Krieg und Frieden

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Es waren noch nicht zwei Minuten vergangen, als Fürst Wasili in einem langschößigen Rock, mit drei Ordenssternen, in imponierender Haltung, mit hochaufgerichtetem Haupt ins Zimmer trat. Er schien im Laufe dieses Tages magerer geworden zu sein; seine Augen waren größer als sonst, als er sie im Zimmer umherwandern ließ und Pierre anblickte. Er trat zu ihm, ergriff seine Hand (was er früher nie getan hatte) und zog sie nach unten herunter, wie wenn er versuchen wollte, ob sie auch fest säße.

»Verzagen Sie nicht, mein Freund, lassen Sie nicht den Mut sinken. Er hat Sie rufen lassen. Das ist gut ...« Damit wollte er weitergehen; aber Pierre hielt es für nötig zu fragen:

»Wie ist denn das Befinden ...« Er stockte, weil er nicht wußte, ob es für ihn passend sei, den Sterbenden als den »Grafen« zu bezeichnen; ihn »Vater« zu nennen war ihm peinlich.

»Vor einer halben Stunde hat ihn wieder der Schlag gerührt. Aber verlieren Sie nicht den Mut, mein Freund.«

Pierre befand sich in einem solchen Zustand geistiger Verwirrung, daß ihm bei dem Wort »Schlag« der Gedanke an den Schlag irgendeines Körpers kam. Er sah den Fürsten Wasili verständnislos an und besann sich erst einige Augenblicke nachher, daß »Schlag« der Name einer Krankheit ist. Fürst Wasili sagte noch im Vorbeigehen ein paar Worte zu Doktor Lorrain und ging dann auf den Fußspitzen zur Tür hin. Aber er verstand sich nicht darauf, auf den Fußspitzen zu gehen, und hüpfte bei jedem Schritt unbeholfen mit dem ganzen Körper auf. Hinter ihm her ging die älteste Prinzessin; dann kamen die Geistlichen und die Kirchendiener; auch einige von der Dienerschaft gingen mit hinein. Im Wartezimmer war durch die Tür hindurch zu hören, wie sich die Menschen dort hin und her bewegten, um den richtigen Platz zu finden, und schließlich kam Anna Michailowna eilig heraus; ihr Gesicht zeigte noch dieselbe Blässe wie vorher; aber man sah ihr an, daß sie fest entschlossen war, ihre Pflicht zu erfüllen. Sie berührte Pierres Hand und sagte:

»Gottes Barmherzigkeit ist unerschöpflich. Die Letzte Ölung beginnt soeben. Kommen Sie!«

Pierre ging über den weichen Teppich hin nach der Tür und bemerkte, daß auch der Adjutant und die unbekannte Dame und noch dieser und jener von der Dienerschaft ihm folgten, als ob man jetzt nicht mehr um die Erlaubnis zu bitten brauchte, in dieses Zimmer einzutreten.

