Anna Karenina | Krieg und Frieden

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33

Kitty wurde auch mit Frau Stahl bekannt, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft zu Warjenka, übte nicht nur einen starken Einfluß auf ihre Lebensanschauungen aus, sondern tröstete sie auch in ihrem Kummer. Sie fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine völlig neue Welt erschloß, die mit ihrer Vergangenheit nichts gemein hatte, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe man mit ruhigem Gemüte auf diese Vergangenheit hinblicken konnte. Es erschloß sich ihr die Erkenntnis, daß es außer dem triebmäßigen Leben, dem sie sich bisher hingegeben hatte, auch ein geistiges Leben gebe. Dieses Leben erschloß sich ihr in der Religion, aber in einer Religion, die nichts gemein hatte mit der, die ihr von Kindheit an bekannt war und ihren Ausdruck darin fand, daß man die Mittagsmesse besuchte und den Abendgottesdienst im Witwenhause, wo man sich mit seinen Bekannten treffen konnte, und daß man beim Geistlichen Bibelstellen in altslawischer Sprache auswendig lernte. Dies war im Gegensatze dazu eine erhabene, geheimnisvolle Religion, die mit einer ganzen Reihe schöner Gedanken und Gefühle verknüpft war, eine Religion, an die man nicht nur glauben konnte, weil es befohlen war, sondern die man auch lieben konnte.

Kitty lernte dies alles nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem lieben Kinde, auf das man mit Freude hinblickt wie auf eine Erinnerung an die eigene Jugendzeit, und deutete nur einmal darauf hin, daß bei allem menschlichen Leide nur Liebe und Glaube Trost gewähren und daß Christus mit jedem menschlichen Kummer, auch mit dem nichtigsten, Mitleid habe; aber dann lenkte sie sofort das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Aber Kitty lernte aus jeder ihrer Bewegungen, aus jedem ihrer Worte, aus jedem ihrer, wie Kitty sie nannte, himmlischen Blicke und namentlich aus ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warjenka erfuhr, aus alledem lernte sie, was das Wichtige war, das sie bis dahin nicht gekannt hatte.

Aber wie edel auch Frau Stahls Charakter war, wie rührend ihre ganze Lebensgeschichte, wie hochsinnig und zärtlich ihre Worte, so nahm Kitty doch an ihr auch einzelne Züge wahr, die sie befremdeten. Sie bemerkte, daß, als sie von Madame Stahl nach ihren Angehörigen befragt wurde und Auskunft gab, diese geringschätzig lächelte, was doch der christlichen Liebe zuwiderlief. Ferner bemerkte sie, als sie einmal Madame Stahl in ihrer Wohnung im Gespräch mit einem katholischen Priester antraf, daß diese geflissentlich ihr Gesicht im Schatten des Lampenschirmes hielt und in eigentümlicher Weise lächelte. So unbedeutend diese beiden Beobachtungen auch waren, so machten sie Kitty doch ganz betroffen und ließen in ihr Zweifel über Frau Stahl aufsteigen. Warjenka dagegen, die so einsam dastand, ohne Verwandte, ohne Freunde, mit einer traurigen Enttäuschung im Herzen, Warjenka, die sich nichts wünschte, über nichts klagte, die war für Kitty jenes schlechthin vollkommene Wesen, von dem sie sich bisher nur in ihrer Einbildungskraft ein Bild geschaffen hatte. An Warjenka hatte sie einsehen gelernt, daß man nur sich selbst zu vergessen und andere zu lieben brauche, um ruhig, glücklich und gut zu sein. Und so zu sein, war Kittys Streben. Nachdem Kitty jetzt erkannt hatte, was jenes Wichtigste war, begnügte sie sich nicht damit, begeistert dafür zu schwärmen, sondern sie gab sich sofort mit ganzer Seele diesem neuen Leben hin, das sich vor ihr aufgetan hatte. Auf Grund von Warjenkas Mitteilungen über das viele Gute, was Madame Stahl und andere von ihr mit Namen genannte Frauen wirkten, arbeitete Kitty sich schon jetzt einen Plan für ihr künftiges Leben aus. Sie wollte, ebenso wie Frau Stahls Nichte Aline, von der ihr Warjenka viel erzählt hatte, wo auch immer sie ihren Wohnsitz haben würde, die Unglücklichen aufsuchen, ihnen helfen soviel als nur irgend möglich, Neue Testamente verteilen, den Kranken, den Verbrechern und den Sterben den aus den Evangelien vorlesen. Der Gedanke, Verbrechern das Evangelium vorzulesen, wie dies Aline tat, hatte für Kitty etwas besonders Reizvolles. Aber alles dies waren geheime Zukunftsträumereien, über die Kitty weder mit ihrer Mutter noch mit Warjenka sprach.

