Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Z serii: edition lendemains #42
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Letztlich aber bleibt das Obszöne im Grunde diffus bzw. historisch und kulturell variabel. Die hier angestellten Ausführungen sind natürlich nicht exhaustiv, führen aber die besondere Problematik des Werturteils »obszön« vor. An dieser Stelle kann Sandra Schwab sicherlich zugestimmt werden, wenn sie schreibt: »Vielleicht ist obszön kein ontologisch zu bestimmender Wert, sondern ein ästhetisches Urteil wie gut oder hässlich, um nur zwei Beispiele zu nennen.«21

1.2.6 Zwischenfazit

Um sich einer Schockästhetik als rezeptionsästhetischem Phänomen zu nähern, ist es unerlässlich, die Theorie über ästhetische Erfahrung und (ästhetische) Empfindungen heranzuziehen. Für die vorliegende Untersuchung sind dabei ästhetische Grenz­erfahrungen relevant, die den Rezipienten im Kunstgenuss sowohl sinnlich als auch geistig ›überfor­dern‹. In diesem Zusammenhang ist der Diskurs über das Erhabene als Erlebnis­kategorie aufgerufen worden, der auch noch in der Gegenwartsliteratur Anwendung finden kann: Der Ekel und das Obszöne manifestieren sich als moderne Formen des Erhabenen, insofern sie Momente größter emotionaler bzw. sinnlicher Intensität darstellen, die es für den Rezi­pienten zu bewältigen gilt. Für die Analyse der hier diskutierten Texte ist damit maß­geblich, inwiefern diese ästhetische Grenzerfahrungen produzieren: Welcher Art ist der durch den Text produzierte Effekt, d.h. wird Ekel bzw. Abscheu induziert oder wird durch einen Bruch mit der bienséance das sittliche Empfinden und das Schamgefühl des Lesers verletzt? Oder soll – wie es beispielsweise die proklamierte Wirkungsabsicht de Sades ist – das obszöne Zeichen gar der Erregung des Lesers dienen? Und ferner: Sind die kunstver­mittelten Erfahrungen noch assimilierbar bzw. geistig-reflexiv zu bewältigen (wie es die Theorie des Erhabenen vorsieht) oder sollen sie den Leser bzw. Zuschauer aus dem ästhetischen Kunstraum des interesselosen Wohlgefallens herausführen? Besonders auch für Pasolini, Nove, Ammaniti und Houellebecq stellt sich dabei die Frage, ob die Schock­produktion die Reflexion befördert, indem sie zum emotional engagierten Nach­voll­zug anregt, oder ob sie eine reflexive Verhandlung der von den Texten vorgestellten Problem­zusammenhänge sogar behindert.

1.3 Das Böse und ethische Implikationen
1.3.1 Vorverständnis von Ethik und Moral

Berührungsängste, die in der Vergangenheit in der Literaturkritik in Bezug auf ethische Implikationen von Kunst aufkamen, sind vermutlich weitestgehend auf ein diffuses Verständnis der Begrifflichkeiten von Moral und Ethik zurückzuführen. In der Tat aber sind die beiden Begriffe nicht miteinander gleichzusetzen. Mit Niklas Luhmann lässt sich vielmehr die folgende Differenzierung vornehmen: Ethik ist die »Beschreibung der Moral«1 bzw. die »Reflexionstheorie der Moral«.2 Die Moral bezeichnet also den norma­tiven Bereich der sittlichen Lebensführung, d.h. den präskriptiven Normen­apparat. Die Ethik wiederum dient als Beschreibungsorgan eben dieser. Ihr liegt die Frage »Wie soll ich leben?« zugrunde. Diese Distinktion lässt sich Marcus Düwell zufolge auch mit den Begriff­lichkeiten der »Strebensethik« und »Sollensethik« vornehmen: Erstere ist zukunftsorientiert und beschäftigt sich mit der Frage nach einem guten und gelungenen Leben, wohingegen die Sollensethik den Bereich der moralisch-normativen Fragen selbst darstellt.3 Die Moral benennt damit also die »Artikulierung [der ethischen] Ausrichtung in Normen«, welche sich »durch ihren Universalitätsanspruch sowie durch einen Zwangs­charakter aus[zeichnen]«.4 Die ethische Grundprämisse des geglückten Lebens impliziert dabei natürlich gleichsam die Verantwortung gegenüber dem Anderen.5 Während die Moral also präskriptiv ist, invol­viert der Begriff der Ethik die »Selbstbe­fragung des Individuums« in Hinblick auf geglückte Lebensführung »mit seiner unum­gänglichen Verantwortung«.6

