Krieg und Frieden

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XVII

Fürst Andrei hielt zu Pferd bei der Batterie und spähte nach dem Rauch des Geschützes, aus dem die Kugel abgefeuert war. Er ließ seine Augen in dem weiten Raum umherschweifen. Er sah nur, daß die vorher an ihren Plätzen verharrenden Massen der Franzosen in Bewegung geraten waren, und daß sich zur Linken tatsächlich eine Batterie befand. Von hier war der Schuß gekommen: das Rauchwölkchen über der Batterie hatte sich noch nicht verteilt. Zwei französische Reiter, wahrscheinlich Adjutanten, sprengten auf der Anhöhe einher. Eine deutlich erkennbare kleine feindliche Abteilung marschierte bergab, wohl zur Verstärkung der Vorpostenkette. Noch hatte sich der Rauch von dem ersten Schuß nicht verzogen, als ein zweites Rauchwölkchen sich zeigte und ein Schuß ertönte. Der Kampf begann. Fürst Andrei wandte sein Pferd und ritt in scharfem Tempo nach Grund zurück, um den Fürsten Bagration aufzusuchen. Er hörte, wie hinter ihm die Kanonade häufiger und lauter wurde. Offenbar hatten die Unsrigen angefangen zu antworten. Unten, in der Gegend, wo am Vormittag die Parlamentäre erschienen waren, erscholl Gewehrfeuer.

Sowie Lemarrois mit dem streng tadelnden Brief Bonapartes nach scharfem Ritt bei Murat eingetroffen war, setzte Murat, der sich schämte und seinen Fehler wiedergutmachen wollte, seine Truppen sofort zum Angriff auf das Zentrum und zur Umgehung der beiden Flügel in Bewegung, in der Hoffnung, es werde ihm noch vor dem Abend und vor der Ankunft des Kaisers gelingen, die unbedeutende Abteilung, die ihm gegenüberstand, zu erdrücken.

»Es hat angefangen! Nun ist es da!« dachte Fürst Andrei und fühlte, wie ihm das Blut in größeren Wellen zum Herzen strömte. »Aber wo und wie wird sich mein Toulon zeigen?«

Während er zwischen den Kompanien dahinritt, die noch vor einer Viertelstunde ihre Grütze gegessen und ihren Schnaps getrunken hatten, sah er überall die gleichen, schnellen Bewegungen der sich aufstellenden und ihre Gewehre bereitmachenden Soldaten und erkannte auf allen Gesichtern das gleiche Gefühl lebhafter Erregung, von dem sein eigenes Herz erfüllt war. »Es hat angefangen! Nun ist es da! Furchtbar und lustig zugleich!« stand gleichsam auf dem Gesicht jedes Soldaten und Offiziers geschrieben.

Er hatte die im Bau begriffene Verschanzung noch nicht erreicht, als er in der abendlichen Beleuchtung des trüben Herbsttages eine Anzahl von Reitern erblickte, die ihm entgegenkamen. Der vorderste, der einen Filzmantel und eine Mütze mit einem Besatz von Lämmerfell trug, ritt einen Schimmel. Dies war Fürst Bagration. Fürst Andrei machte halt und erwartete ihn. Fürst Bagration hielt gleichfalls sein Pferd einen Augenblick an, und als er den Fürsten Andrei erkannte, nickte er ihm mit dem Kopf zu. Er fuhr fort, gerade vor sich hin zu blicken, während Fürst Andrei ihm berichtete, was er gesehen hatte.

