Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Z serii: edition lendemains #42
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1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals

Wie bereits erläutert wurde, ist dem Skandal eine gewisse Theatralität zu eigen; er ist ein Kommunikationsprozess, bei dem stets die gleichen Rollen verteilt bzw. Funktionen erfüllt werden. Es handelt sich dabei im Zusammenhang mit Literatur nicht nur um einen hilf­reichen Begriff, weil er ein Modell für einen gesellschaftlichen Prozess bezeichnet, sondern auch, weil er gleichermaßen Funktionen und Formen der literarischen Kommuni­kation transparent macht. Der Autor ist Erzeuger einer literarischen Botschaft, welche (aus diversen denkbaren Gründen) von einem Empfänger, d.h. Rezipienten bzw. Leser als anstößig empfunden wird. Der Text ist ihm ein Skandalon und diese Empörung wird vor und von einer größeren Rezipientenschaft geteilt. Als Folge dieses öffentlichen Skandaldiskurses steht einerseits die endgültige Abstrafung des Werkes und des Autors (im 19. Jahrhundert war die ›Höchststrafe‹ wohl Zensur und Verbot, d.h. ein Titel konnte komplett vom Buch­markt verbannt werden; heute ist dies in westlichen Kulturen kaum denkbar, jedoch kann ein Werk durchaus noch als »nicht-literarisch« bzw. gar »Schund« abqualifiziert werden) oder aber die symbolische Beförderung des Autors zur Galionsfigur der künstlerischen Autonomie oder auch zum »Warner und Mahner«, der Missstände in den öffentlichen Diskurs bringt.1 Zwar kann ein solcher Literaturskandal mehr oder weniger zufällig entstehen, so eben z.B. der Fall Madame Bovary, dessen Ausmaße sicher nur annähernd erahnt werden konnten. Doch sollte der Aspekt der Intentionalität durchaus nicht vernachlässigt werden. Natürlich kann ein literarisches Werk bewusst kontrovers gestaltet werden; der Autor kann es sich zum Ziel setzen, auf möglichst effektvolle Weise problematische, heikle Themen zu thematisieren. Und hierin schlummert auch das kreative Potential des Skandals: »In der Provokation von Aufregung, der öffentlichen Infrage­stellung gesellschaftlicher Ordnungsmuster, dem Überraschen mit neuen ästhetischen Ansätzen und der Anregung von Diskursen können wesentliche Ansprüche moderner Künstler gesehen werden«,2 die natürlich auch der Selbstinszenierung und Aufmerk­samkeitssteigerung dienen. Die intentionale Provokation ist ein performativer Gestus, der auf der Schaubühne des Medienskandals inszeniert wird.3 Andererseits wird damit potentiell ein Austausch über Werte und Normen incentiviert, der einer Wertetrans­formation bzw. –aktualisierung zugute kommen kann. Eine Poetik des Skandals umfasst also einerseits die Ebene der (Rezeptions-)Ästhetik und diesbezüglich die wirkungs­ästhetisch effektvollen Kunstmittel bzw. Textstrategien, derer sich ein Schrift­steller bedienen kann, um den Rezipienten affektiv zu treffen. Die ästhetische Erfahrung kommt einem Sinnenschock gleich, der das Skandalon des Textes ausmachen kann. Andererseits vermag eine Poetik des Skandals aber gleichermaßen ein soziales Engagement seitens des Autors zu implizieren, der im und durch das Kunstwerk strittige, heikle, provokante Themen problematisierend bespricht. Der literarische Text kann also gleichsam als »ethische Handlung« verstanden werden, die dem Rezipienten wiederum eine Form der »ethischen Erfahrung« ermöglicht.