Übrigens fand Kitty in Erwartung der Zeit, da sie ihre Pläne würde in größerem Maßstabe zur Ausführung bringen können, auch bereits jetzt in diesem Badeorte, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, mühelos mancherlei Gelegenheit, ihre neuen Lebensgrundsätze in die Tat umzusetzen und so ihrer Freundin Warjenka nachzueifern.

Anfangs bemerkte die Fürstin nur, daß Kitty sich unter dem starken Einflusse ihres engouement, wie sie es nannte, für Frau Stahl und besonders für Warjenka befand. Sie sah, daß Kitty ihre bewunderte Warjenka nicht nur in deren Tätigkeit nachahmte, sondern diese Nachahmung sich unwillkürlich auch auf deren Art zu gehen, zu sprechen und mit den Augen zu blinzeln erstreckte. Aber später nahm die Fürstin wahr, daß sich bei ihrer Tochter, unabhängig von dieser Bezauberung, eine ernste seelische Umwandlung vollzog.

Die Fürstin sah, daß Kitty abends oft in einem französischen Neuen Testamente las, das ihr von Frau Stahl geschenkt worden war, während sie doch früher dergleichen nie getan hatte; daß sie ihre Bekannten aus den vornehmeren Kreisen mied und mit den Kranken umging, die sich unter Warjenkas Pflege befanden, und namentlich mit der armen Familie eines kranken Malers Petrow. Kitty war augenscheinlich stolz darauf, daß sie bei dieser Familie die Pflichten einer barmherzigen Schwester erfüllte. Alles dies war ganz schön und gut, und die Fürstin hatte nichts dagegen, um so weniger, da Frau Petrowa eine durchaus anständige Frau war und die deutsche Fürstin, der Kittys Tätigkeit bekannt geworden war, sie gelobt und einen Engel des Trostes genannt hatte. Es wäre alles sehr schön gewesen, wenn dabei keine Übertreibung stattgefunden hätte; aber die Fürstin Schtscherbazkaja sah, daß ihre Tochter in Übertreibung hineingeriet, und sprach sich darüber auch zu ihr aus.

»Il ne faut jamais rien outrer«, sagte sie zu ihr.

Aber die Tochter gab ihr keine Antwort; sie dachte nur in ihrem Herzen, daß man von einem Übermaß im christlichen Handeln doch nicht reden könne. Was für ein Übermaß sei denn möglich bei der Befolgung einer Lehre, die befehle, die andere Backe hinzuhalten, wenn man auf die eine einen Schlag erhalte, und auch den Rock hinzugeben, wenn einem der Mantel genommen werde? Der Fürstin aber mißfiel diese Übertreibung, und noch mehr mißfiel es ihr, daß, wie ihr nicht entging, Kitty nicht ihr ganzes Herz vor ihr auf schließen mochte. Denn in der Tat machte Kitty aus ihren neuen Ansichten und Gefühlen der Mutter gegenüber ein Geheimnis. Und sie tat das nicht etwa, weil sie ihre Mutter nicht verehrt und geliebt hätte, sondern lediglich deshalb, weil das eben ihre Mutter war. Sie hätte von dieser ihrer neuen Gemütsrichtung jedem andern eher Kenntnis gegeben als gerade der Mutter.