1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung

Nachdem Überlegungen zu den (wirkungs-)ästhetischen Qualitäten des Bösen angestellt worden sind und im Zuge dessen die Schwierigkeit angedeutet wurde, die von Bohrer geforderte absolute Distanz zum Phänomen des Bösen einzunehmen, soll nun ein ›gemäßig­tes‹ Konzept von Ästhetik erarbeitet werden, das vielmehr genuin ethische Aspekte der ästhetischen Erfahrung inkludiert. In einem solchen Verständnis sind Ethik und Ästhetik nicht zwei einander ausschließende Extrempole,1 sondern greifen inein­ander.2 Eine »dem ästhetischen Bereich inhärente Ethik« erläutert Wolfgang Welsch in seinem Beitrag zur »Ästhet/hik«.3 Er führt hier vor, wie die aisthesis in ihrer Doppel­funktion als reflexive, erkenntnisfördernde Wahrnehmung einerseits und sinnen­hafte Empfindung andererseits immer schon einem vitalen Imperativ gehorcht: »Sie dient dem Leben, dem Sich-am-Leben-Erhalten und Überleben – noch nicht dem guten Leben«.4 Denn während die Empfindung durch die Eingebung von Lust- und Unlustgefühlen eine vitale Schutzfunktion vor allem Schadhaften bei gleichzeitiger Bewertung von dem Körper Bekömmlichem übernimmt, fungiert auch die Wahrnehmung auf ähnliche Weise zugunsten »der Erkenntnis des Nützlichen oder Schädlichen, Zuträglichen oder Abträg­lichen und der Auslösung eines entsprechenden Verhaltens«.5 Und diese Vitalfunktion der aisthesis gehe dem »eleva­torischen Imperativ« der reflexiv-distanzierten Lust des ästhetischen Wohlgefallens immer schon voraus.6 Welsch plädiert in Abgrenzung zu einer paradoxerweise sinnen­feindlichen Ästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert von Baumgarten und Schiller entworfen wurde, hinge­gen für eine Ästhetik der Gerechtigkeit7 bzw. eine Ästhet/hik oder »Kultur des blinden Flecks«:

[Die Kultur des blinden Flecks] wäre eine Kultur, die prinzipiell für Ausschlüsse, Verwerfungen, Andersheiten sensibel wäre. Sie verschriebe sich nicht einem Kult des Sichtbaren, Evidenten, Glänzenden, Prangenden – nicht also dem gegenwärtigen Ästhe­ti­sierungstrubel –, sondern dem Verdrängten, den Leerzonen, den Zwischen­räumen, der Alterität. Dem würde sich ihre Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetischen, sondern ebenso in lebensweltlichen, sozialen, politischen Kontexten zuwenden. [...] Denn das genannte ästhetische Bewußtsein macht an der Grenze der Kunstsphäre nicht Halt. Es überträgt sich vielmehr – analog – auch auf die Lebensverhältnisse, auf soziale und lebensweltliche Konstellationen. Und es tut das konsequent und legitim. Anders gesagt: Auch die hier zuletzt skizzierte Ästhetik ist eine Ästhet/hik. Ebenso wie für ästhetische Konstellationen ist sie für lebens­weltliche Verhältnisse einschlä­gig. 8

Eine Ästhetik, die nicht rigoros das Geistig-Reflexive der Wahrnehmung und damit die Selbstbezüglichkeit der Form überprivilegiert, sondern offen ist für das Roh-Sinnenhafte ist auch gleichsam eine Ästhet/hik – also eine Erfahrung, der das Moment des Ethischen bereits eingeschrieben ist.

Wie im Vorfeld bereits unter Berücksichtigung von Martin Seels Konzeption von ästhetischer Erfahrung erläutert wurde, ist diese stets in gewisser Weise an die Lebenswelt des wahrnehmenden Subjekts gebunden. Kunst kann sich die außerliterarische Wirk­lichkeit verfremdend, überzeichnend, karikierend, stilisierend, poetisierend etc. anverwan­deln, doch ein Bezug bleibt in gewisser Weise erhalten bzw. wird durch den Rezipienten erst hergestellt.9 Sie aktiviert dergestalt eine Reflexion über die Lebenswelt des Wahrneh­mungs­subjekts und enthält damit einen ethischen Impetus: »Die ästhetische Erfahrung hat eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit den möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebniswelten und Empfindungsqualitäten konfrontiert. Daher ist die ästhetische Erfahrung immer auch mit einem emotional engagierten Erfahrungsvollzug verbunden.«10 In der aisthesis verquicken sich demnach Sinnlichkeit, Empfindung und Reflexivität. Ästhetischer Genuss ist weniger eine rein intellektuelle Tätigkeit als ein Beieinander welt- und selbstbe­zogener Impulse. Und letztendlich ist es überhaupt erst die ästhetische Erfahrung, die ethische Reflexionen ermöglicht, denn Kunst ist eben nicht ausschließlich ein rein theore­tisches Konstrukt, das im Reiz der Imagination besteht: »Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten. Der ästhetische Vollzug einer Erfahrung gewährt einen Spielraum gegenüber der ange­eigneten Erfahrung, der im Prozeß dieser Erfahrung durchgehend wirksam bleibt.« 11