XXIII

Pierre kannte dieses sehr geräumige, durch eine Säulenreihe mit einer großen Bogentür in zwei Teile geteilte, ganz mit persischen Teppichen behangene Zimmer recht wohl. Der jenseits der Säulen gelegene Teil des Zimmers, wo auf der einen Seite das hohe Mahagonibett mit seidenen Vorhängen und auf der andern ein gewaltig großer Schrein mit Heiligenbildern stand, war mit rotem Licht hell erleuchtet, wie es in den Kirchen beim Abendgottesdienst gebräuchlich ist. Unterhalb der glänzenden Verzierungen des Heiligenschreins stand ein großer, tiefer Lehnstuhl, mit schneeweißen, unzerdrückten, offenbar soeben erst frisch überzogenen Bettkissen belegt, und auf diesem Lehnstuhl lag, bis zur Mitte des Körpers mit einer hellgrünen Decke zugedeckt, die dem eintretenden Pierre wohlbekannte mächtige Gestalt seines Vaters, des Grafen Besuchow, mit derselben grauen, löwenähnlichen Haarmähne über der breiten Stirn und mit denselben starken Falten, die dem schönen, rötlichgelben Gesicht einen ausgesprochen vornehmen Charakter verliehen. Er lag unmittelbar unter den Heiligenbildern; die beiden dicken, großen Hände hatte man ihm unter der Decke hervorgeholt, und sie lagen nun auf ihr. In die rechte Hand, die mit der Innenseite nach unten dalag, hatte man ihm zwischen den Daumen und den Zeigefinger eine Wachskerze gesteckt, die ein alter Diener, von hinten sich über den Lehnstuhl beugend, in der Hand des Sterbenden festhielt. Neben dem Lehnstuhl standen die Geistlichen in ihren prächtigen, glänzenden Gewändern, auf die am Nacken ihr langes Haupthaar herüberfiel, mit brennenden Kerzen in den Händen, und sprachen mit feierlicher Langsamkeit die vorgeschriebenen Gebete. Ein wenig weiter zurück standen die beiden jüngeren Prinzessinnen, welche Taschentücher in den Händen hielten und an die Augen führten, und vor ihnen die älteste, Catiche, mit ingrimmiger, entschlossener Miene; sie wendete die Augen keinen Augenblick von den Heiligenbildern weg, wie wenn sie allen Anwesenden damit sagen wollte, daß sie nicht für sich einstehe, wenn sie anderswohin sähe. Anna Michailowna, mit dem Ausdruck milder Traurigkeit und alles verzeihender Liebe auf dem Gesicht, und die unbekannte Dame standen bei der Bogentür. Fürst Wasili stand an der andern Seite der Tür, nahe bei dem Lehnsessel des Grafen, hinter einem geschnitzten, mit Samt bezogenen Stuhl. Diesen hatte er mit der Lehne nach sich hingewendet, stützte den linken Arm, mit dem er die Kerze hielt, mit dem Ellbogen darauf und bekreuzte sich mit der rechten Hand, wobei er jedesmal, wenn er die Finger an die Stirn legte, die Augen nach oben wandte. Sein Gesicht drückte ruhige Andacht und Ergebung in den Willen Gottes aus und schien zu den Anwesenden zu sagen: »Es ist eure Schuld, wenn ihr für diese Gefühle kein Verständnis habt.«

Hinter ihm standen der Adjutant, die Ärzte und die männliche Dienerschaft; wie in der Kirche hatten sich Männer und Frauen getrennt. Alle schwiegen und bekreuzigten sich; man hörte nur das Verlesen der Kirchengebete, tiefen Baßgesang mit gedämpften Stimmen, und in Augenblicken, wo diese Töne schwiegen, das Geräusch umgestellter Füße oder leiser Seufzer. Anna Michailowna ging mit ernster, wichtiger Miene, welche zeigte, daß sie genau wisse, was sie tue, durch das ganze Zimmer zu Pierre hin und reichte ihm eine Kerze. Er zündete sie an und begann, ganz verwirrt durch alles, was ihn umgab, sich mit derselben Hand zu bekreuzen, in der er die Kerze hielt.

Die jüngste Prinzessin, die rotwangige, lachlustige Sofja, die mit dem Leberfleck, betrachtete ihn. Sie lächelte, verbarg ihr Gesicht hinter dem Taschentuch und ließ es lange nicht wieder sichtbar werden; aber als sie dann von neuem zu Pierre hinblickte, lächelte sie abermals. Sie fühlte sich offenbar außerstande, ihn ohne Lachen anzusehen, konnte sich aber doch nicht enthalten, zu ihm hinzublicken, und trat, um der Versuchung zu entgehen, sachte hinter eine der Säulen.