»Ich wundere mich, daß Anna Pawlowna schon so lange nicht bei uns gewesen ist«, sagte eines Tages die Fürstin (Anna Pawlowna war Frau Petrowas Name). »Ich habe sie aufgefordert; aber ich hatte den Eindruck, als ob sie uns etwas übelgenommen hätte.«

»Ich habe nichts bemerkt, maman«, antwortete Kitty; aber sie war dunkelrot geworden.

»Bist du in letzter Zeit bei ihnen gewesen?«

»Wir haben vor, morgen eine Spazierfahrt in die Berge zu machen«, erwiderte Kitty.

»Nun schön, tut das!« antwortete die Fürstin; sie blickte der Tochter in das verlegene Gesicht und bemühte sich, die Ursache dieser Verwirrung zu erraten.

An demselben Tage kam Warjenka zum Mittagessen und brachte die Mitteilung, Anna Pawlowna habe den Gedanken, morgen in die Berge zu fahren, wieder aufgegeben. Die Fürstin bemerkte, daß Kitty wieder errötete.

»Kitty, hast du vielleicht irgendwelche Mißhelligkeit mit Petrows gehabt?« fragte die Fürstin, als sie beide wieder allein waren. »Warum schickt sie ihre Kinder nicht mehr her und kommt auch selbst nicht mehr zu uns?«

Kitty erwiderte, es sei zwischen ihnen nichts vorgefallen, und sie könne durchaus nicht begreifen, warum Anna Pawlowna, wie es allerdings scheine, auf sie böse sein sollte. Kittys Antwort entsprach durchaus der Wahrheit. Sie kannte den Grund für Anna Pawlownas verändertes Benehmen ihr gegenüber nicht, aber allerdings ahnte sie ihn. Sie ahnte etwas, was sie der Mutter nicht sagen konnte, ja was sie nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Es war eine von den Sachen, die man zwar zu wissen glaubt, über die man aber nicht einmal mit sich selbst deutlich reden mag; so schrecklich und beschämend wäre es, wenn man sich geirrt hätte.

Wieder und wieder ging sie in ihrer Erinnerung alle ihre Beziehungen zu dieser Familie durch. Sie gedachte der unverstellten Freude, die sich immer auf Anna Pawlownas rundem, gutmütigem Gesichte gemalt hatte, sooft sie einander trafen; sie gedachte ihrer geheimen Beratungen über den Kranken, der Verabredungen darüber, wie sie ihn von der ihm ärztlich verbotenen Arbeit abhalten und ihn zu fleißigem Spazierengehen veranlassen könnten; sie dachte an die Anhänglichkeit des jüngsten Knaben, der sie ›meine Kitty‹ nannte und ohne sie nicht schlafen gehen wollte. Wie schön das alles gewesen war! Dann vergegenwärtigte sie sich Petrows entsetzlich abgemagerte Gestalt, mit dem langen Halse, in dem braunen Oberrocke, sein spärliches, gelocktes Haar, seine fragenden blauen Augen, die ihr in der ersten Zeit so schrecklich gewesen waren, und seine peinlichen Anstrengungen, in ihrer Gegenwart frisch und munter zu erscheinen. Sie erinnerte sich, wie schwer es ihr anfangs geworden war, den Widerwillen zu überwinden, den sie gegen ihn wie gegen alle Schwindsüchtigen empfand, und wie sie sich bemüht hatte, einen Stoff zu ersinnen, über den sie mit ihm reden könnte. Sie dachte auch an die schüchternen, gerührten Blicke, mit denen er sie anzusehen pflegte, und an ihre seltsame, aus Mitleid und Unbehaglichkeit gemischte Empfindung, und wie sie dann bei dieser Tätigkeit sich ihrer eigenen Tugendhaftigkeit bewußt gewesen war. Wie schön war das alles gewesen! Aber alles nur in der ersten Zeit. Jetzt seit einigen Tagen war alles plötzlich zunichte geworden. Anna Pawlowna benahm sich gegen sie mit gekünstelter Liebenswürdigkeit und ließ sie und ihren Mann keinen Augenblick unbeobachtet.