1.3.3 Der ethical turn und narrative Ethik

Seit den 1980er, im Besonderen den 1990er Jahren wird eben jene Potentialität des geschriebenen Textes neu erkundet: Die ethische Bedeutungsdimension der Literatur rückt nunmehr wieder in den Fokus. Dieser ethical turn vollzog sich vor allem im anglo­amerikanischen Raum als Antwort auf das spielerische anything goes der Postmoderne: Der ethical criticism sei Vernon W. Gras zufolge das »centripetal product of post­modernism«, quasi die Antwort auf ein zunehmendes Sehnen nach Sinnstiftung innerhalb einer Welt, die sich durch Kontingenzerfahrungen, die Inkommensurabilität von Werten und einen abso­luten Relativismus auszeichne.1 Die Wiederbelebung2 eines wertekri­tischen und ethisch orientierten Dialogs über Kunst gestaltet sich damit im Wesentlichen als Alternative zu Ansätzen wie Poststrukturalismus und Dekonstruk­tivismus.3

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Wayne C. Booth sowie die neuaristotelische Philosophin Martha C. Nussbaum u.a. machten eine Auffassung von Literatur stark, der zufolge Texte gleichsam Modelle ethischen Verhaltens abbilden:

 

literary theory can improve the self-understanding of ethical theory by confronting it with a distinctive conception or conceptions of various aspects of human ethical life, realized in a form that is the most appropriate one for their expression. Insofar as great literature has moved and engaged the hearts and minds of its readers, it has established already its claim to be taken seriously when we work through the alternative conceptions.4

Die Literatur wird in dieser Anschauung gleichsam zum Artikulationsorgan ethischer Theorie, in dem moralische Normen und Werturteile vor allen Dingen auch emotional nachvollzogen werden. Wayne C. Booth konzipiert Literatur als Ausdruck der moralischen Anschauungen eines impliziten Autors.5 Dem gegenüber steht die Unausweichlichkeit des moralischen Urteils seitens des Lesers, der – wie indeterminiert der Text in Bezug auf didaktische Inhalte auch sein mag – stets und unweigerlich um Erkenntnis und Verständnis bemüht sei:

Regardless of whether we surrender to a given fictions’s world in blissful identi­fication or virtuously maintain a nice critical distance, we after all experience what we experience. Even those fictions that openly reject all human or pragmatic appeals, even those aggressively plotless works that seem made up entirely of verbal experimentation, offer an experience that changes the live of their readers, those readers who engage themselves sufficiently to find a life in the works.6

Hier wird auch besonders deutlich, dass der ethical criticism im Grunde gleichsam eine Rezeptionsästhetik ist.7 Das ethische Potential eines Textes ausschöpfen zu wollen setzt gleichermaßen die Bereitschaft des Lesers voraus, sich auf eine solche Lesart einzulassen – eben jene Leser, »who engage themselves sufficiently to find a life in the works«.