Der Begriff des Skandals bietet also den Vorteil, dass er systematisch die unterschied­lichen Aspekte von (Wirkungs-)Ästhetik einerseits und Ethik andererseits umfasst, die der Diskurs über – lapidar formuliert – »böse Literatur« involviert. Statt von einer Ästhetik des Bösen soll in der Folge vielmehr von einer Ästhetik bzw. Poetik des Skandals die Rede sein. Darüber hinaus lässt sich das Kommunikationsmodell des Skandals auch auf den Text selbst übertragen. Die außerfiktionale Kommunika­tions­situation kann dabei innerfiktional gespiegelt werden. Hierbei wird zunächst nach dem Skandalon gefragt: Worin besteht der Normverstoß und wie wird dieser inszeniert? Der Begriff des Normverstoßes muss dabei weiter ausdifferenziert werden: Wird er bereits im Text als Transgression markiert (also in der Welt des Textes als Verstoß gedacht) oder wird er zum Stein des Anstoßes im eigentlichen Sinne erst im Kontakt mit der außerfiktionalen Bezugswelt des Lesers? Ferner: Wie verhält sich dabei die Erzählinstanz? Wird sie selbst zum Skandalierer, d.h. inszeniert sie den Normverstoß als transgressiv oder enthält sie sich einer Wertung? Und: Wie wird das Publikum »besetzt«? Sind »Leer­stellen«4 vorhanden, d.h. wird der (reale) Leser zu einer (emotionalen, engagierten) Lektüre angeregt? Welche Appellstrukturen enthält der Text? In diesem Zusammenhang kann es auch interessant sein, das Figureninventar zu überprüfen: Sind innerfiktional »Zuschauerfiguren« vorhanden, die die beobachtende Position des realen Lesers spiegeln und damit gegebenenfalls die Rezeption lenken? Dies sollen mitunter Leitfragen für die im Folgenden vorgenommene Textanalyse sein, um damit die spezifischen Wirkungs­weisen, aber auch kontextgebundenen Funktionen der hier rele­van­ten ›skandalträchtigen‹ Texte möglichst umfassend darlegen zu können.

2 Textanalysen
2.1 Gustave Flaubert: Salammbô (1862)
2.1.1 »La bataille de Salammbô«

Oui, on m’engueulera, comptes-y. Salammbô 1° embêtera les bourgeois, c’est-à-dire tout le monde; 2° révoltera les nerfs et le cœur des personnes sensibles; 3° irritera les archéo­logues; 4° semblera inintelligible aux dames; 5° me fera passer pour pédéraste et anthro­pophage. Espérons-le !

Gustave Flaubert, À Ernest Feydeau, 17. August 18611

Im Jahre 1862 erscheint sechs Jahre nach der Veröffentlichung von Madame Bovary Flauberts großer historischer Roman Salammbô, der gleichfalls die Gemüter der Leser erhitzen sollte. Wie Flaubert in einem Brief an Ernest Feydeau einräumt, ist ihm die potentielle Skandalträchtigkeit seines Werkes durchaus bewusst, gar intendiert. Und tatsächlich sollte er sich in einigen der Punkte bestätigt sehen: Die Radikalität seiner Gewaltimaginationen würde die (bourgeoise) Leserschaft schockieren, seine romaneske Rekonstitution des antiken Karthagos wiederum Kritik seitens der Archäologie auf den Plan rufen. Neben durchaus favorablen Reaktionen seitens u.a. Georges Sands, der Gebrüder Goncourt und Théophile Gautiers, waren jedoch vor allem zwei Kritiken besonders harsch: Einerseits der in drei Artikeln (des 8., 15. und 22. Dezembers) im Constitutionnel erschienene Kommentar Sainte-Beuves sowie der in der Dezember-Ausgabe der Revue contemporaine 1862 erschienene Aufsatz des Archäologen Guillaume Froehner. Insbeson­dere letzterer kritisierte die vermeintlich unwissenschaftliche Vor­gehens­weise Flauberts im Umgang mit archäologischen und historischen Quellen und Kenntnissen über eine bis dato kaum erforschte Episode der vorchristlichen Geschichte. Flaubert antwortete auf beide Kritiken mit ausführlichen Stellungnahmen, in denen er sich gegen die an ihn gerichteten Vorwürfe verteidigte. Den Antwortbrief an Froehner fügte er tatsächlich auch einer späteren Ausgabe von Salammbô hinzu.2