Der Gedanke: »Es hat angefangen! Nun ist es da!« war auch auf dem festen, braunen Gesicht des Fürsten Bagration mit den halbgeschlossenen, trüben, verschlafenen Augen zu lesen. Mit besorgter Neugier betrachtete Fürst Andrei dieses regungslose Gesicht und hätte gern gewußt, ob dieser Mann in diesem Augenblick etwas dachte und fühlte, und was er dachte und fühlte. »Geht überhaupt hinter diesem regungslosen Gesicht irgendeine Geistesarbeit vor?« fragte sich Fürst Andrei, während er ihn ansah. Fürst Bagration neigte den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses mit dem, was ihm Fürst Andrei dargelegt hatte, und sagte: »Gut, gut!« mit einer Miene, als ob alles, was vorging und was ihm mitgeteilt wurde, genau das sei, was er bereits vorhergesehen habe. Fürst Andrei, der von dem schnellen Ritt außer Atem gekommen war, hatte hastig geredet. Fürst Bagration dagegen brachte jene Worte mit seiner orientalischen Aussprache ganz besonders langsam heraus, wie wenn er hervorheben wollte, daß zur Eile kein Anlaß sei. Indessen setzte er doch sein Pferd in Trab, und zwar in Richtung auf die Batterie Tuschins zu. Fürst Andrei ritt mit der Suite hinter ihm her. Die Suite bildeten ein Offizier à la suite, der persönliche Adjutant des Fürsten, Scherkow, ein Ordonnanzoffizier, der Stabsoffizier du jour auf einem hübschen anglisierten Pferd und ein Zivilbeamter, ein Auditeur, der sich aus Neugierde die Erlaubnis erbeten hatte, mit ins Treffen reiten zu dürfen. Der Auditeur, ein wohlbeleibter Mann mit vollem Gesicht, sah sich mit einem naiven, fröhlichen Lächeln nach allen Seiten um, schwankte auf seinem Pferd hin und her und bot in seinem Kamelotmantel auf einem Trainsattel mitten unter den Husaren, Kosaken und Adjutanten einen höchst sonderbaren Anblick.

»Er möchte sich gern den Kampf mit ansehen«, sagte Scherkow zu Bolkonski, indem er auf den Auditeur zeigte. »Aber er hat jetzt schon Herzbeklemmungen.«

»Ach, was Sie alles reden!« entgegnete der Auditeur mit einem strahlenden, naiven und gleichzeitig schlauen Lächeln, als wenn er sich geschmeichelt fühlte, als Stichblatt für Scherkows Späße zu dienen, und als wenn er sich absichtlich Mühe gäbe, dümmer zu scheinen, als er wirklich war.

»Ein schnurriger Kauz, mon monsieur prince«, sagte der Stabsoffizier du jour. Er erinnerte sich, daß im Französischen bei der Anrede mit dem Titel Fürst irgendein besonderer Sprachgebrauch zu beachten sei, konnte aber damit nicht zurechtkommen.

In diesem Augenblick waren sie alle bereits der Tuschinschen Batterie nahe gekommen, und vor ihnen schlug gerade eine Kanonenkugel ein.

»Was ist dahingefallen?« fragte naiv lächelnd der Auditeur.

»Ein französischer Pfannkuchen«, antwortete Scherkow.

»Also mit solchen Dingern wird geschossen?« fragte der Auditeur. »Eine sonderbare Passion!«

Er schien gar nicht zu wissen, wo er sich vor Vergnügen lassen sollte. Kaum hatte er ausgeredet, als plötzlich wieder ein furchtbares Pfeifen ertönte, das auf einmal wie mit einem Schlag in etwas Feuchtes, Weiches abbrach, und sch-sch-sch-schwapp ein Kosak, der ein wenig rechts hinter dem Auditeur ritt, mit seinem Pferd zu Boden stürzte. Scherkow und der Stabsoffizier du jour bückten sich über ihre Sättel und wandten ihre Pferde weg. Der Auditeur hielt vor dem Kosaken an und betrachtete ihn mit neugieriger Aufmerksamkeit. Der Kosak war tot, das Pferd schlug noch mit den Beinen.

Fürst Bagration drehte sich, die Augen zusammenkneifend, um, und als er die Ursache der eingetretenen Verwirrung erkannte, wandte er sich gleichmütig wieder ab, wie wenn er sagen wollte: »Ich habe keine Lust, mich mit euren Dummheiten abzugeben!« Dann hielt er mit dem geschickten Griff eines guten Reiters sein Pferd an, bog sich etwas zur Seite und brachte seinen Degen in Ordnung, der sich in den Filzmantel verwickelt hatte. Es war ein altertümlicher Degen, nicht von der Art, wie sie damals getragen wurden. Fürst Andrei erinnerte sich an eine Erzählung, Suworow habe in Italien seinen Degen dem Fürsten Bagration geschenkt, und diese Erinnerung erschien ihm in diesem Augenblick besonders reizvoll. Sie gelangten nun zu eben der Batterie, bei der Bolkonski kurz vorher gestanden und das Terrain des bevorstehenden Kampfes betrachtet hatte.

»Wer kommandiert die Batterie?« fragte Fürst Bagration den Feuerwerker, der bei den Munitionskästen stand.