 

Sollte vielleicht seine rührende Freude, sooft er sie sah, die Ursache zu Anna Pawlownas kühlem Verhalten sein?

›Ja‹, sagte sich Kitty, in ihren Erinnerungen herumsuchend, ›Anna Pawlowna hatte in ihrem Wesen etwas Unnatürliches, was gar nicht zu ihrer Herzensgüte stimmte, als sie vorgestern ganz ärgerlich sagte: »Da hat er nun die ganze Zeit auf Sie gewartet und hat nicht wollen Kaffee trinken, ehe Sie nicht da wären, obgleich er darüber ganz schwach geworden ist.« – Ja, vielleicht war es ihr auch nicht recht, als ich ihm neulich das Umschlagtuch reichte. Das war doch etwas so Unbedeutendes, Gleichgültiges; aber er nahm das in einer so ungeschickten Weise auf und bedankte sich so lange dafür, daß auch ich ganz verlegen wurde. Und dann die Geschichte mit meinem Bild, das ihm so gut gelungen war. Und besonders seine verwirrten, zärtlichen Blicke! ... Ja, ja, es ist so!‹ dachte Kitty entsetzt. ›Aber nein, das kann, das darf nicht sein! Er ist so bejammernswert!‹ sagte sie bei sich.

Dieser Zweifel verdarb ihr die Freude an ihrer neuen Lebenseinrichtung.

34

Noch vor dem eigentlichen Ende seiner Kurzeit kehrte Fürst Schtscherbazki zu den Seinigen zurück. Nach dem Kuraufenthalte in Karlsbad hatte er noch in Baden und Kissingen russische Bekannte besucht, um, wie er sich ausdrückte, einmal wieder russischen Duft zu riechen.

Die Ansichten des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande standen zueinander in schroffstem Gegensatze. Die Fürstin fand draußen alles schön und herrlich, und obwohl sie in der russischen Gesellschaft eine fest begründete Stellung hatte, bemühte sie sich im Ausland, einer europäischen Dame zu gleichen (was sie eben nicht war, da sie doch Russin war und blieb), und verstellte sich daher, was ihr zum Teil recht unbequem wurde. Der Fürst dagegen fand im Ausland alles greulich, das europäische Leben war ihm widerwärtig, er blieb seinen russischen Gewohnheiten treu und bemühte sich im Auslande absichtlich, sich noch weniger europafreundlich zu zeigen, als er es in Wirklichkeit war.

Der Fürst kehrte magerer zurück, die Haut an seinen Backen hing sackartig herunter; aber er befand sich in höchst vergnügter Stimmung. Seine vergnügte Stimmung steigerte sich noch mehr, als er sah, daß Kitty vollständig wiederhergestellt war. Die Nachricht von Kittys Freundschaft mit Frau Stahl und Warjenka und die Mitteilungen der Fürstin über die von ihr beobachtete Veränderung, die mit Kitty vorgegangen war, machten den Fürsten allerdings stutzig und erregten bei ihm das gewöhnliche Gefühl der Eifersucht gegen alles, wofür sich seine Tochter außer ihm interessierte, und die Befürchtung, die Tochter könnte sich auf ein ihm unzugängliches Gebiet begeben und sich so seinem Einflusse entziehen. Aber diese unangenehmen Nachrichten gingen unter in dem Meere jener Gutmütigkeit und Heiterkeit, die in seinem Wesen lag und durch die Karlsbader Kur noch zugenommen hatte.

