Anna Karenina | Krieg und Frieden

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Anfang Juni ereignete sich ein Unfall: die alte Kinderfrau und Wirtschafterin Agafja Michailowna trug einen Steintopf mit Pilzen, die sie soeben eingesalzen hatte, in den Keller, glitt dabei aus, fiel und verstauchte sich das Handgelenk. Man ließ den Landschaftsarzt kommen, einen jungen, geschwätzigen Menschen, der erst vor kurzem die Universität verlassen hatte. Er untersuchte die Hand, erklärte, sie sei nicht ausgerenkt, und ließ sich mit größtem Vergnügen in ein Gespräch mit dem berühmten Sergei Iwanowitsch Kosnüschew ein; um dabei seine aufgeklärten Anschauungen zum Ausdruck zu bringen, erzählte er ihm alle möglichen Klatschgeschichten aus dem Kreise und führte bittere Klage über die schlechten Zustände in der Verwaltung auf dem Lande. Sergei Iwanowitsch hörte ihm aufmerksam zu und stellte seinerseits manche Fragen; angeregt dadurch, daß er einmal einen neuen Zuhörer hatte, wurde auch er gesprächig, machte einige scharf betonte, gewichtige Bemerkungen, die der junge Arzt mit achtungsvoller Wertschätzung aufnahm, und geriet so in jene, seinem Bruder wohlbekannte, angeregte Stimmung, die sich bei ihm gewöhnlich nach einem lebhaften, geistsprühenden Gespräche einstellte. Nachdem der Arzt wieder weggefahren war, bekam Sergei Iwanowitsch Lust, nach dem Flusse zu fahren, um dort zu angeln. Er angelte gern und war gewissermaßen stolz darauf, daß er es fertigbrachte, an einer so stumpfsinnigen Beschäftigung Geschmack zu finden.

Konstantin Ljewin, der zum Pflügen und auf die Wiesen mußte, erbot sich, den Bruder mit dem Einspänner hinzubringen.

Es war die Zeit des Jahres, wo der Sommer auf seiner Höhe ist: wo die Getreideernte des laufenden Jahres sich bereits veranschlagen läßt; wo die Sorgen um die Aussaat für das künftige Jahr beginnen und die Heuernte heranrückt; wo der Roggen schon ganz in Ähren steht und graugrün mit seinen noch leichten, nicht vollen Ähren im Winde wogt; wo der grüne Hafer, mit den dazwischen verstreuten gelben Grasbüscheln, ungleichmäßig auf den Spätsaaten herauskommt; wo der frühe Buchweizen schon aufblüht und den Erdboden verdeckt; wo die vom Vieh steinhart gestampften Brachfelder zur Hälfte umgepflügt sind, mit Auslassung der Wege, in deren Erdboden der Hakenpflug nicht eindringt; wo die ausgefahrenen, schon etwas angetrockneten Düngerhaufen bei Sonnenuntergang ihren Geruch mit dem des Wiesenklees vereinen und in den Niederungen, der Sense harrend, wie ein zusammenhängendes Meer die wohlbehüteten Wiesen daliegen, mit den schwärzlichen Haufen von ausgejäteten Sauerampferstauden darin.

Es war die Zeit, da in der Feldarbeit vor Beginn der alljährlich sich wiederholenden und alljährlich alle Kräfte der Landbevölkerung in Anspruch nehmenden Ernte eine kurze Ruhepause eintritt. Das Getreide stand prächtig, und es waren nun die hellen, warmen Sommertage mit den taureichen, kurzen Nächten gekommen.