Er hatte gefragt: »Wer kommandiert die Batterie?«, aber der eigentliche Sinn seiner Frage war: »Ihr werdet hier doch keine Furcht haben?« Und das fühlte auch der Feuerwerker richtig heraus.

»Hauptmann Tuschin, Euer Exzellenz!« rief der rothaarige, im Gesicht ganz mit Sommersprossen bedeckte Feuerwerker in munterem Ton.

»Richtig, richtig«, sagte Bagration, wie wenn er nachdächte, und ritt an den Protzen vorbei zu dem letzten Geschütz.

In dem Augenblick, als er herankam, donnerte aus diesem Geschütz ein Schuß, der ihn und seine Suite für einen Moment betäubte, und man sah in dem Rauch, der das Geschütz plötzlich umgab, die Artilleristen, die die Kanone packten und mit eiliger Anstrengung wieder auf den früheren Platz schoben. Der breitschultrige, herkulisch gebaute Soldat Nummer Eins mit dem Stückwischer sprang, die Beine weit auseinander spreizend, zum Rad zurück. Nummer Zwei schob mit zitternder Hand die Ladung in den Lauf. Eine kleine Gestalt mit gebückter Haltung, der Hauptmann Tuschin, kam, über den Lafettenschwanz stolpernd, nach vorn gelaufen, ohne den General zu bemerken, und blickte unter seiner kleinen Hand weg nach dem Ziel hin.

»Gib noch zwei Linien zu; dann wird es genau stimmen!« rief er mit seiner hohen, dünnen Stimme, der er einen zu seiner Gestalt nicht passenden, mannhaften Klang zu geben versuchte. »Zweites Geschütz!« rief er in quiekendem Ton. »Medwjedjew, Feuer!«

Bagration rief den Hauptmann an, und dieser trat zu dem General heran, wobei er mit einer verlegenen, ungeschickten Bewegung, ganz und gar nicht in der Weise, wie Militärpersonen zu salutieren pflegen, sondern eher ähnlich wie Geistliche den Segen erteilen, drei Finger an den Mützenschirm legte. Obwohl Tuschins Geschütze eigentlich dazu bestimmt waren, das Tal zu bestreichen, beschoß er mit Brandkugeln das gegenüberliegende Dorf Schöngrabern, aus welchem große Massen von Franzosen herausströmten.

Wohin er feuern solle und mit welcher Art von Geschossen, darüber hatte Tuschin von niemandem Befehl erhalten; sondern er hatte sich mit seinem Feldwebel Sachartschenko, vor dessen Sachkenntnis er großen Respekt hatte, beraten und war zu der Ansicht gelangt, daß es zweckmäßig sei, das Dorf in Brand zu schießen. »Gut!« sagte Bagration auf den Rapport des Hauptmanns und betrachtete das ganze, offen vor ihm daliegende Schlachtfeld, wie wenn er etwas überlegte. Auf der rechten Seite waren die Franzosen näher herangekommen als anderwärts. Unterhalb der Anhöhe, auf der das Kiewer Regiment stand, im Tal des Baches ertönte ein beängstigendes, ununterbrochen knatterndes Gewehrfeuer, und noch erheblich weiter rechts, über die Dragoner hinaus, machte der Offizier à la suite den Fürsten auf eine französische Kolonne aufmerksam, die unsern Flügel umging. Zur Linken war die Aussicht durch den nahen Wald beschränkt. Fürst Bagration gab Befehl, daß zwei Bataillone aus dem Zentrum zur Verstärkung nach rechts gehen sollten. Der Offizier à la suite wagte es, dem Fürsten gegenüber das Bedenken zu äußern, daß bei dem Abzug dieser Bataillone die Geschütze ohne Bedeckung bleiben würden. Fürst Bagration wandte sich zu dem Offizier à la suite um und blickte ihn mit seinen trüben Augen schweigend an. Fürst Andrei war der Ansicht, daß die Bemerkung des Offiziers à la suite durchaus zutreffend sei, und daß sich wirklich nichts darauf erwidern lasse. Aber in diesem Augenblick kam ein Adjutant von dem im Tal stehenden Regimentskommandeur herbeigaloppiert mit der Meldung, daß gewaltige Massen von Franzosen hinabgestiegen seien, daß das Regiment stark gelitten habe und sich zu den Kiewer Grenadieren zurückziehe. Fürst Bagration neigte den Kopf zum Zeichen des Einverständnisses und der Billigung. Im Schritt ritt er nach rechts und schickte den Adjutanten zu den Dragonern mit dem Befehl, die Franzosen anzugreifen. Aber der dorthin gesandte Adjutant kam nach einer halben Stunde mit der Nachricht zurück, der Regimentskommandeur der Dragoner habe sich bereits hinter die Schlucht zurückgezogen, da die Feinde gegen ihn ein starkes Feuer gerichtet hätten, durch das er nutzlos seine Leute verloren habe; er habe daher die Schützeneskadron im Wald absitzen lassen.