Am Tage nach seiner Ankunft ging der Fürst in seinem langen Überrock, mit seinen russischen Runzeln und seinen schwammigen Hängebacken, die von einem steif gestärkten Kragen gestützt wurden, in heiterster Gemütsstimmung mit seiner Tochter zum Brunnen.

Es war ein wunderschöner Morgen: die sauberen, freundlichen Häuschen mit den Gärtchen davor, der Anblick der rotbackigen, rotarmigen, vom Biertrinken kräftigen, fröhlich arbeitenden deutschen Dienstmädchen, dazu die helle Sonne: alles machte das Herz lustig; aber je mehr sie sich dem Brunnen näherten, um so häufiger trafen sie auf Kranke, und ihr Anblick wirkte noch trauriger in dem gewöhnlichen Strom des wohlgeordneten deutschen Lebens. Kitty fühlte sich durch diesen Gegensatz nicht mehr überrascht; der helle Sonnenschein, das heiter glänzende Grün der Bäume und Grasflächen, die Klänge der Musik bildeten nach ihrer Auffassung den natürlichen Rahmen für alle diese bekannten Gesichter und für die Veränderungen zum Schlimmeren oder zum Besseren, die sie an ihnen verfolgte. Dem Fürsten dagegen erschien dieser strahlende Glanz des Junimorgens und die Klänge des Orchesters, das einen flotten Modewalzer spielte, und besonders der Anblick der von Gesundheit strotzenden Dienstmädchen als etwas Unpassendes und Ungeheuerliches in der Nebeneinanderstellung mit diesen traurig einherschleichenden Leichnamen, die sich hier von allen Enden Europas zusammengefunden hatten.

Obgleich er ein Gefühl des Stolzes empfand und ihm sogar beinahe zumute war, wie wenn seine eigene Jugend wiedergekehrt sei, als er so mit seiner Lieblingstochter am Arme einherschritt, so scheute und schämte er sich doch gewissermaßen wegen seines kräftigen Ganges und seiner kernigen, wohlgenährten Glieder. Er hatte eine ähnliche Empfindung, wie wenn jemand unbekleidet in eine Gesellschaft träte.

»Mach mich mit deinen neuen Freunden bekannt!« sagte er zu seiner Tochter und drückte dabei mit dem Ellbogen ihren Arm. »Ich habe sogar dieses garstige Soden liebgewonnen, weil es dich wieder so zurechtgebracht hat. Nur traurig, sehr traurig ist es hier bei euch. Wer ist das hier?«

Kitty nannte ihm die Namen der Begegnenden, mit denen sie Bekanntschaft gemacht oder auch nicht gemacht hatte. Dicht am Eingang in den Kurgarten trafen sie die blinde Madame Berthe mit einer Führerin, und der Fürst freute sich über den gerührten Gesichtsausdruck der alten Französin, als sie Kittys Stimme hörte. Sie zog ihn sofort mit dem echt französischen Überschwange von Liebenswürdigkeit in ein Gespräch, pries ihn glücklich, weil er eine so allerliebste Tochter habe, und erhob Kitty geradezu in den Himmel, indem sie sie, obwohl sie dabeistand, einen wahren Schatz, eine Perle, einen Engel des Trostes nannte.

»Nun, dann ist sie ein Engel zweiten Grades«, erwiderte der Fürst lächelnd. »Als den Engel ersten Grades bezeichnet sie selbst Mademoiselle Warjenka.«

»Oh, Mademoiselle Warjenka, das ist ein wahrhaftiger Engel«, stimmte Madame Berthe bei. »Allez!«

In der Wandelbahn trafen sie auch Warjenka selbst. Sie kam sehr eilig aus der entgegengesetzten Richtung; in der Hand trug sie ein elegantes rotes Täschchen.

»Sehen Sie, nun ist auch mein Papa angekommen!« sagte Kitty zu ihr. Warjenka machte so ungezwungen und natürlich, wie sie alles tat, eine Bewegung, die eine Art Mittelding zwischen Verbeugung und Knicks war, und begann sofort ganz schlicht und ohne Verlegenheit, wie sie mit allen Leuten sprach, mit dem Fürsten zu reden.