Mitten in der feierlichen Handlung verstummten die Stimmen der Geistlichen und der Sänger auf einmal; die Geistlichen redeten flüsternd etwas untereinander; der alte Diener, der die Hand des Grafen hielt, richtete sich auf und wandte sich an die Damen. Anna Michailowna trat vor, beugte sich über den Kranken und winkte hinter dessen Rücken den Doktor Lorrain zu sich heran. Der französische Arzt (er stand ohne brennende Kerze an eine Säule gelehnt da, in der respektvollen Haltung eines Ausländers, welche zeigen soll, daß er trotz der Verschiedenheit des Glaubens für die ganze Wichtigkeit der sich vollziehenden heiligen Handlung Verständnis besitzt und ihr sogar seine Verehrung zollt) trat mit dem leisen Gang eines im kräftigsten Lebensalter stehenden Mannes zu dem Kranken hin, nahm mit seinen weißen, schlanken Fingern dessen freie Hand von der grünen Decke auf, fühlte, sich abwendend, den Puls und stand dann einen Augenblick überlegend da. Man reichte dem Kranken etwas zu trinken, und es entstand ein unruhiges Treiben um ihn herum; dann traten alle wieder an ihre Plätze zurück, und die heilige Handlung nahm ihren Fortgang.

Während dieser Unterbrechung hatte Pierre bemerkt, daß Fürst Wasili hinter seiner Stuhllehne hervorkam und mit eben jener Miene, die da besagte, er wisse, was er tue, und wenn die andern das nicht verständen, so sei es ihre Schuld, nicht etwa zu dem Kranken hintrat, sondern an ihm vorbei zu der ältesten Prinzessin ging und sich mit ihr zusammen in den Hintergrund des Schlafzimmers begab, zu dem hohen Bett unter den seidenen Vorhängen. Von dem Bett sich wieder entfernend, verschwanden dann der Fürst und die Prinzessin durch eine Hintertür, kehrten aber noch vor Beendigung der gottesdienstlichen Handlung einer nach dem andern wieder an ihre Plätze zurück. Pierre beachtete diesen Umstand nicht mehr als alles andere, was vorging, da er sich ein für allemal gesagt hatte, alles, was sich um ihn herum an dem heutigen Abend zutrage, müsse wohl unumgänglich so geschehen.

Die Töne des kirchlichen Gesanges schwiegen jetzt, und man hörte die Stimme des Geistlichen, der den Kranken respektvoll zum Empfang des Sakramentes beglückwünschte. Der Kranke lag immer noch in gleicher Weise da, ohne sich zu regen oder sonst ein Zeichen des Lebens zu geben. Um ihn herum kam nun alles in Bewegung; man hörte Schritte und Geflüster, woraus das Flüstern Anna Michailownas besonders scharf hervorklang.

Pierre hörte wie sie sagte:

»Er muß unbedingt wieder nach dem Bett herübergetragen werden; hier kann er unter keinen Umständen länger bleiben.«

Die Ärzte, die Prinzessinnen und die Diener umdrängten den Kranken in so dichtem Schwarm, daß Pierre jenes rötlichgelbe Gesicht mit der grauen Mähne nicht mehr sah, das er während der ganzen gottesdienstlichen Handlung, obwohl er auch andere Gesichter gesehen hatte, dennoch auch nicht eine Sekunde aus den Augen verloren hatte. Pierre erriet aus den behutsamen Bewegungen der Diener, die den Lehnstuhl umringten, daß sie den Sterbenden aufhoben und herübertrugen.

»Faß meine Hand an; sonst läßt du ihn noch fallen«, hörte er einen der Diener erschrocken flüstern. »Von unten ... Noch einer ...«, sagten verschiedene Stimmen, und die schweren Atemzüge und unsicheren Tritte der Leute wurden hastiger, als ob die Last, die sie trugen, über ihre Kräfte ginge.