 

»Gut!« sagte Bagration.

In dem Augenblick, als er von der Batterie wegritt, hörte man zur Linken im Wald ebenfalls schießen, und da es bis zum linken Flügel zu weit war, als daß er selbst noch hätte rechtzeitig hinkommen können, so schickte Fürst Bagration Scherkow dorthin und ließ durch diesen dem rangältesten General (demselben, welcher bei Braunau dem Oberkommandierenden Kutusow sein Regiment vorgeführt hatte) sagen, er möge sich so schnell als möglich hinter die Schlucht zurückziehen, da der rechte Flügel wahrscheinlich nicht imstande sein werde, den Feind lange aufzuhalten. An Tuschin und die Bedeckung für dessen Batterie schien er nicht mehr zu denken. Fürst Andrei lauschte eifrig auf den Verkehr des Fürsten Bagration mit den Kommandeuren und auf die von ihm erteilten Befehle und bemerkte zu seiner Verwunderung, daß Fürst Bagration Befehle, im strengen Sinn des Wortes, eigentlich kaum erteilte, sondern sich vielmehr nur das Ansehen zu geben suchte, daß alles, was aus Notwendigkeit oder zufällig oder nach dem Willen der einzelnen Kommandeure geschehen war, daß dies alles, wenn auch nicht auf seinen Befehl, so doch in Übereinstimmung mit seinen Absichten geschehen sei. Und weiter bemerkte Fürst Andrei, daß trotz jener Zufälligkeit der Ereignisse und trotz ihrer Unabhängigkeit von dem Willen des Oberbefehlshabers dennoch dank des Taktes, welchen Fürst Bagration bewies, seine Anwesenheit außerordentlich viel wirkte. Die Kommandeure, die mit verstörten Gesichtern zum Fürsten Bagration herangeritten kamen, gewannen ihre Ruhe wieder; die Soldaten und Offiziere begrüßten ihn fröhlich, wurden durch seine Anwesenheit frischer und lebhafter und paradierten augenscheinlich vor ihm mit ihrer Tapferkeit.

XVIII

Nachdem Fürst Bagration zu dem höchsten Punkt unseres rechten Flügels hinaufgeritten war, ritt er wieder bergab, nach der Gegend hin, aus der das unaufhörliche Knattern des Infanteriefeuers zu hören war, wo man aber vor Pulverrauch nichts sehen konnte. Je näher sie beim Hinabreiten der Sohle des Tales kamen, um so weniger konnten sie sehen, aber um so stärker machte sich die Nähe des eigentlichen Schlachtfeldes bemerkbar. Verwundete kamen ihnen entgegen. Einen derselben, mit blutigem Kopf, ohne Mütze, hatten zwei Soldaten unter die Arme gefaßt und schleppten ihn so weiter; er röchelte und spuckte Blut; die Kugel hatte ihn offenbar in den Mund oder in die Kehle getroffen. Ein andrer, der ihnen begegnete, ging tapferen Mutes allein, ohne Gewehr; er stöhnte laut und schwenkte vor unerträglichem Schmerz den Arm, aus dem das Blut wie aus einer Flasche auf seinen Mantel floß; seine Miene war mehr erschrocken als leidend; er war erst eine Minute vorher verwundet worden. Sie ritten quer über einen Fahrweg und nun steil den Abhang hinunter; auf dem Abhang sahen sie eine Anzahl von menschlichen Körpern liegen. Es begegnete ihnen ein Haufe Soldaten, unter denen sich auch Unverwundete befanden; die Soldaten gingen, schwer atmend, bergauf; ohne sich um den General zu kümmern, redeten sie laut miteinander und ließen die Arme schlenkern. Geradeaus, in dem Pulverrauch, wurden nun schon Reihen von grauen Mänteln sichtbar, und ein Offizier lief, als er Bagration erblickte, schreiend jenem abziehenden Soldatenhaufen nach und befahl den Leuten umzukehren. Bagration ritt an die Reihen heran, in denen bald hier, bald dort Schüsse knallten, von denen jedes Gespräch und selbst die Kommandorufe übertönt wurden. Die ganze Luft war dick von Pulverrauch. Alle Soldaten hatten rauchgeschwärzte, erregte Gesichter. Einige von ihnen stampften mit den Ladestöcken die Ladung in die Läufe; andere schütteten Pulver auf die Pfannen und holten Patronen aus den Patronentaschen; wieder andere schossen. Aber auf wen sie schossen, das war bei dem Pulverrauch, den kein Wind forttrieb, nicht zu sehen. Oft wurden die unangenehmen Töne des Sausens und Pfeifens hörbar. »Was stellt das hier vor?« dachte Fürst Andrei, als er an diese Schar von Soldaten heranritt. »Eine Vorpostenkette kann es nicht sein; denn sie bilden einen Haufen. Eine Attacke wird auch nicht gemacht; denn sie bewegen sich nicht vorwärts. Ein Karree kann es auch nicht sein; danach stehen sie nicht.«