Die Brüder mußten durch einen Wald fahren, um zu den Wiesen zu gelangen. Voll Bewunderung betrachtete Sergei Iwanowitsch die ganze Zeit hindurch die Schönheit des dichtbelaubten Waldes: bald zeigte er seinem Bruder eine alte Linde, die auf der Schattenseite ganz dunkel, nur mit lauter gelben Nebenblättchen gesprenkelt, aussah und nahe daran war, aufzublühen, bald die wie Smaragd glänzenden jungen, heurigen Schößlinge an den Bäumen. Konstantin Ljewin sprach nicht gern über die Schönheit der Natur und hörte nicht gern darüber sprechen. Die Worte beeinträchtigten nach seinem Gefühle die Schönheit dessen, was er sah. Er sagte zu allem, was sein Bruder sprach, ja, begann aber unwillkürlich an andere Dinge zu denken. Als sie aus dem Walde herauskamen, wurde seine ganze Aufmerksamkeit durch den Anblick des sich einen Hügel hinaufziehenden Brachfeldes in Anspruch genommen, das stellenweise mit gelbem Grase bestanden, stellenweise umgeworfen und schachbrettartig zerschnitten, stellenweise mit Düngerhaufen besetzt und stellenweise auch schon geackert war. Über das Feld hin fuhr eine lange Reihe von Fuhren. Ljewin zählte die Wagen und sah mit Befriedigung, daß die nötige Menge angefahren wurde. Beim Anblick der Wiesen gingen seine Gedanken dann zur Frage der Heuernte über. Die Heuernte hatte für ihn immer etwas, was sein Herz besonders nahe anging. Als sie bei der Wiese angelangt waren, hielt Ljewin das Pferd an.

Der Morgentau lag noch reichlich im tieferen Grunde des Grases, und daher bat Sergei Iwanowitsch, um sich nicht die Füße naß zu machen, seinen Bruder, ihn im Einspänner über die Wiese nach dem Weidengebüsch hinzufahren, wo viele Barsche vorhanden zu sein pflegten. So leid es auch Konstantin Ljewin war, sein Gras zu zerdrücken, so fuhr er doch in die Wiese hinein. Das hohe Gras wickelte sich weich um die Räder des Wagens und um die Füße des Pferdes und ließ seinen Samen an den nassen Speichen der Räder und an den Fesseln des Pferdes zurück.

Der Bruder setzte sich unter einen Busch und brachte seine Angeln in Ordnung; Ljewin aber führte das Pferd beiseite, band es an und ging in das von keinem Windhauch bewegte, gewaltige, graugrüne Meer der Wiese hinein. Das seidige Gras mit dem reifenden Samen reichte ihm in dieser Gegend, die durch das jährliche Austreten des Flusses bewässert wurde, fast bis zum Gürtel.

Nachdem er die Wiese quer durchschritten hatte, trat er wieder auf den Weg hinaus und begegnete dort einem alten Manne mit einem verschwollenen Auge, der einen Korb mit einem Bienenschwarm trug.

»Nun, hast du wieder einen neuen Schwarm gefangen, Fomitsch?« fragte er.

»Gott bewahre, Konstantin Dmitrijewitsch! Man kann froh sein, wenn man nur die eigenen behält. Da, dieser Schwarm hier ist mir schon zum zweitenmal davongegangen ... Ein Glück noch, daß die Kinder ihm nachgerannt sind und ihn eingeholt haben. Bei uns wird gerade gepflügt. Da haben sie ein Pferd ausgespannt und sind ihm nachgejagt ...«

»Nun, was meinst du, Fomitsch? Sollen wir mähen, oder sollen wir noch warten?«

»Na ja, nach unserer Regel muß man bis zum Peterstag warten. Aber Sie lassen ja immer schon früher mähen. Na, so Gott will, wird es eine schöne Heuernte werden. Das Vieh wird die Hülle und Fülle haben.«

»Aber wie denkst du über das Wetter?«

»Das steht in Gottes Hand. Vielleicht wird auch das Wetter gut bleiben.«

Ljewin ging wieder zu seinem Bruder.

Dieser hatte noch nichts gefangen; aber er langweilte sich nicht und schien in heiterster Stimmung zu sein. Ljewin sah, daß er, durch das Gespräch mit dem Arzte angeregt, Lust hatte, ein bißchen zu reden. Ljewin hingegen wollte möglichst schnell nach Hause zurück, um das Erforderliche wegen der Beschaffung von Mähern für den nächsten Tag anzuordnen und so seinem Zweifel über die Heuernte, der ihn stark beschäftigte, ein Ende zu machen.

»Nun, komm, dann wollen wir wieder fahren!« sagte er.

»Wozu sollen wir denn so eilen?« erwiderte jener. »Laß uns doch noch ein Weilchen sitzen! Aber was bist du naß geworden! Wenn ich auch nichts fange, es ist doch schön. Jede Art von Jagd hat das Gute, daß man dabei mit der Natur in innige Berührung kommt. Sieh nur, wie wunderhübsch dieses stahlgraue Wasser ist! Diese Wiesenufer«, fuhr er fort, »erinnern mich immer an ein Rätsel – besinnst du dich? Das Gras spricht zum Wasser: ›Wir und schwanken ...‹«

»Ich kenne das Rätsel nicht«, antwortete Ljewin in gedrücktem Tone.

3

»Weißt du, ich habe eben an dich gedacht«, hob Sergei Iwanowitsch von neuem an. »Nach den Erzählungen dieses Arztes zu urteilen, muß es ja bei euch hier im Kreise ganz toll zugehen; und er ist ein ganz intelligenter junger Mensch. Ich habe es dir schon früher einmal gesagt und wiederhole es dir: es ist nicht gut, daß du die Versammlungen nicht mehr besuchst und dich überhaupt von der ganzen Kreisverwaltung zurückgezogen hast. Wenn sich die anständigen Leute davon fernhalten, dann wird natürlich alles Gott weiß was für einen Verlauf nehmen. Wir bezahlen eine ganze Masse Geld; aber das geht für die Gehälter drauf, und von Schulen, Heilgehilfen, Hebammen, Apotheken ist keine Rede; nichts davon ist vorhanden.«

»Ich habe es ja versucht«, antwortete Ljewin leise und widerwillig. »Aber ich kann es nicht. Was soll ich da machen!«

»Aber was kannst du denn nicht? Ich muß gestehen, daß ich das nicht begreife. Gleichgültigkeit oder Verständnislosigkeit sind ja doch bei dir ausgeschlossen; ist es wirklich nur Trägheit von dir?«

»Weder das erste noch das zweite noch das dritte. Ich habe es versucht und habe eingesehen, daß ich dabei nichts zu leisten vermag«, erwiderte Ljewin.

Er hörte ohne rechte Aufmerksamkeit, was sein Bruder sagte. Er blickte über den Fluß hinüber nach dem Ackerlande und bemerkte da etwas Schwarzes, konnte aber nicht erkennen, ob es nur ein Pferd oder der Verwalter zu Pferde sei.

»Warum vermagst du denn nichts zu leisten? Du hast einen Versuch gemacht und deiner Ansicht nach kein Glück damit gehabt, und nun hast du gleich die Flinte ins Korn geworfen. Wie kann man nur so wenig Ehrgeiz haben?«

»Ehrgeiz«, versetzte Ljewin, bei dem dieses Wort einen wunden Punkt getroffen hatte, »was hier der Ehrgeiz soll, verstehe ich nicht! Hätte man mir auf der Universität gesagt, daß andere die Integralrechnung verständen und ich sie nicht verstände, da wäre der Ehrgeiz in Frage gekommen. Hier aber muß man doch zunächst die Überzeugung haben, daß man die für diese Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten besitzt, und namentlich, daß diese ganze Tätigkeit wirklich so wichtig ist.«

»Na, sag mal! Ist denn das etwa nicht wichtig?« rief Sergei Iwanowitsch, etwas verstimmt darüber, daß sein Bruder etwas, wofür er selbst sich interessierte, unwichtig fand, und ganz besonders darüber, daß der Bruder ihm offenbar fast gar nicht zuhörte.

 

»Mir scheint es nicht wichtig, und mich interessiert es nicht; also was verlangst du da weiter von mir?« antwortete Ljewin. Er hatte unterdessen erkannt, daß das, was er in der Ferne sah, der Verwalter war und daß der Verwalter wahrscheinlich die Bauern vom Pflügen entließ, da sie ihre Hakenpflüge umstürzten. ›Sollten sie wirklich schon mit dem Pflügen fertig sein?‹ dachte er.

»Na, aber so höre doch zu!« sagte der ältere Bruder und verzog mißmutig sein schönes, kluges Gesicht. »Es muß doch alles seine Grenzen haben. Es ist ja sehr schön, ein Original zu sein und die Aufrichtigkeit zu lieben und alle Falschheit zu hassen – das weiß ich alles sehr wohl, aber das, was du da sagst, hat entweder gar keinen Sinn, oder es hat einen sehr schlimmen Sinn. Wie kannst du es für unwichtig erachten, daß das Landvolk, das du deiner Versicherung nach liebst ...«

›Das habe ich nie versichert‹, dachte Konstantin Ljewin.

»... ohne Hilfe dahinstirbt? Rohe, unwissende Bauernweiber, die als Geburtshelferinnen dienen, martern die Kinder zu Tode, und das Volk verharrt in tiefster Unwissenheit und ist der Willkür jedes Schreibers preisgegeben; dir aber ist das Mittel, dem abzuhelfen, in die Hand gelegt, und doch schaffst du keine Abhilfe, weil das alles deiner Meinung nach nicht wichtig ist.«

Und Sergei Iwanowitsch stellte ihm die Wahl: »Entweder bist du so wenig intelligent, daß du nicht zu beurteilen vermagst, was du alles leisten kannst, oder du bist nicht geneigt, deine Bequemlichkeit, deinen Stolz oder ich weiß nicht, was sonst noch dranzugehen, um dies zu leisten.«

Konstantin Ljewin fühlte, daß ihm nichts übrigblieb als entweder zu Kreuze zu kriechen oder sich zu einem Mangel an Interesse für das Gemeinwohl zu bekennen. Und das kränkte und ärgerte ihn.

»Es trifft sowohl das eine wie das andere zu«, sagte er in entschlossenem Tone. »Ich sehe keine Möglichkeit ...«

»Wie? Ist es denn unmöglich, bei vernünftiger Verwendung der verfügbaren Geldmittel dem Landvolke ärztliche Beihilfe zugänglich zu machen?«

»Meines Erachtens ist das unmöglich ... Unser Kreis umfaßt viertausend Quadratwerst, und bei der Beschaffenheit unserer Wege zur Zeit der Schneeschmelze, bei unseren Schneestürmen, bei unserer Arbeitszeit sehe ich keine Möglichkeit, an jeder Stelle ärztliche Hilfe darzubieten. Und ich habe auch überhaupt kein Vertrauen zur medizinischen Wissenschaft.«

»Na, erlaube mal, das ist aber doch ungerecht ... Ich könnte dir Tausende von Beispielen anführen ... Nun, und die Schulen?«

»Wozu brauchen wir Schulen?«

»Was redest du da? Kann etwa ein Zweifel an dem Nutzen der Bildung bestehen? Wenn sie für dich gut und nützlich ist, so ist sie es auch für jeden.«

Konstantin Ljewin fühlte sich moralisch an die Wand gedrückt; daher geriet er in Hitze und kam unwillkürlich mit dem Hauptgrunde seiner Gleichgültigkeit gegen das Beste der Gesamtheit heraus.

»Es mag sein, daß das alles ganz gut ist; aber wozu soll ich mir Sorge machen um die Einrichtung ärztlicher Beratungsstellen, die ich doch nie benutzen werde, und um die Einrichtung von Schulen, wohin ich meine Kinder nicht schicken werde und wohin auch die Bauern ihre Kinder nicht werden schicken wollen; und ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob es zweckmäßig ist, daß die Bauernkinder hingehen«, fügte er hinzu.

Sergei Iwanowitsch war einen Augenblick ganz überrascht über diese unerwartete Anschauungsweise; dann aber entwarf er sofort einen neuen Angriffsplan.

Er schwieg ein Weilchen, nahm eine Angel heraus, warf sie an einer anderen Stelle hinein und wandte sich dann lächelnd zu seinem Bruder.