Die Tragenden, mit denen auch Anna Michailowna ging, kamen an dem jungen Mann vorüber, und für einen Augenblick wurde ihm über die Rücken und Nacken der Leute hinüber die entblößte, hohe, fleischige Brust des Kranken sichtbar und die mächtigen Schultern, welche die Leute, ihn unter den Achseln fassend, in die Höhe hoben, und der graue, kraushaarige Löwenkopf. Dieses Gesicht mit der auffallend breiten Stirn, den starken Backenknochen, dem schönen, sinnlichen Mund und dem imponierenden, kalten Blick war durch die Nähe des Todes nicht entstellt worden. Es war noch immer so, wie Pierre es vor drei Monaten gesehen hatte, als er sich vor seiner Reise nach Petersburg von dem Grafen verabschiedete. Aber jetzt schaukelte dieser Kopf bei den ungleichmäßigen Schritten der Träger hilflos hin und her, und der kalte, teilnahmslose Blick vermochte nicht irgendwo haftenzubleiben.

 

Um das hohe Bett herum gab es einige Minuten lang eine unruhige Geschäftigkeit; hierauf traten die Diener, die den Kranken getragen hatten, zurück. Anna Michailowna aber berührte Pierres Hand und sagte zu ihm: »Kommen Sie!«

Pierre trat mit ihr an das Bett heran, auf welches der Kranke in einer sozusagen feiertäglichen Körperhaltung hingelegt war, die offenbar mit der soeben vollzogenen sakramentalen Handlung in Beziehung stand. Sein Kopf war durch Kissen hochgerichtet; die Hände hatte man ihm symmetrisch auf die grüne seidene Decke gelegt, mit den Flächen nach unten. Als Pierre hinzutrat, blickte der Graf ihm gerade ins Gesicht; aber dieser Blick war von einer solchen Art, daß niemand seinen Sinn und seine Bedeutung verstehen konnte. Entweder besagte dieser Blick nichts weiter, als daß, solange man Augen hat, man mit ihnen notwendigerweise irgendwohin sehen muß; oder aber er war überaus vielsagend. Pierre blieb stehen, da er nicht wußte, was er nun tun sollte, und sah fragend seine Beraterin Anna Michailowna an. Anna Michailowna gab ihm schnell ein Zeichen mit den Augen, indem sie auf die Hand des Kranken deutete, und bewegte die Lippen wie bei einem Kuß. Pierre streckte mit Anstrengung den Hals aus, um nicht an die Decke zu streifen und sie zu verschieben, und befolgte ihren Rat: er drückte seinen Mund auf die breitknochige, fleischige Hand des Kranken. Aber weder die Hand noch ein Gesichtsmuskel des Grafen zuckte. Pierre richtete wieder einen fragenden Blick auf Anna Michailowna, was er jetzt zu tun habe. Anna Michailowna wies mit den Augen auf einen neben dem Bett stehenden Sessel hin. Gehorsam setzte sich Pierre auf diesen und fragte mit den Augen weiter, ob er auch das Richtige getan habe. Anna Michailowna nickte bejahend mit dem Kopf. Pierre nahm wieder die wunderliche symmetrische Haltung einer ägyptischen Statue an; er bedauerte anscheinend, daß sein ungeschlachter dicker Körper soviel Raum einnahm, und strengte seine gesamten Geisteskräfte an, um möglichst klein auszusehen. Er sah den Grafen an. Der Graf blickte nach der Stelle hin, wo Pierres Gesicht gewesen war, solange er aufrecht gestanden hatte. Anna Michailowna brachte durch ihre ganze Haltung zum Ausdruck, daß sie ein volles Verständnis für das Rührende und Bedeutungsvolle dieses letzten Augenblickes des Zusammenseins von Vater und Sohn habe. Das dauerte zwei Minuten, die dem still dasitzenden Pierre wie eine Stunde vorkamen. Plötzlich ging durch die kräftigen Muskeln und Falten im Gesicht des Grafen ein Zucken. Dieses Zucken wurde stärker; der schöne Mund zog sich schief (erst jetzt begriff Pierre, wie nahe sein Vater dem Tod war), und aus dem verzerrten Mund drang ein undeutlicher, heiserer Laut. Anna Michailowna blickte mit angestrengter Aufmerksamkeit in die Augen des Kranken und zeigte in dem Bemühen, zu erraten, was er wünschte, bald auf Pierre, bald auf das Getränk, bald nannte sie flüsternd in fragendem Ton den Namen des Fürsten Wasili, bald deutete sie auf die grüne Decke. Die Augen und Mienen des Kranken drückten Ungeduld aus. Er machte eine Anstrengung, um den Diener anzusehen, der, ohne sich zu rühren, am Kopfende des Bettes stand.