Der Regimentskommandeur, ein hagerer, dem Anschein nach schon schwächlicher alter Mann, dessen altersmüde Augen mehr als zur Hälfte von den Lidern bedeckt waren, was seinem Gesicht einen sanften Ausdruck verlieh, kam mit einem angenehmen Lächeln auf den Fürsten Bagration zugeritten und begrüßte ihn wie ein Hausherr einen werten Gast. Er berichtete dem Fürsten Bagration, die Franzosen hätten eine Kavallerieattacke auf sein Regiment gemacht; die Attacke sei allerdings zurückgeschlagen worden, aber das Regiment habe mehr als die Hälfte seiner Leute verloren. Der Regimentskommandeur sagte zwar, daß die Attacke zurückgeschlagen sei; aber er sann sich diesen militärischen Ausdruck nur aus zur Bezeichnung dessen, was mit seinem Regiment vorgegangen war; in Wirklichkeit wußte er selbst nicht, was in dieser halben Stunde die ihm anvertraute Truppe durchgemacht hatte, und konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Attacke zurückgeschlagen oder sein Regiment bei der Attacke geschlagen war. Er wußte nur, daß am Anfang des Kampfes auf einmal Kanonenkugeln und Granaten überall im Regiment eingeschlagen waren und die Leute getötet hatten, und daß dann jemand gerufen hatte: »Die Reiterei!« und die Unsrigen angefangen hatten zu schießen, und daß sie nun seitdem schossen, nicht mehr auf die Kavallerie, die wieder verschwunden war, sondern auf französische Infanterie, die im Tal erschienen war und auf die Unsrigen schoß. Fürst Bagration neigte den Kopf, um damit zu verstehen zu geben, daß alles dies genau so sei, wie er es gewünscht und vorausgesetzt habe. Dann wandte er sich an den Adjutanten und befahl ihm, zwei Bataillone des sechsten Jägerregiments, bei denen sie soeben vorbeigeritten waren, von der Anhöhe herbeizuholen. Fürst Andrei war in diesem Augenblick ganz überrascht von der Veränderung, welche in dem Gesicht des Fürsten Bagration auf einmal vorgegangen war. Sein Gesicht drückte eine feste, fröhliche Entschlossenheit aus, wie wenn jemand an einem heißen Tag sich fertig gemacht hat, um ins Wasser zu springen, und nun den letzten Anlauf nimmt. Seine Augen sahen nicht mehr verschlafen und trübe aus; seine Miene zeigte nicht mehr das verstellte tiefe Nachdenken: die runden, hellen Habichtsaugen blickten voll lebhaften Eifers und etwas geringschätzig nach vorn, augenscheinlich ohne auf einem einzelnen Gegenstand haftenzubleiben. Nur seine Bewegungen waren ebenso langsam und gemessen geblieben wie vorher.