Auf dem »Befund, dass ethische Beurteilungen ihrem problematischen Verständnis nach in literaturwissenschaftlichen Analysen kaum zu vermeiden sind, wenn man ästhetische, historische oder gesellschaftskritische Urteile in die Interpretation mit einbeziehen möchte«, fußt dann auch der Ansatz der narrativen Ethik, die vor allen Dingen im germanophonen Raum erarbeitet wurde.8 Der Begriff der »narrativen Ethik«9 kann dabei erstens das erzählende Besprechen von Problemen ethischer Natur meinen; zweitens die Analyse von erzählend bzw. narrativ vermittelten moralischen Gegenständen, d.h. von typisch didaktischen Erzählformen wie Exempla, Märchen, Erzählungen etc.; drittens aber wird damit ein grundlegender Aspekt der Ethik selbst bezeichnet. Die Ethik sei narrativ strukturiert, d.h. »Handeln und (Er)Leben des Menschen [lassen] sich mittels der Narrativität deuten«.10 Dem liegt die anthropologische Annahme zugrunde, dass der Mensch sich selbst, die Welt und ihre Zusammenhänge durch das Erzählen zu verstehen sucht. Dies impliziert einerseits das immer schon narrative Sein des Menschen, dessen eigentliche Essenz in der Geschichtlichkeit selbst liegt bzw. in seinem »Verstricktsein in Geschichten«.11 Mit Alasdair MacIntyre ist das Leben selbst bereits narrativ strukturiert: »Stories are lived before they are told – except in the case of fiction.«12 Andererseits involviert dies gleichsam den sinnkonstituierenden Nachvollzug durch das Erzählen selbst als Kommunikations- und Verstehenspraxis. Schreiben und Lesen sind, wie Waldow mit Rekurs auf Foucault (v.a. L’Herméneutique du sujet, 1981–1982) herausstellt, Praktiken der Selbstsorge: Einerseits kann sich das Subjekt im Schreiben einer Erzählung veräußern, sich überhaupt erst konstituieren, indem es zu sich selbst und dem Geschriebenen in ein reflexi­ves Verhältnis tritt; andererseits ist das Schreiben gleichsam der Ort der Begegnung mit dem Anderen, des (Erfahrungs-)Austausches. Mit Foucault gesprochen sei damit die Selbstsorge im Sinne der Subjektkonstitution eine »genuin ethische Aufgabe und Lesen und Schreiben sind letztlich ethische Handlungen«.13 In dieser grundsätzlichen Kommunika­tivität des Erzählens bzw. in der damit begründeten Möglichkeit des Perspektiv­wechsels liegt das ethische Potenzial der Kunst: »selbst wenn sie [Narrationen] noch so eng an der Realität orientiert sind, bilden sie diese doch nie einfach ab, sondern entwerfen eigene und neue Perspektiven. […] Eine Geschichte ist eine Möglichkeit, die Welt anders zu sehen und sogar: eine andere Welt zu sehen.«14 Damit ist die Fiktion (genauer: die Erzählung) ein imagina­tiver Erfahrungs­raum, in dem sich das Subjekt selbst erproben kann. Literatur als Kommuni­ka­tion(sprozess) ist qua natura dem ethischen Bestreben um Austausch, Erkenntnis, (Selbst-)Erprobung und Behauptung dienlich.15

Genau wie auch ein das Ästhetische verabsolutierender Ansatz unhaltbar bzw. nur eingeschränkt anwendbar scheint, so ist aber auch diese literaturtheoretische Herangehens­weise problematisch, wenn sie absolut gesetzt wird. Zwar mag es, wie vor allem in Bezug auf Bohrer schon diskutiert wurde, kaum realistisch erscheinen, im Besonderen in Konfrontation mit ästhetischen Grenzphänomenen frei von moralischen Urteilen zu bleiben und die Pose des distanzierten Dandys einzunehmen. Doch ist es sicherlich gleicher­maßen heikel, einen im Grunde didaktischen Anspruch an einen jeden Text stellen zu wollen (auch wenn Booth sicherlich insofern Recht gegeben werden kann, dass selbst ein postmoderner Text, der keinen mimetischen Wirklichkeitsbezug mehr herstellen will, trotzdem noch eine gewisse ›ethische‹ Erfahrung produzieren kann: Indem er letztendlich auf die Kontingenz und Arbitrarität alles Zeichenhaften und die Vergeblichkeit der Sinngebung verweist…).16 Den literarischen Text also als »Handlungsanweisung« zu lesen, wie es eine literarische Ethik nach Booth und Nussbaum vorschlägt, scheint kaum eine Alternative zu den ausschließlich das ästhetische Spiel überprivilegierenden Theorien darzustellen, denn bei einem solchen Ansatz würde wiederum, wie Frings sicherlich zu Recht kritisiert, »das Moralische dem Ästhetischen klar über[ge]ordnet«.17 Dennoch soll hier durchaus als Grundannahme etabliert werden, dass dem Akt des Lesens ein ethisches Moment inne ist.

Konkret bedeutet dies im Zusammenhang mit dem hier diskutierten Phänomen des Bösen und des ästhetischen Schocks: Es sollen sowohl ästhetische Qualitäten literarischer Grenzphänomene in Hinblick auf ihre formale, semantische Beschaffenheit und kreative Ausgestaltung herausgearbeitet werden, als auch in Bezug auf ihre ethischen Implikationen. Wenngleich die Wirkungen eines Textes/Kunstwerks bisweilen unabsehbar sind und natürlich von der tatsächlichen Rezeptionseinstellung des konkreten Lesers abhängen, so können bestimmte literarische Strategien dennoch gezielt zur Erzeugung eines bestimmten Effekts eingesetzt werden. Demnach kann gefragt werden: Welche Wirkungen, Stim­mungen, (ästhetischen) Emotionen werden generiert? Und: Wie ist der Text beschaf­fen, dass diese Wirkungen, Stimmungen, (ästhetischen) Emotionen erzeugt werden? Dies schließt also in der Reflexion einerseits den Text in seiner Materialität, aber auch den Leser als fühlendes, denkendes Subjekt mit ein. Andererseits darf mit Rekurs auf die Theorie des ethical criticism aber auch wieder legitim nach den ethischen Implikationen eines Textes gefragt werden:

Der ästhetische Taktstock des Erzählens impliziert und intendiert Wirkungen in starker (Schock, Sympathie) oder in schwächerer Form. Dies kann dazu benutzt werden, eindeutige Werthorizonte zu sichern, oder diese zu erschüttern oder auch den Rezipienten dazu aufzufordern, Wertorientierungen selbst zu finden. Da der Autor aber ästhetischen Gesetzen folgt, auch dann, wenn er ein experimentelles Regelfindungsspiel aufzieht, kann man ihn nicht unmittelbar bei moralischen Implikationen greifen, aber man darf der Interpretation eines Werkes durchaus zumuten, auch diese moralischen Implikationen zu erhellen.18

Es geht also darum, auch in der durch Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus geprägten Postmoderne die ethische Dimension eines Textes nicht auszuklammern. In diesem Sinne kann auch das Böse wieder zum Gegenstand der Reflexion werden: Gibt es heute überhaupt noch ein Böses und ein Verständnis von Sünde? Oder ist alles dem totalen Relativismus und ästhetischen Spiel verfallen? Es soll im Folgenden demnach eine Lesart befördert werden, die möglichst beiden Aspekten Rechnung trägt und dabei sowohl Text als auch Leser als Konstanten der Interpretation ausgeglichen mit einbezieht. Denn unsere Imaginationsbegabung ermöglicht uns die fiktive Erprobung unserer Überzeu­gungen und eben auch ihre Korrektur bzw. Modifikation. Literatur kann ästhetischen Genuss bereiten, aber – wenn dieses Angebot durch den Leser angenommen wird – auch handlungsweisend sein. Mit Paul Ricœur lässt sich daher festhalten:

[I]m irrealen Bereich der Fiktion erforschen wir unablässig neue Bewertungsweisen für Handlungen und Figuren. Die Gedankenexperimente, die wir im großen Laboratorium der Einbildung durchführen, sind auch Forschungsreisen durch das Reich des Guten und des Bösen. Etwas umzuwerten, möglicherweise sogar abzu­werten bedeutet immer noch, es zu bewerten. Das moralische Urteil ist nicht abge­schafft, es ist vielmehr selbst den der Fiktion eigenen imaginativen Variationen unterstellt. Dank dieser Bewertungsübungen im Bereich der Fiktion kann die Erzählung letzten Endes ihre Erschließungs- und Verwandlungsfunktion gegenüber dem Empfinden und Handeln des Lesers in der Phase der Refiguration der Handlung durch die Erzählung ausüben. [meine Hervorhebung]19

Vielleicht kann nicht präzise festgeschrieben werden, was das Böse konzeptuell ist, insofern ein festes Koordinatensystem über den Unterschied von Gut und Böse geliefert würde, doch kann die Literatur dahingehend befragt werden. Dies ist letztlich auch ein Anliegen, das an die hier untersuchten Texte herangetragen wird: Sind Flauberts und Mirbeaus Texte allein Ausdruck eines Autonomiestrebens bzw. dient die provokative Schockästhetik allein der Freisetzung ästhetischer Energie oder ist darüber hinaus ein ethisches Interesse zu verzeich­nen? Ähnliche Fragen lassen sich auch für Nove, Ammaniti und Houellebecq formulieren: Sind Anleihen bei Splatter, Pornographie und Trash ausschließlich effi­ziente Marketing­strategien und postmodernes Spiel oder verbirgt sich dahinter gleichwohl eine humanistisch ausgerichtete und gesellschaftskritische Botschaft?