»Der Graf will auf die andere Seite gedreht werden«, flüsterte der Diener und trat herum, um den schweren Körper des Grafen mit dem Gesicht nach der Wand hinzudrehen.

Pierre stand auf, um dem Diener zu helfen.

Während sie den Grafen umdrehten, fiel der eine Arm hilflos nach hinten zurück, und der Kranke machte eine vergebliche Anstrengung, ihn wieder herüberzuziehen. Ob nun der Graf den erschrockenen Blick bemerkt hatte, mit welchem Pierre nach diesem leblosen Arm hingesehen hatte, oder ob irgendein an derer Gedanke in diesem Augenblick dem Sterbenden durch den Kopf huschte, wer konnte das wissen? Aber er blickte auf seinen unbotmäßigen Arm, auf den Ausdruck des Schreckens in Pierres Gesicht, dann wieder auf seinen Arm, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein schwaches, leidvolles Lächeln, das so gar nicht zu seinen Zügen paßte und gewissermaßen wie ein Spotten über seine eigene Kraftlosigkeit aussah. Beim Anblick dieses Lächelns fühlte Pierre unvermutet ein Zucken in der Brust, ein Zwicken in der Nase, und Tränen verschleierten ihm die Augen. Der Kranke war nun auf die Seite gedreht worden, nach der Wand zu. Er seufzte.

»Er ist eingeschlummert«, sagte Anna Michailowna, als sie bemerkte, daß die mittelste Prinzessin herankam, um sie abzulösen. »Wir wollen gehen.«

Pierre ging mit ihr hinaus.

XXIV

Im Wartezimmer befand sich niemand mehr als Fürst Wasili und die älteste Prinzessin, welche unter dem Porträt der Kaiserin Katharina saßen und angelegentlich miteinander redeten. Aber sowie sie Pierre mit seiner Führerin erblickten, verstummten sie. Die Prinzessin versteckte etwas, wie es Pierre vorkam, und flüsterte:

»Dieses Weib ist mir unausstehlich!«

»Catiche hat im kleinen Salon Tee servieren lassen«, sagte Fürst Wasili zu Anna Michailowna. »Sie sollten hingehen und sich ein wenig stärken, meine arme Anna Michailowna; sonst halten Sie diese Anstrengungen nicht aus.«

Zu Pierre sagte er nichts, er drückte ihm nur gefühlvoll den Arm etwas unterhalb der Schulter. Pierre und Anna Michailowna gingen in den kleinen Salon.

»Nichts stellt die Kräfte nach einer durchwachten Nacht so gut wieder her wie eine Tasse von diesem ausgezeichneten russischen Tee«, sagte Doktor Lorrain im Ton gedämpfter Lebhaftigkeit. Er stand in dem kleinen runden Salon an einem Tisch, der mit Teegerät und kaltem Abendbrot gedeckt war, und schlürfte Tee aus einer dünnen, henkellosen chinesischen Tasse. Um diesen Tisch hatten sich alle, die diese Nacht im Haus des Grafen Besuchow zugebracht hatten, versammelt, um sich wieder ein wenig zu stärken. Pierre erinnerte sich recht wohl an diesen kleinen runden Salon mit den vielen Spiegeln und den kleinen Tischen. Wenn im Haus des Grafen Bälle stattfanden, dann hatte Pierre, der nicht tanzen konnte, gern in diesem kleinen Spiegelzimmer gesessen und beobachtet, wie die Damen in ihren Balltoiletten, mit den Brillantkolliers und den Perlenschnüren um den entblößten Hals, beim Hindurchgehen durch dieses Zimmer sich in den hellerleuchteten Spiegeln betrachteten, die ihr Bild mehrere Male zurückwarfen. Jetzt war dieses selbe Zimmer durch zwei Kerzen nur notdürftig beleuchtet, und mitten in der Nacht standen hier auf einem der kleinen Tische Teegeschirr und kalte Speisen unordentlich durcheinander, und allerlei Leute in nicht festlicher Kleidung saßen in diesem Zimmer und redeten flüsternd miteinander und ließen durch jede Bewegung, durch jedes Wort merken, daß sie alle an das dachten, was jetzt im Schlafzimmer vorging und für die nächste Zukunft zu erwarten war. Pierre aß nichts, obgleich er starken Hunger verspürte. Er blickte fragend zu seiner Ratgeberin hin und sah, daß sie auf den Fußspitzen wieder hinausging nach dem Wartezimmer, wo Fürst Wasili mit der ältesten Prinzessin zurückgeblieben war. Pierre nahm an, daß auch dies so sein müsse, und nach kurzem Zögern folgte er ihr. Anna Michailowna stand neben der Prinzessin, und beide redeten aufgeregt im Flüsterton durcheinander.