Der Regimentskommandeur wandte sich an den Fürsten Bagration und bat ihn inständig, doch wegzureiten, da es hier gar zu gefährlich sei. »Ich bitte Euer Durchlaucht um alles in der Welt, ich bitte dringend!« sagte er und blickte, um sich die Notwendigkeit seiner Mahnung bestätigen zu lassen, nach dem Offizier à la suite hin, der sich von ihm wegwandte. »Da! Bitte, sehen Sie selbst!« Er machte auf die Kugeln aufmerksam, die unaufhörlich um sie herumsausten, zischten und pfiffen. Er redete in dem gleichen Ton vorwurfsvoller Bitte, in welchem wohl ein Zimmermann zu dem vornehmen Bauherrn spricht, der das Beil zur Hand nimmt: »Unsereiner ist ja diese Arbeit gewohnt; aber Sie werden an Ihren zarten Händen Schwielen bekommen.« Er redete, als könnten ihn selbst diese Kugeln nicht treffen, und seine halbgeschlossenen Augen verliehen seinen Worten noch mehr Überredungskraft. Der Stabsoffizier schloß sich den Mahnungen des Regimentskommandeurs an; aber Fürst Bagration antwortete ihnen nicht, sondern gab nur Befehl, das Feuer einzustellen und so Aufstellung zu nehmen, daß die beiden heranrückenden Bataillone Platz fänden. Während er sprach, wurde, wie von unsichtbarer Hand, durch einen sich erhebenden Wind der Rauchvorhang, der das Tal verbarg, von rechts nach links weggezogen, und vor ihren Blicken erschloß sich die Aussicht auf den gegenüberliegenden Berg mit den Franzosen, die auf seinem Abhang im Anrücken begriffen waren. Unwillkürlich richteten sich die Augen aller auf diese französische Kolonne, die gegen uns heranmarschierte und in Windungen, wie es die Abstufungen des Terrains nötig machten, ihren Weg verfolgte. Schon waren die zottigen Pelzmützen der Soldaten zu erkennen; schon konnte man die Offiziere von den Gemeinen unterscheiden; es war zu sehen, wie die Fahne der Truppe um die Stange flatterte.

»Prachtvoll marschieren sie!« sagte jemand in Bagrations Suite.

Die Tete der Kolonne hatte jetzt bereits die Talsohle erreicht. Der Zusammenstoß mußte auf dem diesseitigen Abhang erfolgen.

Auf unserer Seite ordneten die Überreste des Regimentes, das soeben in Aktion gewesen war, sich eiligst wieder und traten nach rechts; von ihrer Rückseite her kamen, diese Überreste zur Seite drängend, in guter Ordnung die beiden Bataillone des sechsten Jägerregimentes heran. Sie waren noch nicht bis zu Bagration gelangt; aber schon war der schwere, wuchtige Schritt einer so großen, im Takt marschierenden Menschenmasse zu hören. Auf dem linken Flügel der Truppe, dem Fürsten Bagration näher als alle andern, ging ein Kompaniechef, ein stattlicher Mann, mit einem dummen, glückseligen Ausdruck auf dem runden Gesicht, eben der, welcher aus Tuschins Hütte herausgekommen war. Er dachte in diesem Augenblick offenbar an weiter nichts, als daß er beim Vorbeimarsch sich dem Fürsten als recht schneidiger Offizier präsentieren müsse.