Allein die Sujetwahl musste überraschen: Nach Madame Bovary erwartete man sich ein weiteres Werk, das gleichermaßen eine im zeitgenössischen Frankreich angesiedelte Intrige präsentieren würde.3 Doch Flaubert suchte bewusst ein Sujet, das zeitlich und örtlich möglichst entlegen sein sollte.4 So recher­chierte er intensiv die Geschichte der punischen Kriege und der Söldneraufstände, die Sitten und Riten des antiken Karthagos, konsultierte dabei die Weltgeschichte des Polybius sowie Michelets Histoire romaine. Und was er nicht über Quellen erschließen konnte, entnahm er der Bibel als Zeitzeugnis oder zeitgenössischen Reiseberichten. Dabei berief er sich gleichermaßen auf seine eigenen Erkundungen der Ruinen Karthagos.5 Diese »induktive Methode«6 des hypothetischen Ergänzens wurde ihm schließlich angekreidet. Für Froehner waren damit die Grenzen des Vermö­gensbereichs der Literatur überschritten: »Les romanciers, mécontents de leurs ressources restreintes ou épuisées, ont plus d’une fois empiété sur le domaine de la science«.7 Salammbô sei lediglich ein »bric-à-brac confus et ennuyeux qui n’est pas de la science et n’est pas non plus du roman«.8 Die großen Streitpunkte bezüglich des Romans waren also einerseits die Frage nach dem Zusammenhang von Fiktion und Wissen­schaftlichkeit bzw. nach der Abgrenzung der jeweiligen Zuständigkeitsbereiche, die Frage nach Aktu­alität und Brisanz des Stoffes (man erwartete sich ein realistisches Werk) und darüber hinaus die vraisemblance der Intrige bzw. der Figuren.9 Es entbrannte damit also ein veritabler Literaturstreit, bei dem sich Flaubert gezwungen sah, die Vorwürfe in Bezug auf seine Vorgehensweise zu widerlegen.

Die Kritik richtet sich darüber hinaus jedoch auch auf die spezifische Leseerfahrung, die der Roman zeitigt. So steht das Romankolorit im Zeichen radikaler Alterität: Handlung, Ort, Dekor scheinen »étrange et bizarre«.10 Bei Gautier wird diese Fremdartigkeit noch positiv als visionäre Zeitreise qua Imagination bewertet:

La lecture de Salammbô est une des plus violentes sensations intellectuelles qu’on puisse éprouver. Dès les premières pages, on est transporté dans un monde étrange, inconnu, surchauffé de soleil, bariolé de couleurs éclatantes, étincelant de pierreries au milieu d’une atmosphère vertigineuse, où se mêlent aux émanations des parfums les vapeurs du sang. Le spectacle de la barbarie africaine, avec ses magnificences bizarres, ses idoles bestiales, ses cultes féroces, son symbolisme difforme, sa stratégie de belluaire […] se déroule devant vous dans un éblouissement de lumière, comme si les rideaux du passé s'écartaient brusquement tirés par une main puissante, découvrant un théâtre où le décor des siècles a été laissé en place, au lieu de retourner au magasin de l’éternité.11

 

Gleichsam wird hier aber auf den Leseakt selbst verwiesen, der quasi zur Tour de force wird. Und dies nicht zuletzt aufgrund der höchst schauerlichen Grausamkeit, die Flaubert vornehmlich in den Schlachten-Szenen inszeniert. Und Sainte-Beuves Kritik gibt Flauberts Vermutung, man würde ihn nach Salammbô für einen Päderasten und Kannibalen halten, im Grunde Recht, wenn er ihn ob seiner sadistischen Schreibweise anklagt:

il invente, sur la fin de ces funérailles, des supplices, des mutilations de cadavres, des horreurs singulières, raffinées, immondes. Une pointe d’imagination sadique se mêle à ces descriptions, déjà bien assez fortes dans leur réalité. Il y a là un travers qu’il faut absolument oser signaler. Si j’avais affaire à un auteur mort, je dirais qu’il y a peut-être chez lui un défaut de l’âme; mais comme nous connaissons tous M. Flaubert comme très vivant, que nous l’aimons et qu’il nous aime, qu’il est cordial, généreux, bon, une des meilleures et des plus droites natures qui existent, je dis hardiment: il y a là un défaut de goût et un vice d’école. La peur de la sensiblerie, de la pleurnicherie bourgeoise l’a jeté, de parti pris, dans l’excès contraire: il cultive l’atrocité. L’homme est bon, excellent, le livre est cruel. Il croit que c’est une preuve de force que de paraître inhumain dans ses livres. (meine Hervorhebung)12

In seiner grausamen Anschaulichkeit, in der imaginativen Übersteigerung einer in sich bereits grausamen Realität liege der »défaut de goût«, den Sainte-Beuve beanstandet. Flaubert wird hier zum grausamen, gar unmenschlichen (»inhumain«) Erzähler, dem es an Empathie für den Leser fehle.13 Eine solche Schonungslosigkeit wird ihm denn auch andernorts attestiert, so z.B. bei George Sand, doch erkennt sie diese als eine durch das Sujet bedingte Notwendigkeit an. Als Vergleich zieht sie niemand geringeren als Dante heran, dem Flaubert in seiner schrecklichen Vorstellungskraft kaum nachstehe: »Son imagination est aussi féconde, sa peinture est aussi terrible que celle du Dante. […] Il n’épargne pas davantage les délicatesses du spectateur, parce qu’il ne veut point farder l’horreur de sa vision. Il est formidable comme l’abîme.«14 Und wenn sich dem zartbe­saiteten Leser nun die Haare aufstellen würden, dann nur, weil es dem Erzähler gelungen sei, ein Bild von außerordentlicher Lebhaftigkeit zu kreieren.

So waren die Reaktionen auf Flauberts zweiten großen Roman von Beginn an gespalten, wenn sie auch allesamt die außerordentliche Intensität der Darstellung anerkennen. Auf ähnliche Weise divergieren die Lesarten, die die Literaturkritik hervorgebracht hat bzw. die Blickpunkte, unter denen der Roman untersucht wurde. So bemerkt Küpper, »[w]ie ein erratischer Block steht Salammbô da im Kontext des Œuvres seines Autors, aber auch der anderen Texte der Zeit und entzieht sich bis auf den heutigen Tag allen Einordnungen.«15 So steht der Text einerseits in der Tradition des historischen Romans, bricht aber gleichsam mit dem Modell, für das Walter Scott Pate steht, indem er geschichts­philosophische Prämis­sen von Kontinuität und Fortschritt ausblendet.16 Andererseits präfiguriert Salammbô die ästhetizistische Grundposition der Dekadenzliteratur und wird in seiner Inkommensurabilität paradigmatisch als ästhetisches Konstrukt lesbar.17 Es existieren damit quasi zwei Interpretationsachsen, die unterschiedliche Aspekte des Romans privilegieren.18 Im ersten Ansatz wird die radikale Alterität19 der Inszenierung eines mythologischen Kosmos betont; Karthago als Schauplatz wird damit zum Evasions­raum, der sich dem Verständnis des mo­der­nen rationalen Bewusstseins versperrt.20 Dem zweiten Ansatz zufolge wird Salammbô als »Allegorie des zeitgenössischen Frankreichs« lesbar.21 Der Roman erscheint in diesem Licht vor allem als Verar­beitung und Transposition konkreter geschichtlicher Erfahrun­gen aus dem von Revolu­tionen erschüt­terten Frankreich.

Für die vorliegende Untersuchung ist natürlich das dem Text inhärente Schockpotential von eminentem Interesse. Die außerordentliche Rezeptionsgeschichte des Werkes zeigt, dass es als livre cruel bis heute zu verstören, schockieren und irritieren vermag. Die unterschied­lichen Gesichtspunkte, die in dieser Hinsicht maßgeblich erscheinen, sollen näher beleuchtet werden, sodass das Reizpotential des Textes einerseits auf textueller Ebene lokalisiert werden kann: Worin besteht das inhaltliche Skandalon des Textes und wie wird dieses literarisch (d.h. mit welchen stilistischen Mitteln) gestaltet? Und letztendlich: Welche Normen sind betroffen und werden sowohl poetisch als auch moralisch neu verhandelt?22

2.1.2 »Un livre cruel«: Flauberts Schreibweisen der Grausamkeit

Der Roman setzt ein mit einem ausschweifenden Festgelage des Söldnerheers, das für Karthago den Punischen Krieg entschieden hatte, in den Gärten des Hamilcars. Von Beginn an wird die Szene durch die Exotik des Ambientes beherrscht, eine Stimmung der rohen Ausgelassenheit, des sich steigernden Rausches. Die Söldner, die mit wachsender Trunken­heit gleichsam aggressiver werden (»A mesure qu’augmentait leur ivresse, ils se rappelaient de plus en plus l’injustice de Carthage«; S 47),1 erhitzen sich gegen Karthago, das sie nicht für ihre militärischen Dienste entlohnt hatte. Die sich im Rausch schürende Aggression richtet sich schließlich gegen Hamilcar, der stellvertretend für das karthagische Volk als Sündenbock fungiert: »Ils se souvinrent d’Hamilcar. Où était-il? Pourquoi les avoir abandonnés, la paix conclue? […] Leur haine inassouvie retombait sur lui: et il le maudis­saient s’exaspérant les uns les autres par leur propre colère.« (S 52) Die Gewaltbereitschaft, die sich wie eine Kontagion von einem zum anderen überträgt, eruptiert schließlich in einem veritablen Blutrausch:

[…] il se fit un rassemblement sous les platanes. C’était pour voir un nègre qui se roulait en battant le sol avec ses membres […]. Quelqu’un cria qu’il était empoisonné. Tous se crurent empoisonnés. Ils tombèrent sur les esclaves; une clameur épouvantable s’éleva, et un vertige de destruction tourbillonna sur l’armée ivre. Ils frappaient au hasard, autour d’eux, ils brisaient, ils tuaient: quelques-uns lancèrent des flambeaux dans les feuillages; d’autres, s’accoudant sur la balustrade des lions, les massacrèrent à coups de flèches; les plus hardis coururent aux éléphants, ils voulaient leur abattre la trompe et manger de l’ivoire. (S 52f.; meine Hervor­hebung)

In zwei kurzen Sätzen beschreibt Flaubert hier den plötzlichen Übergang von Agitation in eine Massenpanik, oder besser: einen Massenblutrausch: »Quelqu’un cria qu’il était empoisonné. Tous se crurent empoisonnés.« Der hier im Parallelismus vorgeführte Wechsel des Numerus (aus »il« werden »tous«) markiert den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Die ohnehin angespannte, gewaltbereite Menge lässt sich willig vom Rausch der Zerstörung (»vertige de destruction«) hinfort tragen. Bezeichnend für Flauberts Erzählstil ist hier die (Wahrnehmungs-)Perspektive, welche weitestgehend unbestimmt bleibt bzw. mit der der Menge korrespondiert. Die Distanz, die durch ein auktoriales Einmischen des Erzählers erzeugt würde, wird dergestalt reduziert. Gleichwohl entspricht die Undeterminiertheit der Passage (»Quelqu’un«, »tous«) im Grunde der Massenwahr­nehmung, dem kollektiven Empfinden.

Es folgt ein entfesselter, manischer Blutrausch: »ils frappaient au hasard«, »ils brisaient, ils tuaient«. Stilistisch setzt sich die Sogwirkung des Gewaltrauschs in einer längeren Periode um, die in ihrer enumerativen Ausgestaltung die plötzliche Allgegenwart der Gewalt markiert. Die interne Fokalisierung, d.h. die Adaption der Söldnerperspektive, erlaubt dem Leser hier die »Einfühlung« bzw. die Partizipation am rauschhaften Gelage, die eine auktoriale bzw. externe Erzählposition in dieser Form kaum gewährleistet würde.

Die Schändung des Gartens Hamilcars gipfelt schließlich in einem finalen Akt der Transgression, der Tötung der heiligen Fische der Barca:

Mais ils aperçurent un petit lac, divisé en plusieurs bassins par des murailles des pierres bleues. L’onde était si limpide que les flammes des torches tremblaient jusqu’au fond, sur un lit de cailloux blancs et de poussière d’or. Elle se mit à bouillonner, des paillettes lumineuses glissèrent, et de gros poissons, qui portaient des pierreries à la gueule, apparurent vers la surface. Les soldats, en riant beaucoup, leur passèrent les doigts dans les ouïes et les apportèrent sur les tables. C’étaient les poissons de la famille Barca. Tous descendaient de ces lottes primordiales qui avaient fait éclore l’œuf mystique où se cachait la Déesse. L’idée de commettre un sacrilège ranima la gourmandise des Mercenaires; ils placèrent vite du feu sous des vases d’airain et s’amusèrent à regarder les beaux poissons se débattre dans l’eau bouillante. (S 54)

Das Bild, das Flaubert von den heiligen Fischen zeichnet, ist ein ästhetisch wohl kompo­niertes: Sie schwimmen in einem mit weißen Steinen und Goldstaub ausgelegtem Becken, sind selbst mit Edelsteinen verziert. Der Gedanke, diese erhabenen Geschöpfe nun zu braten, erfüllt die Söldner mit »gourmandise«, mit Gier und Fresslust, und voll sadistischer Lust beobachten sie die sich im Todeskampf windenden Fische. In dieser Szene wird erstmals konkret ein Gewaltakt mit dem Paradigma der Lust konfiguriert. Die bewusste Transgression (»L’idée de commettre un sacrilège ranima la gourmandise«), die in der sadistischen Tötung der heiligen Tiere besteht (denn sie lebend in das kochende Wasser zu geben ist besonders qualvoll), wird zu einem ästhetisch ansprechenden, schönen Schauspiel (»beaux poissons«). Damit fungiert die Eingangsszene quasi als amuse-gueule, das in vielerlei Hinsicht auf das Kommende vorbereitet.

Im darauffolgenden Kapitel »A Sicca« verlässt das vorerst mit Goldstücken vertröstete Söldnerheer Karthago, um in Sicca sein Lager aufzurichten. Auf dem Marsch durch das karthagische Umland offenbart sich ihnen ein schauerlicher Anblick: Eine Vielzahl gekreuzigter Löwen säumen die Felder.

Ils marchaient dans une sorte de grand couloir bordé par deux chaînes de monticules rougeâtres, quand une odeur nauséabonde vint les frapper aux narines, et ils crurent voir au haut d’un caroubier quelque chose d’extraordinaire: une tête de lion se dressait au-dessus des feuilles. (S 75)

Auch hier folgt die Erzählung wieder der Wahrnehmung des Söldnerheers, dessen Blick damit auch der Leser adaptiert. Das Tableau wird graduell ausgebreitet: Noch bevor überhaupt der über Blätter eines Johannisbrotbaums ragende Löwenkopf erblickt wird, kündet ein widerwärtiger Gestank – der, wie sich in der Folge erweisen wird, von der Verwesung der Tiere hervorrührt – von der außergewöhnlichen Entdeckung, die die Söld­ner machen werden:

Ils y coururent. C’était un lion, attaché à une croix par les quatre membres comme un criminel. Son mufle énorme lui retombait sur la poitrine, et ses deux pattes antérieures, disparaissant à demi sous l’abondance de sa crinière, étaient largement écartées comme les deux ailes d’un oiseau. Ses côtes, une à une, saillissaient sous sa peau tendue; ses jambes de derrière, clouées l’une contre l’autre, remontaient un peu; et du sang noir, coulant parmi ses poils, avait amassé des stalactites au bas de sa queue qui pendait toute droite le long de la croix. Les soldats se divertirent autour; ils l’appelaient consul et citoyen de Rome et lui jetèrent des cailloux dans les yeux, pour faire envoler les moucherons. (S 75)

Was sie zunächst nur zu sehen glaubten, bestätigt sich nun: Die Söldner finden einen ans Kreuz geschlagenen Löwen vor sich. Und so wie sich die Barbaren dem Tier nähern, so tut dies auch der Blick, der den Darstellungsgegenstand nun in allen Details registriert: die auf die Brust hinab gesunkene Schnauze, die enorme Mähne, die die wie Flügel gespreizten Vorderläufe halb bedeckt; das Blut, das wie Stalaktiten von seinem Schwanz tropft. Auch hier ist die Darstellung durchaus nicht neutral, sondern eignet einer gewissen Poetizität, die dem schrecklichen (und an sich Widerwillen erregenden) Tableau – wenn auch subtil – eine besondere Erhabenheit verschafft. Zwar folgt hier der Blick der Wahrnehmung der Söldner, d.h. es herrscht quasi Simultaneität zwischen Leser- und Figurenperspektive. Doch qualitativ erfolgt die Beschreibung der Szenerie kaum aus der Perspektive der Barbaren. Hier tritt das für Flaubert quasi charakteristische Phänomen der Polyphonie auf, bei der sich Figuren- und Erzählstimmen überblenden.2 Dies wird besonders deutlich am spezifischen Darstel­lungsmodus, konkreter den Vergleichen, derer sich der Erzähler bedient, um sein Bild zu zeichnen: Die Vorderpfoten sind ausgebreitet »comme les deux ailes d’un oiseau« und das herab rinnende Blut formt »des stalactites«. Dabei handelt es sich um Bilder poetischer Natur, die kaum den Barbaren zuzuordnen sind, sondern einem eloquenten Erzähler, der dergestalt den per se schaurigen Anblick eines verwesenden toten Löwen ästhetisiert. Nicht zuletzt klingt dabei natürlich in gewissem Maße auch die Thematik der Passion Christi an. In diesem Sinne scheint der gemarterte Körper des Tieres als groteskes Abbild der Christusfigur – ein Bild, das in der Folge noch durch das »divertissement« der Barbaren, die den Löwen mit Steinen bewerfen, pervertiert wird. Die symbolischen Anklänge dieser Szene laden nun sicherlich dazu ein, nach potenziellen allegorischen Bedeutungsebenen zu fragen. Auf das Fehlen eben dieser verweist Bohrer in seinem Aufsatz von 1985. Das Bild des erhabenen Raubtiers, das nicht zuletzt für Wildheit, Mut und Stärke steht, im Zustand der Verwesung sei ein machtvolles, doch eines, das schweigt. Durch die Abstraktion dieses spannungsvollen Tableaus werde »jedoch keine Reflexion gewonnen, die im Gefühl der Trauer um die entstellte Natur endete«.3 Ihm zufolge handele es sich vielmehr um eine Umkehrung des christlichen Symbols des Kreuzes als um eine Blasphemie: Im Grunde werde das im Christentum bedeutungsvolle Symbol entleert.

 

Inwiefern das Löwenopfer ein tatsächlich sinnloses ist, erweist sich in der Folge. Der Blick, der sich auf den gekreuzigten Löwen richtete, wird hier nicht verweilen. Er schwenkt in die Ferne und mit einem Mal eröffnet sich eine schaurige Perspektive:

Cent pas plus loin ils en virent deux autres, puis tout à coup parut une longue file de croix supportant des lions. Les uns étaient morts depuis si longtemps qu’il ne restait plus contre les bois que le débris de leurs squelettes; d’autres à moitié rongés tordaient la gueule en faisant une horrible grimace; il y en avait d’énormes, l’arbre de la croix pliait sous eux et ils se balançaient au vent, tandis que sur leur tête des bandes de corbeaux tournoyaient dans l’air, sans jamais s’arrêter. Ainsi se vengeaient les paysans carthaginois quand ils avaient pris quelque bête féroce; ils espéraient par cet exemple terrifier les autres. Les Barbares, cessant de rire, tombèrent dans un long étonnement. »Quel est ce peuple, pensaient-ils, qui s’amuse à crucifier les lions!« (S 75f.)

Es offenbart sich eine Armada gekreuzigter Löwen, die sich allesamt in unterschiedlichen Verwesungsstadien befinden, einige bereits skelettiert, andere zernagt, die Schnauze zu entsetzlichen Fratzen verzerrt. Damit bedient sich Flaubert hier natürlich quasi universeller Ekelmotive, die dem Bereich der Verwesung angehören. Noch wirksamer gestaltet sich das Tableau jedoch durch den Hinweis auf die Sinnlosigkeit dieses Zerstörungswillens: Die Kreuzigung der Löwen ist ein fragwürdiger Racheakt der karthagischen Bauern, die damit andere Raubtiere abzuschrecken glauben. Hier wird die Entleerung des Kreuzsymbols quasi komplettiert, wie Friedrich bemerkt: »Die Verwesung der Löwen negiert die Auferstehung, und die Vervielfältigung der gekreuzigten Löwen steht dem Gedanken der Einzigartigkeit der Kreuzigung entgegen.«4 Ihre Deutung korrigiert die Annahme Bohrers, es handele sich um ein Außerkraftsetzen der christlichen Symbolik, insofern, als sie darauf hinweist, dass der christliche Bezugshorizont erst einmal Bestand haben muss, bevor er negiert werden kann. So argumentiert sie, dass trotz der ästhetischen Sperrung des Gegenstands gegenüber einer historisch-christlichen Deutung dennoch der Versuch geleistet würde, »in Salammbô die symbolische Welt des Christentums doch blasphemisch zu evozieren«.5

Funktional kommt damit der Szene eine besondere Bedeutung zu: Einerseits relativiert sie die Barbarei der Söldner in dem Maße, dass diese, nachdem sie im vorangehenden Kapitel im Gewaltrausch den Garten des Hamilcar schändeten, nun selbst vor Entsetzen erstarren. Auf diese Weise wird die Opposition zwischen den sogenannten Barbaren und den vermeint­lich zivilisierten Karthagern nivelliert. Andererseits wirkt die Szene vorbereitend auf die den Söldneranführern bevorstehende Kreuzigung nach der Niederlage im Engpass: »Mais Hamilcar voulut d’abord montrer aux Mercenaires qu’il les châtierait comme des esclaves. Il fit crucifier les dix ambassadeurs, les uns près des autres, sur un monticule, en face de la ville.« (S 437). Ähnlich wie die karthagischen Bauern lässt auch Hamilcar die Söldner zu demonstrativen Zwecken ans Kreuz nageln. Innerfiktional wird das Tableau der gekreuzig­ten Löwen quasi zum Vorzeichen des grausamen Todes, der die Barbaren erwartet.

Als Repräsentant des Todes fungiert das Bild des Löwen schlussendlich auch, als die letzten Überlebenden des Söldnerheers nach der Schlacht am Engpass von Löwen verzehrt werden. Erneut wird ein Schreckensbild der Verwesung evoziert:

Sur l’étendue de la plaine, des lions et des cadavres étaient couchés, et les morts se confondaient avec des vêtements et des armures. A presque tous le visage ou bien un bras manquait; quelques-uns paraissaient intacts encore; d’autres étaient desséchés complètement et des crânes poudreux emplissaient des casques; des pieds qui n’avaient plus de chair sortaient tout droit des cnémides, des squelettes gardaient leurs manteaux; des ossements, nettoyés par le soleil, faisaient des taches luisantes au milieu du sable. Les lions reposaient, la poitrine contre le sol et les deux pattes allongées, tout en clignant leurs paupières sous l’éclat du jour, exagéré par la réverbération des roches blanches. D’autres, assis sur leur croupe, regardaient fixement devant eux; ou bien, à demi perdus dans leurs grosses crinières, ils dormaient roulés en boule, et tous avaient l’air repus, las, ennuyés. Ils étaient immobiles comme la montagne et comme les morts. (S 454f.)

In der quasi zeugmatischen Zusammenfügung »des lions et des cadavres étaient couchés« figuriert die symbolische Konjunktion des Bildes des Löwen und der Idee der Zerstörung bzw. des Todes. Inmitten von partiell erhaltenen Leichenteilen, Skeletten, verstaubter und verdreckter Kleidung und Waffen ruhen die Löwen gesättigt, müde und gelangweilt wie nach einem Festmahl. Sind sie in der Kreuzigungsszene noch selbst Gegenstand der Verwesung, werden sie hier zum Todbringer, obgleich offengelassen wird, wie genau die übrigen Söldner zu Tode gekommen sind. Flaubert beschränkt sich hier auf die Beschrei­bung des »Danach«; der Leser erfährt lediglich von Narr’Havas Unternehmen, die sich stetig vermehrenden Löwen in die Nähe des Engpasses zu treiben, um nach einiger Zeit einen Boten auszusenden und zu sehen, »ce qui restait des Barbares« (S 454). So wird der Vorstellungskraft überlassen, die Agonie des Todeskampfes, die dem Bild der Zerstörung und Verwesung vorausgeht, kreativ zu ergänzen.

Sicherlich einer der bemerkenswertesten Aspekte des Romans ist die detaillierte Versprach­lichung der Schlachten, die in Länge und Intensität an die Grenzen des sprichwört­lichen guten Geschmacks rühren. Nicht zuletzt aufgrund der Darstellung exzessiver Grausamkeit stieß Flaubert mit Salammbô auf Unmut. Die Schlachtenszenen sind zahlreich, doch soll im Folgenden repräsentativ die Schlacht am Makar beleuchtet werden.6 Nachdem es zeitweilig so schien, als könnten die Barbaren gegen das kartha­gische Heer bestehen, nachdem Kugeln pfiffen, Schwerter klirrten, Menschen erdrückt, zermalmt, erstochen, zerschlagen wurden, ruft Hamilcar seine zu ultimativen Kriegs­maschinen gerüsteten Elefanten auf den Plan. Mit Spießen, Panzern und an den Stoß­zähnen mit scharfen Klingen bestückt stürmen diese nun die Barbaren:

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