»Gestatten Sie mir, Fürstin, selbst zu beurteilen, was notwendig oder nicht notwendig ist«, sagte die Prinzessin, die sich augenscheinlich wieder in demselben aufgeregten Zustand befand wie einige Zeit vorher, als sie die Tür ihres Zimmers so heftig zuschlug.

»Aber, liebe Prinzessin«, versetzte Anna Michailowna in sanftem, überredendem Ton, indem sie der Prinzessin den Weg nach dem Schlafzimmer vertrat und sie nicht hineinließ, »wird das den armen Onkel nicht gar zu sehr angreifen, in diesen Augenblicken, wo er die Erholung doch so nötig hat? Ein Gespräch über weltliche Dinge in diesen Augenblicken, wo seine Seele schon vorbereitet ist, vor Gott zu treten ...«

Fürst Wasili saß auf einem Lehnstuhl in einer zwanglosen Haltung, die er gern annahm: das eine Bein hoch über das andre gelegt. Seine Wangen zuckten heftig und waren schlaff herabgesunken, so daß sie nach unten zu dicker erschienen; aber er tat, als ob ihn das Gespräch der beiden Damen wenig interessiere.

»Nicht doch, meine liebe Anna Michailowna«, warf er dazwischen. »Lassen Sie Catiche nur machen, wie sie es für gut hält. Sie wissen, wie gern sie der Graf hat.«

»Ich weiß gar nicht, was in diesem Schriftstück steht«, sagte die Prinzessin, zu dem Fürsten Wasili gewendet, und zeigte dabei auf das Mosaikportefeuille, das sie in der Hand hielt. »Ich weiß nur, daß das richtige Testament in seinem Schreibtisch liegt; dies hier ist ein Schriftstück, das der Graf längst vergessen hat ...«

Sie wollte um Anna Michailowna herumgehen; aber diese machte einen kleinen Sprung und versperrte ihr wieder den Weg.

»Ich weiß es, meine liebe, gute Prinzessin«, sagte Anna Michailowna und faßte dabei das Portefeuille mit solcher Energie an, daß man merken konnte, sie werde es nicht so bald wieder loslassen. »Liebe Prinzessin, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, schonen Sie ihn ...«

Die Prinzessin schwieg. Es war nichts zu hören als das Geräusch des angestrengten Ringens um das Portefeuille. Der Prinzessin war anzusehen, daß, wenn sie gesprochen hätte, sie ihrer Gegnerin keine Schmeicheleien gesagt haben würde. Anna Michailowna hielt an dem Portefeuille mit kräftigem Griff fest; aber trotzdem behielt ihre Stimme durchaus den süßen, milden, ruhigen Klang bei.