»Selbstverständlich kenne ich Sie und sehr genau«, sagte der Fürst zu ihr mit einem Lächeln, an dem Kitty zu ihrer Freude erkannte, daß ihre Freundin dem Vater gefiel. »Wohin wollen Sie denn so eilig?«

»Maman ist hier«, antwortete sie, sich zu Kitty wendend. »Sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, und der Arzt hat ihr geraten, in ihrem Stuhl an die Luft zu fahren. Ich bringe ihr ihre Arbeit.«

»Das ist also der Engel ersten Grades«, sagte der Fürst, nachdem Warjenka sich entfernt hatte.

Kitty sah, daß er Lust hatte, über Warjenka seine Späßchen zu machen, dies aber doch nicht fertigbrachte, weil ihm Warjenka so gut gefallen hatte.

»Nun werde ich hier ja wohl alle deine Freunde kennenlernen«, fügte er hinzu, »auch Madame Stahl, wenn sie mir die Ehre erweist, mich wiederzuerkennen.«

»Hast du sie denn früher gekannt, Papa?« fragte Kitty ängstlich, da sie bemerkt hatte, daß bei Erwähnung der Madame Stahl ein spöttisches Leuchten in den Augen des Fürsten aufgezuckt war.

»Ich habe ihren Mann und sie einigermaßen gekannt, noch ehe sie unter die Pietisten ging.«

»Was sind das, Pietisten, Papa?« fragte Kitty. Sie war schon darüber ganz erschrocken, daß das, was sie an Frau Stahl so hoch schätzte, überhaupt eine bestimmte Benennung haben sollte.

»Ich weiß es selbst nicht genau. Ich weiß nur, daß sie Gott für alles dankt, für jedes Unglück ... selbst dafür, daß ihr Mann gestorben ist, dankt sie Gott. Na, und das kommt etwas komisch heraus, da sie sehr schlecht miteinander gelebt haben ... Wer ist das da? Eine Jammergestalt!« fragte er, als er auf einer Bank einen Kranken bemerkte, einen Mann von hohem Wuchs, in einem braunen Überrock und weißen Beinkleidern, die an seinen fleischlosen, knochigen Beinen seltsame Falten schlugen. Dieser Herr lüftete den Strohhut, den er auf dem spärlichen, lockigen Haare trug; es wurde eine hohe Stirn sichtbar, über die sich von dem Druck des Hutes ein roter Streifen hinzog.

»Das ist der Maler Petrow«, antwortete Kitty errötend. »Und da ist seine Frau«, fügte sie hinzu und zeigte auf Anna Pawlowna, die, wie mit Absicht, gerade in dem Augenblicke, als sie näher kamen, ihrem kleinen Kinde nacheilte, das auf einem Steige davonlief.

»Wie jammervoll er aussieht, und was für ein liebes, gutes Gesicht er hat!« sagte der Fürst. »Warum bist du nicht zu ihm hingegangen? Er schien dir etwas sagen zu wollen.«

»Nun, dann wollen wir hingehen!« versetzte Kitty und wandte sich entschlossen um. »Wie steht es heute mit Ihrem Befinden?« fragte sie den Kranken. Petrow stand, sich auf seinen Stock stützend, auf und blickte den Fürsten schüchtern an.

»Das ist meine Tochter«, sagte der Fürst. »Gestatten Sie mir, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Der Maler verbeugte sich und lächelte, wobei seine weißen, sonderbar glänzenden Zähne sichtbar wurden.

»Wir haben Sie gestern erwartet, Prinzessin«, sagte er zu Kitty.

Er wankte, als er das sagte, und suchte dann durch eine Wiederholung dieser Bewegung den Anschein zu erwecken, als hätte er sie auch zuerst absichtlich gemacht.

»Ich wollte kommen; aber Warjenka sagte mir, Anna Pawlowna lasse bestellen, daß Sie die Spazierfahrt aufgegeben hätten.«

»Wie denn aufgegeben!« versetzte Petrow, der ganz rot im Gesicht wurde und sofort zu husten begann. Er suchte mit den Augen seine Frau. »Anna, Anna!« rief er laut, und an seinem dünnen, weißen Halse traten dicke Adern wie Stricke hervor.

Anna Pawlowna kam herbei.

»Wie konntest du der Prinzessin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« flüsterte er ihr, stimmlos geworden, mit gereiztem Wesen zu.

»Guten Morgen, Prinzessin!« sagte Anna Pawlowna mit einem gemachten Lächeln, das von ihrem früheren Benehmen so grundverschieden war. »Es ist mir sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen«, wandte sie sich zu dem Fürsten. »Sie wurden schon lange hier erwartet, Fürst.«

»Wie konntest du der Prinzessin sagen lassen, wir würden nicht ausfahren?« flüsterte der Maler noch einmal heiser und in noch zornigerem Tone; seine Erregung war offenbar dadurch noch gesteigert worden, daß ihm die Stimme versagte und er dem, was er sagen wollte, nicht den gewünschten Ausdruck zu geben vermochte.

»Mein Gott! Ich dachte, wir würden nicht fahren«, antwortete die Frau ärgerlich.

»Wie konntest du das denken, da ich doch ...« Er kam ins Husten hinein und machte eine still ergebene Bewegung mit der Hand, daß er nicht weiterreden könne.

Der Fürst lüftete den Hut und ging mit seiner Tochter weiter.

»Oh, oh! Diese Unglücklichen!« sagte er schwer seufzend.

»Ja, Papa«, erwiderte Kitty. »Und dabei mußt du wissen, daß sie drei Kinder haben und keinen Dienstboten und so gut wie gar keine Mittel. Er bekommt eine kleine Summe von der Akademie«, erzählte sie lebhaft und suchte dadurch ihre Erregung über Anna Pawlownas so sonderbar ihr gegenüber verändertes Benehmen zu übertäuben. – »Und da ist ja auch Madame Stahl«, sagte Kitty und zeigte auf einen Rollstuhl, auf dem, von Kissen umgeben, in ein grau und blaues Tuch gehüllt, unter einem Sonnenschirme etwas lag. Es war Frau Stahl. Hinter ihr stand ein kräftiger deutscher Dienstmann mit mürrischer Miene, der den Rollstuhl schob. Neben ihr stand ein blonder schwedischer Graf, den Kitty nur dem Namen nach kannte. Mehrere Kranke waren in einiger Entfernung von dem Rollstuhl stehengeblieben und blickten nach dieser Dame wie nach einer außerordentlichen Erscheinung hin. Der Fürst ging auf sie zu, und sogleich bemerkte Kitty wieder in seinen Augen das spöttische Aufleuchten, das ihr so befremdend war. Er trat an Madame Stahl heran und redete sie in jenem ausgezeichneten Französisch, das heutzutage nicht mehr viele zu sprechen verstehen, mit vollendeter Höflichkeit und Liebenswürdigkeit an.

 

»Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern; aber ich muß mich Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen, um Ihnen für die Güte, die Sie meiner Tochter erwiesen haben, zu danken«, sagte er, wobei er den Hut ab genommen hatte und nicht wieder aufsetzte.

»Fürst Alexander Schtscherbazki«, antwortete Madame Stahl und hob ihre himmlischen Augen zu ihm in die Höhe, in denen Kitty aber einen gewissen Ausdruck von Mißvergnügen zu bemerken glaubte. »Ich freue mich sehr. Ich habe Ihre Tochter so sehr liebgewonnen.«

»Ihr Befinden ist noch immer nicht nach Wunsch?«

»Ach, daran bin ich schon gewöhnt«, erwiderte Madame Stahl und stellte den Fürsten und den schwedischen Grafen einander vor.

»Sie haben sich sehr wenig verändert«, sagte der Fürst zu ihr. »Ich habe seit zehn oder elf Jahren nicht die Ehre gehabt, Sie zu sehen.«

»Ja, Gott legt uns das Kreuz auf, aber er verleiht uns auch die Kraft, es zu tragen. Man wundert sich oft, wozu sich dieses Leben so lange hinzieht ... Von der andern Seite!« wandte sie sich ärgerlich an Warjenka, die es ihr beim Einhüllen der Beine in ein Tuch nicht nach Wunsch machte.

»Doch gewiß, damit Sie noch viel Gutes tun können«, versetzte der Fürst; seine Augen lachten.

»Darüber zu urteilen, steht uns nicht zu«, erwiderte Frau Stahl, der die leise Färbung in dem Gesichtsausdruck des Fürsten nicht entgangen war. »Also Sie werden mir dieses Buch schicken, lieber Graf? Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür«, wandte sie sich an den jungen Schweden.

»Ah!« rief der Fürst, als er den Moskauer Obersten erblickte, der in ihrer Nähe stand. Er verbeugte sich vor Frau Stahl, trat mit seiner Tochter von ihr zurück und ging mit dem Obersten, der sich ihnen anschloß, weiter.

»Das ist nun unsere Aristokratie, Fürst!« bemerkte in dem Wunsche, sarkastisch zu sein, der Moskauer Oberst, der über Frau Stahl scharf urteilte, weil er nicht zu ihren Bekannten gehörte.

»Sie ist immer noch dieselbe«, antwortete der Fürst.

»Sie haben sie wohl noch vor ihrer Krankheit gekannt, Fürst? Ich meine, bevor sie sich für die Dauer hingelegt hat?«

»Ja. Ich besinne mich noch auf die näheren Umstände, als sie sich legte.«

»Es heißt, sie stände seit zehn Jahren nicht mehr auf ...«

»Sie steht nicht auf, weil sie sehr kurze Beine hat; sie ist recht schlecht gebaut ...«

»Papa, das ist nicht möglich!« rief Kitty.

»Böse Zungen wollen das behaupten, mein Herzchen. Und deine Warjenka hat auch bei ihr ein schweres Dasein«, fügte er hinzu. »Ja, ja, diese kranken Damen!«

»O nein, Papa«, erwiderte Kitty eifrig. »Warjenka vergöttert sie. Und dann tut sie so viel Gutes! Da kannst du fragen, wen du willst! Sie und Aline Stahl sind überall bekannt.«

»Das kann ja sein«, sagte er und drückte mit seinem Ellbogen ihren Arm. »Aber noch besser ist es, das Gute so zu tun, daß niemand, man mag fragen, wen man will, davon weiß.«

Kitty schwieg; sie hätte wohl etwas zu erwidern gehabt; aber auch dem Vater mochte sie ihre geheimsten Gedanken nicht enthüllen. Aber seltsam: obwohl sie sich dagegen sträubte, sich der Ansicht ihres Vaters unterzuordnen und sie in ihr innerstes Heiligtum aufzunehmen, so fühlte sie doch, daß jenes gottähnliche Bild der Frau Stahl, das sie einen ganzen Monat lang in ihrer Seele getragen hatte, unwiederbringlich verschwunden war, so wie eine Gestalt, die wir in einem hingeworfenen Kleide zu sehen glaubten, verschwindet, sobald wir uns darüber klarwerden, wie das leere Kleid in Wirklichkeit daliegt. Es blieb nur eine kurzbeinige Frau übrig, die dauernd lag, weil sie eine schlechte Figur hatte, und die fügsame Warjenka quälte, wenn sie ihr das Tuch nicht nach Wunsch umwickelte. Und wie sie auch ihre Einbildungskraft anstrengte, es war ihr nicht mehr möglich, sich das frühere Bild der Madame Stahl wiederherzustellen.