsetzten, auf einmal ohne erkennbare Ursache zurück und verschwanden aus dem Bereich des Waldes, und im Wald zeigten sich russische Schützen. Es war dies die Kompanie Timochins, die als die einzige sich im Wald in guter Ordnung gehalten, sich am Wald in einen Graben gelegt und die Franzosen unerwartet angegriffen hatte. Timochin war mit so wütendem Geschrei auf die Franzosen losgestürzt und hatte sich wie ein Trunkener mit einer so rasenden Kühnheit, nur den Degen in der Hand, auf den Feind geworfen, daß die Franzosen gar nicht zur Besinnung kamen, sondern ihre Gewehre wegwarfen und davonliefen. Dolochow, der bei diesem Angriff neben Timochin gelaufen war, hatte einen Franzosen aus nächster Nähe getötet und als der erste einen französischen Offizier am Kragen gepackt, der sich dann ergeben mußte. Nun kehrten die fliehenden Russen um, die Bataillone sammelten sich wieder, und die Franzosen, die den linken Flügel beinahe in zwei Teile auseinandergesprengt hatten, wurden für einen Augenblick zurückgedrängt. Die Reserveabteilungen hatten nun Zeit heranzukommen. Der Regimentskommandeur hielt mit Major Ekonomow an einer Brücke und ließ die abziehenden Kompanien an sich vorübermarschieren, als ein Soldat an ihn herantrat, seinen Steigbügel erfaßte und sich beinahe gegen sein Bein lehnte. Der Soldat trug einen bläulichen Mantel von feinem Tuch, keinen Tornister und keinen Tschako; um den Kopf hatte er einen Notverband; über der Schulter hing ihm eine französische Patronentasche; in der Hand hielt er einen Offiziersdegen. Der Soldat saß blaß aus; seine blauen Augen blickten dem Regimentskommandeur frech ins Gesicht; aber sein Mund lächelte. Obgleich der Regimentskommandeur gerade damit beschäftigt war, dem Major Ekonomow einen Befehl zu erteilen, sah er sich genötigt, diesem Soldaten seine Aufmerksamkeit zuzuwenden.

»Euer Exzellenz, hier sind zwei Trophäen«, sagte Dolochow, indem er auf den französischen Degen und die französische Patronentasche wies. »Ich habe einen Offizier zum Gefangenen gemacht. Ich habe die Kompanie zum Stehen gebracht.« Dolochow konnte vor Erschöpfung nur mühsam Atem holen und sprach in einzelnen Absätzen. »Die ganze Kompanie kann es bezeugen. Ich bitte Euer Exzellenz, sich dessen zu erinnern!«

»Gut, gut!« antwortete der Regimentskommandeur und wandte sich wieder zum Major Ekonomow.

Aber Dolochow ging noch nicht weg; er band das Tuch, das er um den Kopf trug, auf, nahm es ab und zeigte auf das geronnene Blut in seinem Haar.

»Eine Wunde von einem Bajonettstich; aber ich bin trotzdem in der Front geblieben. Erinnern Sie sich dessen, Euer Exzellenz!«

Tuschins Batterie war vergessen worden, und erst ganz am Ende des Kampfes schickte Fürst Bagration, als er die noch immer fortdauernde Kanonade im Zentrum hörte, den Stabsoffizier du jour und dann den Fürsten Andrei hin, mit dem Befehl an die Batterie, sie solle sich so schnell wie möglich zurückziehen. Die Bedeckung, die bei Tuschins Kanonen gestanden hatte, war mitten im Kampf auf irgend jemandes Befehl hin abmarschiert; aber die Batterie fuhr fort zu feuern und wurde nur deswegen von den Franzosen nicht genommen, weil der Feind nicht annehmen konnte, daß da vier völlig ungeschützte Kanonen die Dreistigkeit haben könnten, ihn so lange zu beschießen. Wegen der energischen Tätigkeit dieser Batterie war der Feind vielmehr des Glaubens, hier im Zentrum seien die Hauptstreitkräfte der Russen konzentriert, und versuchte zweimal diesen Punkt anzugreifen, wurde aber beidemal durch das Kartätschenfeuer der auf dieser Anhöhe vereinsamt dastehenden vier Geschütze zurückgetrieben.

Bald nachdem Fürst Bagration weggeritten war, war es dem Hauptmann Tuschin gelungen, das Dorf Schöngrabern in Brand zu schießen.

»Seht nur, wie sie durcheinanderkribbeln! Es brennt! Sieh mal den Rauch! Das war geschickt! Vorzüglich! Nein, der Rauch, der Rauch!« redete die Bedienungsmannschaft in lebhafter Erregung.

Alle Geschütze waren ohne Befehl auf die Feuersbrunst gerichtet. Als wenn sie einander antreiben wollten, schrien die Artilleristen bei jedem Schuß: »Das war geschickt! So ist's recht, so ist's recht! Siehst du wohl ... Ausgezeichnet!« Das Feuer, vom Wind weitergetragen, breitete sich schnell aus. Die französischen Kolonnen, welche schon aus dem Dorf herausmarschiert waren, zogen sich wieder zurück. Aber wie wenn er sich für diese arge Schädigung rächen wollte, stellte der Feind rechts vom Dorf zehn Geschütze auf und begann aus ihnen auf Tuschin zu feuern.

In ihrer kindlichen Freude über die Feuersbrunst und in ihrem Eifer, recht tüchtig in die Franzosen hineinzupfeffern, bemerkten unsere Artilleristen diese Batterie erst dann, als zwei Kugeln und nach diesen noch vier andere zwischen den Geschützen einschlugen, von denen eine zwei Pferde niederwarf und eine andre einem Munitionsfahrer das Bein wegriß. Aber das lebhafte Treiben, das nun einmal in Gang gekommen war, wurde dadurch nicht beeinträchtigt; es erhielt nur eine andre Stimmung. Die Artilleristen ersetzten die Pferde durch andre von einer Reservelafette, trugen den Verwundeten beiseite und wendeten ihre vier Geschütze gegen die zehn Kanonen der feindlichen Batterie. Der andere Offizier, Tuschins Kamerad, fiel gleich zu Anfang dieses Artilleriekampfes, und im Verlauf einer Stunde wurden von den vierzig Mann der Bedienung siebzehn kampfunfähig; aber die übrigen blieben ebenso munter und eifrig, wie sie vorher gewesen waren. Zweimal bemerkten sie, daß nicht weit von ihnen, unten am Fuß des Berges, sich Franzosen zeigten, und beschossen sie dann mit Kartätschen.

 

Der kleine Mann mit den schwächlichen, ungeschickten Bewegungen ließ sich fortwährend von seinem Burschen »noch ein Pfeifchen bei der Arbeit« geben, wie er sich ausdrückte, und dann lief er nach vorn, wobei er in seinem Eifer das Feuer aus der Pfeife wieder verschüttete, und sah unter seiner kleinen Hand hervor nach den Franzosen hinüber.

»Feuer, Kinder!« kommandierte er einmal nach dem andern und griff selbst mit in die Räder der Geschütze und drehte die Schrauben auf.

Mitten in dem Pulverdampf, halbtaub von den unaufhörlichen Schüssen, bei denen er jedesmal zusammenzuckte, lief Tuschin, ohne sein Stummelpfeifchen aus dem Mund zu lassen, von einem Geschütz zum andern, indem er bald visierte, bald die Ladungen zählte, bald die Beseitigung getöteter und verwundeter Pferde und die Anschirrung anderer anordnete, und mit seiner schwachen, hohen, unsicheren Stimme dabei schrie. Sein Gesicht wurde immer munterer und lebhafter. Nur wenn jemand von seinen Leuten getötet oder verwundet wurde, machte Tuschin ein finsteres Gesicht, wandte sich von dem Getroffenen ab und schrie zornig die Mannschaften an, die, wie sie das immer tun, zauderten, den Verwundeten oder den Leichnam aufzuheben. Die Soldaten, größtenteils hübsche, stramme Burschen (wie das bei der Artillerie immer der Fall ist), zwei Köpfe größer und noch einmal so breit als ihr Hauptmann, blickten, wie Kinder in schwieriger Lage, alle auf ihren Kommandeur, und der Ausdruck, den sein Gesicht zeigte, spiegelte sich unverändert auf den ihrigen wider.

Infolge dieses furchtbaren Lärmes und Getöses und der Notwendigkeit, aufzupassen und tätig zu sein, verspürte Tuschin nicht das geringste unangenehme Gefühl von Furcht, und der Gedanke, daß er getötet oder schwer verwundet werden könne, kam ihm gar nicht in den Sinn. Im Gegenteil, es wurde ihm immer fröhlicher zumute. Der Augenblick, wo er den Feind zuerst gesehen und den ersten Schuß abgefeuert hatte, schien ihm schon weit zurückzuliegen, beinah als ob es gestern gewesen wäre, und das Stückchen Feld, auf dem er hier postiert war, kam ihm wie ein längst bekannter, vertrauter Platz vor. Obgleich er an alles Nötige dachte, alles richtig erwog und alles tat, was nur der beste Offizier in seiner Lage tun konnte, befand er sich doch in einem Zustand, der mit dem eines Fieberkranken oder Berauschten Ähnlichkeit hatte.

Aus dem betäubenden Donner seiner Geschütze, der bald rechts, bald links von ihm erscholl, aus dem Pfeifen und Einschlagen der feindlichen Geschosse, aus dem Anblick seiner Mannschaft, die mit geröteten, schweißbedeckten Gesichtern hastig an den Geschützen hantierte, aus dem Anblick des Blutes der Menschen und der Pferde, aus dem Anblick der Rauchwölkchen bei der Batterie des drüben stehenden Feindes (nach deren Erscheinen jedesmal eine Kugel herübergeflogen kam und entweder sich in den Erdboden einbohrte oder einen Menschen, ein Geschütz oder ein Pferd traf), aus alledem hatte er sich in seinem Kopf eine Art von Phantasiewelt zurechtgemacht, an der er in dieser Zeit seine Freude hatte. Die feindlichen Kanonen waren in seiner Phantasie nicht Kanonen, sondern Tabakspfeifen, aus denen ein unsichtbarer Raucher in einzelnen Wölkchen den Rauch in die Luft gehen ließ.

»Sieh mal, da hat er wieder einen Zug getan«, flüsterte Tuschin vor sich hin, als von dem gegenüberliegenden Berg ein Rauchwölkchen aufstieg und durch den Wind in Form eines Streifens nach links getrieben wurde. »Jetzt haben wir so einen kleinen Ball zu erwarten und müssen auch einen zurückwerfen.«

»Was befehlen Euer Wohlgeboren?« fragte der Feuerwerker, der neben ihm stand und hörte, daß er etwas murmelte.

»Ach, nichts Besonderes; nimm eine Granate ...«, antwortete er.

»Na, nun kommt unsere Matwjewna heran«, sagte er vor sich hin. Matwjewna hatte er in seiner Phantasie eine große Kanone von altmodischem Guß getauft, die an dem einen Ende der Batterie stand. Die Franzosen bei ihren Geschützen erschienen ihm als Ameisen. Der Kanonier Nummer Eins beim zweiten Geschütz, ein hübscher Bursche und arger Trunkenbold, hieß in Tuschins Welt »der Onkel«; Tuschin blickte nach ihm häufiger hin als nach den andern Leuten und freute sich über jede seiner Bewegungen. Der Klang des bald ersterbenden, bald wieder stärker werdenden Gewehrfeuers am Fuß des Berges erschien ihm wie das Atmen eines Menschen, und er horchte darauf, wie diese Töne leiser wurden und wieder anschwollen.

»Sieh mal an, jetzt atmet er wieder kräftig, recht kräftig!« sagte er vor sich hin.

Er selbst kam sich wie ein starker Riese vor, der den Franzosen mit beiden Händen Kanonenkugeln zuschleuderte.

»Nun, Matwjewna, Mütterchen, laß es nicht an dir fehlen!« sagte er, von dem Geschütz zurücktretend, als dicht über ihm eine fremde, ihm unbekannte Stimme erscholl:

»Hauptmann Tuschin! Hauptmann!«

Erschrocken sah Tuschin sich um. Es war derselbe Stabsoffizier, der ihn in Grund aus dem Marketenderzelt herausgejagt hatte. Dieser schrie ihm atemlos zu:

»Was machen Sie denn? Haben Sie den Verstand verloren? Zweimal ist Ihnen befohlen worden, sich zurückzuziehen, aber Sie ...«

»Na, warum schilt der mich denn?« dachte Tuschin und sah den Vorgesetzten ängstlich an.

»Ich ... ich habe nichts ...«, stotterte er, indem er zwei Finger an den Mützenschirm hielt. »Ich ...«

Der Oberst wollte noch etwas sagen, kam aber nicht dazu, es auszusprechen. Eine in nächster Nähe vorbeifliegende Kanonenkugel veranlaßte ihn, sich zu ducken und auf das Pferd hinabzubiegen. Er schwieg und wollte gerade von neuem ansetzen, als noch eine Kugel ihn einhalten ließ. Er wandte sein Pferd um und jagte davon.

»Zurückgehen! Alle zurückgehen!« rief er von weitem.

Die Soldaten lachten laut auf. Eine Minute darauf kam ein Adjutant mit demselben Befehl angesprengt.

Dies war Fürst Andrei. Das erste, was er erblickte, als er auf das Plateau geritten kam, auf welchem Tuschins Kanonen standen, war ein ausgespanntes Pferd mit durchschossenem Bein, das neben den angespannten Pferden wieherte. Aus seinem Bein floß das Blut wie aus einer Quelle. Zwischen den Protzwagen lagen mehrere Tote. Während er heranritt, flog eine Kanonenkugel nach der andern über ihm vorbei, und er fühlte, wie ihm ein nervöses Zittern den Rücken entlanglief. Aber der bloße Gedanke, daß er ja Furcht habe, genügte, um seinen Mut wiederzubeleben. »Ich, ein Mann wie ich, darf keine Furcht haben«, sagte er sich und stieg zwischen den Geschützen langsam vom Pferd. Er überbrachte den Befehl, ritt aber dann nicht von der Batterie weg. Er hatte den Entschluß gefaßt, persönlich zuzusehen, wie die Geschütze ihre Stellung verließen und sich zurückzogen. Mit Tuschin zusammen trat er über die Leichen hinweg und ließ unter dem furchtbaren Feuer der Franzosen die Geschütze zum Rückzug fertigmachen.