»Pierre, kommen Sie her, mein Freund«, sagte sie. »Ich glaube, er ist bei einem Familienrat keine überflüssige Person. Nicht wahr, Fürst?«

»Warum schweigen Sie denn, Kusin?« rief auf einmal die Prinzessin so laut, daß es die nebenan im Salon Anwesenden hörten und über ihre Stimme einen Schreck bekamen. »Warum schweigen Sie, während sich hier Gott weiß wer erlaubt, sich einzumischen und an der Schwelle des Sterbezimmers eine häßliche Szene zu machen? Intrigantin!« flüsterte sie wütend und zog das Portefeuille aus Leibeskräften an sich; aber Anna Michailowna tat ein paar Schritte vorwärts, um das Portefeuille nicht loszulassen, und faßte wieder fester zu.

»Oh, oh!« sagte Fürst Wasili vorwurfsvoll und erstaunt. Er stand auf. »Das ist ja lächerlich. Lassen Sie jetzt beide los; ich muß sehr darum bitten.« Die Prinzessin ließ los.

»Sie auch!«

Anna Michailowna hörte nicht auf ihn.

»Lassen Sie los! sage ich. Ich will die ganze Sache selbst übernehmen. Ich werde zu ihm gehen und ihn fragen. Ich selbst. Das könnte Ihnen genügen.«

»Aber, Fürst!« versetzte Anna Michailowna. »So lassen Sie ihm doch eine Minute Ruhe, nachdem er soeben das hochheilige Sakrament empfangen hat. Aber Sie, lieber Pierre, sollten uns doch auch Ihre Meinung sagen«, wandte sie sich an den jungen Mann, der nun, ganz nah herantretend, erstaunt das ingrimmige, an kein Gebot des Anstandes sich mehr haltende Gesicht der Prinzessin und die zuckenden Wangen des Fürsten Wasili betrachtete.

»Vergessen Sie nicht, daß Sie für alle Folgen haften werden«, sagte Fürst Wasili in strengem Ton. »Sie wissen nicht, was Sie tun.«

»Nichtswürdiges Weib!« schrie die Prinzessin, stürzte unerwartet auf Anna Michailowna los und entriß ihr das Portefeuille. Fürst Wasili senkte den Kopf und hielt die Arme auseinander, als ob er sagen wollte: »Welch ein Benehmen!«

In diesem Augenblick wurde die Tür, jene schreckliche Tür, nach welcher Pierre vorhin so lange hingeblickt hatte, und die damals immer so behutsam geöffnet worden war, plötzlich schnell und geräuschvoll aufgerissen, so daß sie gegen die Wand schlug. Die mittelste der Prinzessinnen stürzte von dort herein und schlug verzweifelt die Hände zusammen.

»Was tut ihr hier!« rief sie in größter Aufregung. »Er stirbt, und ihr laßt mich bei ihm allein!«

Die älteste Prinzessin ließ das Portefeuille fallen. Anna Michailowna bückte sich schnell, ergriff das Streitobjekt und lief damit in das Schlafzimmer. Sobald Fürst Wasili und die älteste Prinzessin ihre Gedanken wieder gesammelt hatten, gingen sie ihr nach. Einige Minuten darauf kam zuerst die älteste Prinzessin von dort wieder heraus; ihr Gesicht sah blaß und starr aus, und sie biß sich auf die Unterlippe. Bei Pierres Anblick trat ein Ausdruck unbeherrschbarer Wut auf ihr Gesicht.

 

»Ja, nun können Sie sich freuen!« sagte sie. »Darauf haben Sie ja nur gelauert!« Und aufschluchzend verbarg sie das Gesicht im Taschentuch und lief aus dem Zimmer.

Nach der Prinzessin kam Fürst Wasili wieder aus dem Sterbezimmer heraus. Schwankend schritt er nach dem Sofa hin, auf welchem Pierre saß, ließ sich darauf niederfallen und bedeckte die Augen mit der Hand. Pierre bemerkte, daß er blaß war, und daß sein Unterkiefer zuckte und zitterte wie beim Fieber.