»Na, erlaube mal ... Erstens, eine ärztliche Beratungsstelle hat sich als ein notwendiges Bedürfnis herausgestellt. Wir haben doch eben erst für Agafja Michailowna den Landschaftsarzt von wer weiß wie weit her holen lassen müssen.«

»Na, ich glaube, daß ihre Hand doch krumm bleiben wird.«

»Das ist doch noch die Frage ... Ferner wird ein Bauer, ein Arbeiter, der lesen und schreiben kann, für dich dadurch brauchbarer und wertvoller.«

»Nein, da kannst du fragen, wen du willst«, antwortete Konstantin Ljewin in entschiedenem Tone, »ein Mensch, der lesen und schreiben kann, ist als Arbeiter erheblich schlechter. Na, und die Wege, die lassen sich nicht ausbessern; und die Brücken, kaum daß sie fertig sind, werden sie auch schon gestohlen.«

»Übrigens«, erwiderte mit zusammengezogenen Brauen Sergei Iwanowitsch, der Einreden nicht leiden konnte, und namentlich nicht solche, die unaufhörlich von einem Punkte zum andern hin und her sprangen und ohne allen Zusammenhang neue Gesichtspunkte einführten, so daß man nicht mehr wußte, worauf man antworten sollte. »Übrigens, darum handelt es sich nicht. Erlaube einmal! Gibst du zu, daß die Bildung für das Volk ein Segen ist?«

»Ja, das gebe ich zu«, erwiderte Ljewin, ohne zu überlegen, und wurde sich gleich darauf bewußt, daß er etwas gesagt hatte, was seiner Ansicht nicht entsprach. Er merkte, daß, nachdem er dies zugegeben hatte, ihm bewiesen werden würde, daß er vorher leeres Zeug geredet habe, das eines vernünftigen Sinnes entbehre. Auf welche Weise ihm das bewiesen werden würde, wußte er noch nicht; aber daß es ein unzweifelhafter, logischer Beweis sein werde, das wußte er, und nun erwartete er diesen Beweis.

Die Widerlegung gestaltete sich weit einfacher, als es Konstantin Ljewin erwartet hatte.

»Wenn du sie als einen Segen anerkennst«, sagte Sergei Iwanowitsch, »so kannst du als Ehrenmann nicht umhin, ein solches Werk zu lieben und dich dafür zu interessieren, und daher muß es dir eine Herzenssache sein, dabei mitzuarbeiten.«

»Aber ich gebe ja noch gar nicht zu, daß dieses Werk gut ist«, warf Konstantin Ljewin errötend ein.

»Wie? Aber du sagtest doch eben erst ...«

»Ich meine, ich erkenne es weder als gut noch als möglich an.«

»Das letzte kannst du nicht wissen, ehe du nicht dafür alle Anstrengungen gemacht hast.«

»Na, wollen mal annehmen«, erwiderte Ljewin, obwohl er es ganz und gar nicht annahm, »wollen mal annehmen, die Sache verhielte sich so; so sehe ich trotzdem nicht ein, warum ich mir damit Mühe machen soll.«

»Wie meinst du das?«

»Nein, wenn wir nun doch einmal in ein Gespräch darüber gekommen sind«, sagte Ljewin, »so erkläre mir die Sache auch vom philosophischen Standpunkte aus.«

»Ich verstehe nicht, was hierbei die Philosophie soll«, versetzte Sergei Iwanowitsch, und zwar, wie es Ljewin vorkam, in einem Tone, als wolle er dem Bruder nicht das Recht zuerkennen, über Philosophie mitzureden. Und darüber ärgerte sich Ljewin.

»Was sie hierbei soll? Das will ich dir gleich sagen!« begann er hitzig. »Ich glaube, daß die Triebfeder aller unserer Handlungen doch immer das persönliche Glück ist. Hier nun in unseren Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande vermag ich als Edelmann nichts zu erblicken, was zu meinem Wohlbefinden beitragen könnte. Die Wege sind nicht besser geworden und können nicht besser werden; meine Pferde fahren mich auch auf schlechten Wegen. Ärzte und ärztliche Beratungsstellen habe ich nicht nötig. Den Friedensrichter habe ich nicht nötig; ich habe mich noch nie an ihn gewendet und werde mich nie an ihn wenden. Schulen sind für mich nicht nur entbehrlich, sondern sogar, wie ich dir schon gesagt habe, nachteilig. Ich habe von den Verwaltungseinrichtungen auf dem Lande weiter nichts als die Verpflichtung, achtzehn Kopeken die Deßjatine zu bezahlen, nach der Stadt zu fahren, dort in einem Bette zu schlafen, wo ich von Wanzen zerbissen werde, und alles mögliche sinnlose, widerwärtige Gerede mit anzuhören. Dazu aber treibt mich kein persönliches Interesse an.«

»Erlaube«, unterbrach ihn Sergei Iwanowitsch lächelnd, »ein persönliches Interesse war es auch nicht, das uns dazu antrieb, für die Aufhebung der Leibeigenschaft zu wirken, und wir haben doch dafür gewirkt.«

»Nein«, unterbrach ihn seinerseits wieder Konstantin, der immer hitziger wurde. »Die Aufhebung der Leibeigenschaft, das war eine ganz andere Sache. Dabei lag allerdings ein persönliches Interesse vor. Jene Zustände lasteten wie ein schwerer Druck auf uns, auf allen rechtlich denkenden Menschen, und diesen Druck wollten wir gern loswerden. Aber dazu habe ich keine Lust, als Kreistagsmitglied dazusitzen, darüber zu verhandeln, wieviel Arbeiter zur Ausräumung der Abortgruben erforderlich sind und wie die Wasserleitung in der Stadt angelegt werden soll, wo ich doch gar nicht wohne, oder Geschworener zu sein und über einen Bauern zu Gericht zu sitzen, der einen Schinken gestohlen hat, und sechs Stunden lang all den Unsinn mit anzuhören, den die Verteidiger und Staatsanwälte zusammendreschen, und wie der Vorsitzende meinen alten dämlichen Aljoschka fragt: ›Gestehen Sie zu, Herr Angeklagter, die in Entwendung eines Schinkens bestehende Handlung begangen zu haben?‹ und wie der dann antwortet: ›Hä?‹«

Konstantin Ljewin war von dem eigentlichen Thema bereits ganz abgekommen und fing an, den Vorsitzenden und den dämlichen Aljoschka nachzuahmen; aber seiner Meinung nach gehörte das alles zur Sache.

Sergei Iwanowitsch jedoch zuckte mit den Achseln.

»Nun, was willst du denn eigentlich mit alledem sagen?«

»Ich will damit nur sagen, daß ich die Rechte, die mich und mein eigenes Interesse berühren, jederzeit mit meiner ganzen Kraft verteidigen werde, wie ich denn damals, als bei uns Studenten Haussuchungen gehalten und unsere Briefe von den Gendarmen gelesen wurden, bereit war, mit aller Kraft diese Rechte zu verteidigen und für mein Recht auf Bildung und Freiheit einzutreten. Ich habe Verständnis für die Wehrpflicht, die das Schicksal meiner Kinder, meiner Brüder sowie mein eigenes berührt; über alles, was mich selbst angeht, bin ich bereit, ernstlich nachzudenken; aber über die Verwendung der vierzigtausend Rubel Landschaftsgelder mitzuberaten oder über den halb blödsinnigen Aljoschka zu Gericht zu sitzen, dafür habe ich kein Verständnis, und dazu bin ich nicht imstande.«

Konstantin Ljewin sprach, als ob ein Damm, der seine Worte bisher gehemmt hatte, plötzlich gebrochen wäre. Sergei Iwanowitsch lächelte.

»Aber es kann doch kommen, daß du selbst morgen vor Gericht gezogen wirst; nun, würde es dir dann an genehmer sein, von dem alten Kriminalgericht abgeurteilt zu werden?«

»Ich werde nicht vor Gericht gezogen werden. Ich schneide niemandem den Hals ab und habe kein Gericht nötig. Weißt du«, fuhr er fort und sprang wieder auf etwas ganz Fremdartiges über, »unsere landschaftlichen Einrichtungen und was so drum und dran hängt, das kommt mir alles gerade so vor wie die Birkenstämmchen, die wir zu Pfingsten in die Erde zu stecken pflegten, damit es aussehen sollte wie ein Wäldchen, und ich kann diese Birkenstämmchen nicht von Herzen begießen und nicht an ihr Fortkommen glauben.«

Sergei Iwanowitsch zuckte nur mit den Achseln, um durch diese Gebärde seine Verwunderung darüber auszudrücken, woher in aller Welt auf einmal diese Birkenstämmchen in ihre Erörterungen hineingeraten seien, obwohl er sofort verstanden hatte, was sein Bruder damit sagen wollte.

»Entschuldige, aber auf diese Weise ist keine Auseinandersetzung möglich«, bemerkte er. Aber Konstantin Ljewin legte Wert darauf, sich wegen jenes Mangels zu rechtfertigen, den er an sich kannte, nämlich wegen seiner Gleichgültigkeit gegen das Wohl der Gesamtheit, und fuhr fort:

»Ich glaube«, sagte er, »daß keine Tätigkeit dauerhaft und ersprießlich sein kann, wenn sie nicht im persönlichen Interesse wurzelt. Das ist eine allgemeine, eine philosophische Wahrheit!« Er betonte mit Entschiedenheit das Wort »philosophische«, wie wenn er zeigen wollte, daß er wie jeder andere das Recht habe, über Philosophie zu sprechen.

Sergei Iwanowitsch lächelte abermals. ›Auch der da hat so eine Art von eigener Philosophie, die seinen Neigungen dienen muß‹, dachte er.

»Na, weißt du, von der Philosophie bleib lieber davon!« sagte er. »Die Hauptaufgabe der Philosophie aller Zeiten hat gerade darin bestanden, jene notwendige Verbindung zu erkennen, die zwischen dem persönlichen Interesse und dem allgemeinen Interesse besteht. Aber das gehört nicht zur Sache; folgendes jedoch gehört dazu: ich brauche den Vergleich, dessen du dich bedientest, nur ein wenig zu ändern, um ihn für mich zu verwerten. Die Birkenstämmchen, um die es sich hier handelt, sind keineswegs einfach in die Erde hineingestoßen, sondern manche von ihnen sind eingepflanzt, andere aus Samen gezogen, und man muß mit ihnen recht sorgsam und vorsichtig umgehen. Nur die Völker haben eine Zukunft, nur die Völker kann man geschichtliche Völker nennen, die ein deutliches Gefühl dafür haben, was an ihren Einrichtungen von Wichtigkeit und Bedeutung ist und denen diese Einrichtungen lieb und wert sind.«

 

Und nun trug Sergei Iwanowitsch die Untersuchung auf das philosophisch-historische Gebiet hinüber, auf das ihm Konstantin Ljewin nicht folgen konnte, und wies ihm die ganze Verkehrtheit seiner Ansicht nach.

»Was nun den Umstand anlangt, daß dir diese neuen Einrichtungen nicht gefallen, so liegt das, nimm mir's nicht übel, an unsrer russischen Trägheit und an unserm Herrendünkel; ich bin aber überzeugt, daß das bei dir nur eine zeitweilige Verirrung ist und vorübergehen wird.«

Konstantin schwieg. Er fühlte, daß er auf der ganzen Linie geschlagen war, hatte aber zugleich die Empfindung, daß das, was er hatte sagen wollen, von seinem Bruder nicht verstanden worden war. Er wußte nur nicht, warum es nicht verstanden worden war: ob deshalb, weil er es nicht verstand, seine Meinung klar zum Ausdruck zu bringen, oder weil der Bruder ihn nicht verstehen wollte oder weil er nicht imstande war, ihn zu verstehen. Aber er vertiefte sich nicht weiter in diese Überlegungen, sondern begann, ohne seinem Bruder etwas zu erwidern, über eine ganz andere, ihn persönlich betreffende Angelegenheit nachzudenken.

Sergei Iwanowitsch wickelte die letzte Angel auf, band das Pferd los, und sie fuhren heim.