Mit jener Selbstzufriedenheit, die viele Offiziere vor der Front ihrer Leute zeigen, schritt er so leicht, als ob er dahinschwömme, auf seinen muskulösen Beinen einher und hielt sich ohne die geringste Anstrengung völlig gerade; durch diese Leichtigkeit zeichnete er sich sehr vor den schwer auftretenden Soldaten aus, die mit ihm Tritt hielten. Er legte den entblößten, dünnen, schmalen Säbel (einen gekrümmten, kleinen Säbel, der gar nicht wie eine Waffe aussah) salutierend an seinen Fuß und blickte, ohne aus dem Tritt zu kommen, indem er sich mit seiner ganzen kräftigen Gestalt geschmeidig drehte, bald zu seinem hohen Vorgesetzten hin, bald nach seinen Leuten zurück. Es schien, daß er alle seine Geisteskräfte nur darauf gerichtet hatte, in bester Haltung an seinem Chef vorbeizugehen, und daß er in dem Bewußtsein, diese Aufgabe gut zu erfüllen, sich vollkommen glücklich fühlte. »Linken ... linken ... linken ...«, schien er bei jedem zweiten Schritt im stillen zu sagen, und nach diesem Takt bewegte sich mit einförmig ernsten Gesichtern auch die Mauer der mit Tornister und Gewehr belasteten Soldatengestalten, wie wenn ein jeder unter diesen Hunderten von Soldaten in Gedanken bei jedem zweiten Schritt sagte: »Linken ... linken ...« Ein dicker Major lief schnaufend und aus dem Tritt kommend um einen am Weg stehenden Strauch herum; ein zurückgebliebener Soldat holte atemlos, mit erschrockener Miene wegen seiner Unordnung, seine Kompanie im Trab wieder ein. Eine Kanonenkugel flog, die Luft niederdrückend, dicht über den Fürsten Bagration und seine Suite hin und schlug in die nach dem Takt »Linken ... linken« marschierende Kolonne ein. »Schließt die Reihen!« ertönte die geziert klingende Stimme des Kompaniechefs. Die Soldaten umgingen im Bogen die Stelle, wo die Kugel niedergefallen war; ein alter, mit Ehrenzeichen geschmückter Flügelunteroffizier, der einen Augenblick bei den Getöteten zurückgeblieben war, holte seine Reihe wieder ein, wechselte mittels eines kleinen Sprunges den Schritt, kam wieder in Tritt und blickte grimmig um sich. »Linken ... linken ... linken ...«, schien es aus dem drohenden Schweigen des Unteroffiziers und aus dem einförmigen Schall der gleichzeitig auf die Erde schlagenden Beine herauszutönen.

 

»Ihr seid tüchtige Leute, Kinder!« sagte Fürst Bagration.

»Mit Freuden ... hum-hum-hum-hum!« scholl es aus den Reihen der Soldaten zurück. Ein finsterblickender Soldat, der an der linken Flanke ging, blickte, während er mitschrie, den Fürsten Bagration mit einer Miene an, als ob er sagen wollte: »Das wissen wir selbst«; ein anderer sah gar nicht zu dem Fürsten hin, wie wenn er fürchtete, sich zu zerstreuen, stimmte mit weitgeöffnetem Mund in den gemeinsamen Ruf ein und marschierte vorüber.

Es wurde befohlen, haltzumachen und die Tornister abzunehmen.

Bagration holte die Reihen, die an ihm vorbeimarschiert waren, wieder ein und stieg vom Pferd. Er gab einem Kosaken die Zügel, zog seinen Filzmantel aus, warf auch diesen dem Kosaken hin, reckte die Beine gerade und schob sich die Mütze zurecht. Die Tete der französischen Kolonne mit den vorausgehenden Offizieren erschien vom Fuß des Berges her.

»Mit Gott!« rief Fürst Bagration mit fester, lauter Stimme, wandte sich für einen Augenblick nach der Front um und ging, ein wenig mit den Armen schlenkernd, mit dem ungeschickten Gang eines Kavalleristen, wie wenn es ihn besondere Mühe kostete, über das unebene Feld voran. Fürst Andrei hatte eine Empfindung, als würde er selbst von einer unwiderstehlichen Gewalt vorwärtsgezogen, und fühlte sich hochbeglückt.

Die Franzosen waren bereits ziemlich nahe; schon konnte Fürst Andrei, der neben Bagration ging, die Bandeliers, die roten Schulterstücke und sogar die Gesichter der Franzosen deutlich erkennen; er sah genau, wie ein alter französischer Offizier mit auswärts gesetzten Füßen, in Stiefeletten, sich an den Sträuchern festhaltend, mühsam den Berg hinanstieg. Fürst Bagration gab keinen neuen Befehl und schritt immer in gleicher Weise schweigend vor den Reihen dahin. Plötzlich knallte bei den Franzosen ein einzelner Schuß, dann ein zweiter, ein dritter ... und nun knatterte aus der gesamten in Unordnung geratenen feindlichen Linie das Gewehrfeuer, und der Pulverrauch breitete sich überall aus. Mehrere der Unsrigen fielen, darunter auch der Offizier mit dem runden Gesicht, der so vergnügt und eifrig marschiert war. Aber in demselben Augenblick, wo der erste Schuß fiel, drehte sich Bagration um und schrie: »Hurra!«

»Hurra-a-a-a!« verbreitete sich das langgedehnte Geschrei über unsere ganze Linie, und den Fürsten Bagration sowie einander überholend, liefen die Unsrigen in ungeordnetem, aber froh und lebhaft erregtem Schwarm bergab auf die aus Reih und Glied gekommenen Franzosen los.