»Ach, mein Freund«, sagte er und faßte Pierre am Ellbogen; seine Stimme klang so aufrichtig und so matt, wie es Pierre früher noch nie bei ihm gehört hatte. »Wie oft sündigen wir! Wie oft suchen wir andere Menschen zu täuschen! Und wozu das alles? Ich bin ein hoher Fünfziger, mein Freund ... Ich werde ja bald ... Und mit dem Tod ist alles zu Ende, alles. Der Tod ist etwas Schreckliches.« Er weinte.

Anna Michailowna war die letzte, die wieder zurückkam. Mit leisen, langsamen Schritten ging sie auf Pierre zu.

»Pierre!« sagte sie.

Pierre blickte sie fragend an. Sie küßte den jungen Mann auf die Stirn, die dabei von ihren Tränen benetzt wurde. Sie schwieg einen Augenblick.

»Er ist nicht mehr ...«

Pierre sah sie durch seine Brille an.

»Kommen Sie nur, ich will Sie führen. Versuchen Sie zu weinen; nichts erleichtert so wie Tränen.«

Sie führte ihn in einen dunklen Salon, und Pierre war froh, daß da niemand sein Gesicht sah. Anna Michailowna verließ ihn, und als sie wieder zurückkam, schlief er fest, den Arm unter den Kopf gelegt.

Am andern Morgen sagte Anna Michailowna zu Pierre:

»Ja, mein Freund, das ist für uns alle ein großer Verlust, von Ihnen gar nicht zu reden. Aber Gott wird Ihnen Kraft verleihen, ihn zu tragen; Sie sind jung, und Sie sind jetzt, wie ich hoffe, Herr eines gewaltigen Vermögens. Das Testament ist noch nicht eröffnet. Ich kenne Sie hinreichend und bin überzeugt, daß Ihnen dieser Umschwung nicht den Kopf verdrehen wird; aber es werden Ihnen dadurch auch Pflichten auferlegt, und da müssen Sie sich als Mann zeigen.«

Pierre schwieg.

»Später einmal werde ich Ihnen vielleicht erzählen, daß, wenn ich nicht am Platz gewesen wäre, wohl Gott weiß was geschehen wäre. Sie wissen, daß der liebe Onkel mir noch vorgestern versprochen hatte, für Boris etwas zu tun, daß er aber nicht mehr dazu gekommen ist. Ich hoffe, mein Freund, Sie werden diesen Wunsch Ihres Vaters erfüllen.«

Pierre verstand nichts von dem, was sie sagte, und blickte die Fürstin Anna Michailowna schweigend mit verlegenem Erröten an. Nach diesem Gespräch mit Pierre fuhr Anna Michailowna zu Rostows und legte sich schlafen. Nachdem sie am Vormittag ausgeschlafen hatte, erzählte sie der Familie Rostow und allen Bekannten Einzelheiten vom Tod des Grafen Besuchow. Sie sagte, der Graf sei so gestorben, wie sie selbst einmal zu sterben wünschen würde; sein Ende sei nicht nur rührend, sondern auch erbaulich gewesen. Besonders sei das letzte Zusammensein von Vater und Sohn so ergreifend gewesen, daß sie nicht ohne Tränen daran denken könne; sie wisse nicht, wer sich in diesen furchtbaren Augenblicken schöner benommen habe: der Vater, der in seinen letzten Minuten noch an alles und an alle so freundlich gedacht und so rührende Worte zu seinem Sohn gesprochen habe, oder Pierre, den man gar nicht ohne das tiefste Mitgefühl habe ansehen können, wie niedergeschmettert er gewesen sei, und wie er trotzdem sich bemüht habe, seinen Schmerz zu verbergen, um nicht dem sterbenden Vater das Hinscheiden noch schwerer zu machen. »Es war schmerzlich«, sagte sie, »aber doch auch erhebend; man hat das Gefühl, in reinere Sphären entrückt zu sein, wenn man solche Männer sieht wie den alten Grafen und seinen würdigen Sohn.« Von dem Benehmen der Prinzessin und des Fürsten Wasili erzählte sie gleichfalls, mit ihrer Mißbilligung nicht zurückhaltend, aber nur flüsternd und unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses.