Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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Z serii: edition lendemains #42
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1.2 Das Böse und Wirkungsästhetik
1.2.1 Das Böse und (ästhetische) Empfindungen

L’art de la Poësie & l’art de la Peinture ne sont jamais plus applaudis que lorsqu’ils ont réüssi à nous affliger.1

Jean-Baptiste Du Bos, Réflexions critiques sur la poësie et sur la peinture

Nur wenn ein Kunstwerk in der Lage ist, uns zu betrüben, handelt es sich um ein wirklich gelungenes Kunstwerk, heißt es in den Réflexions critiques (1719) von Jean-Baptiste Du Bos. Damit wird die wirkungsästhetische Dimension des Kunstwirkens betont, die bereits in der aristotelischen Poetik fest verankert ist: die Ebene der Affekte bzw. der ästhetischen Empfindungen oder auch der Emotionen. Schon die antike Tragödie suchte, durch das Hervorrufen von phobos und eleos die Katharsis zu effektuieren,2 und auch für die Lite­ratur des 18. Jahrhunderts wurde das sentiment essentiell: Man denke dabei nur an Rous­seaus Julie, ou la Nouvelle Héloïse (1761), Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) oder Samuel Richardsons Pamela, or Virtue Rewarded (1740). Gewiss wurde die Beto­nung des Emotionalen – besonders als Wirkziel der Dichtung – im Zuge der Ausbil­dung einer Autonomieästhetik zunehmend in Verruf gebracht, sodass es nunmehr in den Bereich der Trivialliteratur verbannt wurde.3 Wie H.R. Jauß diesbezüglich bemerkt, »wird […] weithin ästhetische Erfahrung erst dann als genuin angesehen, wenn sie allen Genuß hinter sich gelassen und sich auf die Stufe ästhetischer Reflexion erhoben hat«.4 Und dieser Genuss besteht gerade auch in der emotionalen Lektüre, im »selbst- und realitätsvergessene[n] Aufgehen des Lesers in der Welt der Fiktion«,5 in der spielerischen Partizipation an der fiktiven Welt.6 So zeichnet sich besonders in den letzten Jahren ein neues Interesse an sprachlichen Kodierungen von Emotionen in der Literatur ab und den Möglichkeiten der Kunst, im Rezipienten eine emotionale Reaktion abzurufen.7

Relevant für eine Ästhetik des Bösen wird diese Dimension des Kunstschaffens im Zusammenhang mit dem eigentümlichen Wirkungspotential des Bösen, das ihm allein schon durch das subversive Moment der Grenzüberschreitung eingeschrieben ist. Die Skandal­er­folge der Schriftsteller Baudelaire (Les Fleurs du mal, 1857), Flaubert (Madame Bovary, 1857; Salammbô, 1862), Lautréamont (Les Chants de Maldoror, 1869) und J.-K. Huysmans (A rebours, 1884) belegen die außerordentliche Wirkung, die ihre Werke auf das bürgerliche Publikum haben sollten: rechtliche Strafver­folgung aufgrund von Belei­digung der öffent­lichen Moral und/oder Zensur. Wenn sich Flaubert von dem Vorwurf, mit Madame Bovary den Ehebruch zu befürworten, freisprechen konnte, dann nur mit dem Verweis darauf, dass es im Gegenteil um eine »excitation à la vertu par l’horreur du vice« ginge, und der Verfasser kaum dafür angeklagt werden könne, dass er die Realität so abbilde, wie sie ist.8 Tatsache ist, dass sein Werk als anstößig empfunden wurde. Dem ließe sich sicherlich hinzufügen, dass die Kunst dabei in ihrer Autonomie verkannt wird, d.h. dass jene Leser, die sich ob der vermeint­lich unmoralischen Botschaft des Werkes entrüsten, nicht über die erforderliche ästhetische Distanz im Rezeptionsakt verfügen: ein Zeugnis von »literarischer Inkompe­tenz«, welche im Falle Flauberts von der Protagonistin Emma mit ihrer romantisch-verklärenden Lesesucht selbst veranschaulicht wird.9

Das emotionale Lesen bildet damit wohl den Gegenpol zu der »göttlichen Perspektive«, der es nach Bohrer bei der Lektüre bedarf. Wenn bei ihm das Böse als ästhetische Kate­gorie erscheint, die einen positiven Lustgewinn durch imaginative Entgrenzung ermöglicht, dann wird auch hier der ›bösen Literatur‹ das Vermögen zugestanden, den Rezipienten zu bewegen – doch das hierbei resultierende Vergnügen ist intellektueller Art. Es setzt gera­de­zu voraus, dass Emotionen moralischer Natur ausgeschaltet werden. Und erneut muss daher gefragt werden: Wie kann sich auch der geübteste, literarisch gebildete Leser einer sponta­nen affektiven Reaktion auf den vorstellbar gemachten Gegenstand erwehren? Kann überhaupt vom »Bösen« gesprochen werden, wenn es nicht zuallererst intuitiv, emotional und spontan als solches wahrgenommen wird? Alt verneint dies entschieden: »[D]er sich im literarischen Text vollziehenden Aufhebung der ethischen Wertung steht die Unaus­weichlichkeit eben dieser Wertung im Akt der Rezeption gegenüber«.10 Ohne dabei allzu sehr vorauszugreifen, soll dies kurz anhand eines Gedichtes Baudelaires veranschaulicht werden, und zwar »A celle qui est trop gaie«, welches zu den »Pièces condamnées« gehört, die nach dem Prozess um die Fleurs du mal aus der ursprünglichen Fassung getilgt wurden. Dieses mutet zunächst wie ein klassischer Lobgesang auf die Schönheit der Geliebten an, schlägt jedoch bald um in eine Gewaltimagination, bei der das lyrische Ich die als allzu belastend empfundene Reinheit der Geliebten in einer als lustvoll erlebten Mordphantasie zu vernichten sucht:

  Ta tête, ton geste, ton air

  Sont beaux comme un beau paysage;

  Le rire joue en ton visage

 4 Comme un vent frais dans un ciel clair.

  […]

  Les retentissantes couleurs

  Dont tu parsèmes tes toilettes

  Jettent dans l’esprit des poètes

 12 L’image d’un ballet de fleurs.

 

  Ces robes folles sont l’emblème

  De ton esprit bariolé;

  Folle dont je suis affolé,

 16 Je te haïs autant que je t’aime!

 

  Quelquefois dans un beau jardin

  Où je traînais mon atonie,

  J’ai senti, comme une ironie,

 20 Le soleil déchirer mon sein;

 

  Et le printemps et la verdure

  Ont tant humilié mon cœur,

  Que j’ai puni sur une fleur

 24 L’insolence de la Nature.

 

  Ainsi je voudrais, une nuit,

  Quand l’heure des voluptés sonne,

  Vers les trésors de ta personne,

 28 Comme un lâche, ramper sans bruit,

 

  Pour châtier ta chair joyeuse,

  Pour meurtrir ton sein pardonné,

  Et faire à ton flanc étonné

 32 Une blessure large et creuse,

 

  Et, vertigineuse douceur!

  À travers ces lèvres nouvelles,

  Plus éclatantes et plus belles,

 36 T’infuser mon venin, ma sœur!12

Als »böse« ist hier wohl der nach moralisch-ethischen Maßstäben unmotivierte Gewaltakt zu qualifizieren, den das lyrische Ich imaginiert. »Brisanz« gewinnt die hier vorstellbar gemachte Mordphantasie durch ihre besondere Verfasstheit: Der Kontrast von zunächst traditionell anmutendem Lobpreis auf die Schönheit und Unschuld der Geliebten mit der Erörterung der starken Aggression, die diese (wider Erwarten) im lyrischen Ich freisetzt, verleiht dem Gedicht eine besondere Pointiertheit. Im Grunde der Dramaturgie von Poes The Black Cat nicht unähnlich inszeniert Baudelaire hier die Pervertierung der ursprüng­lich reinen Liebe in Hass und sadistische Lust bzw. expliziert einen Zustand, in dem sich Liebe und destruktive Wollust vereinen (»Je te haïs autant que je t’aime«, V. 16).13 Und besonders provokant ist in diesem Zusammenhang eben genau das Moment der Lust, das der Gewaltimagination eingeschrieben ist: »vertigineuse douceur!« (V. 33) Der empha­tische Ausdruck der Lust am Bösen präsentiert das Abseitige als Quell des Vergnügens. Was auf der rationalen Ebene als verwerflich gelten muss, wird auf der sprachlichen Ebene positiv besetzt, und zwar affektiv mit Zeichen der Lust. Der Mord ist schwindelnde Süße, die dem Opfer zugefügte Wunde schön. Bei der Lektüre dieses Gedichts realisiert sich, was Alt eine »unsaubere Mischung« nennt: »Das klandestine Sympathisieren mit dem Ver­­brechen, das Verständnis für das Laster und die Lust am Schrecklichen bilden kombinierte Einstel­lungen, die durch die Koexistenz von Emotion und Urteil zustande­kommen«.14 Die Provokation15 des Textes liegt vornehmlich im Einsatz der »Rhetorik des Bösen als des Schönen,«16 welche zum Nachvollzug des als lustvoll vorstellbar gemachten Bösen ani­miert – unabhängig von der Tatsache, ob vom Leser ein reales »klandestines Vergnügen« am darge­stellten Gegenstand selbst empfunden wird.

1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss

Das Verflüssigen der Grenzen zwischen Abstoßung und Anziehung, das Ineinanderwirken von scheinbar gegensätzlichen Emotionen ist wohl eines der besonderen Merkmale der Wirkungsästhetik des Bösen. Der Text transportiert eine explosive Mischung, der im Rezeptionsakt verschiedene Bereiche anspricht: das moralische Bewusstsein und das Lustempfinden. Wollte man dies in Freud’schen Termini ausdrücken, könnte man von einem Gefühlsamalgam der Unbehaglichkeit sprechen, bei dem das normativ regulierende Über-Ich und das nach Lust strebende Es in ein Spannungsverhältnis treten. Dieses Lustge­fühl muss dabei zweifelsohne nicht von sinistrer Natur sein bzw. von verdrängten Wün­schen her­rühren, sondern kann unterschiedlichen Quellen entspringen. H. R. Jauß definiert drei basa­le Kate­gorien der ästhetischen Erfahrung bzw. des »[ä]sthetisch genießenden Verhalten[s]«: 1) Poeisis, d.h. der Genuss des »produzierende[n] Bewußt­sein[s] im Her­vor­bringen von Welt als seinem eigenen Werk«; 2) Aisthesis, d.h. der Genuss, der im »Ergreifen der Möglichkeit, seine wahrnehmende der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneu­ern« bzw. im »genießen­de[n] Aufnehmen des ästhetischen Gegenstands als ein gestei­gertes, entbegriff­lichtes oder – durch Verfremdung […] – erneu­er­tes Sehen« ruht; 3) Katharsis, d.h. der Genuss der eigenen durch das Werk erweckten Affekte, des »Selbstge­nusses im Fremdgenuss« und der damit verbundenen Freisetzung von der Lebenswelt bzw. der spielerischen Identifikation mit dem ästhetischen Gegenstand und der Freiheit, sich über die vom Werk definierten Handlungsnormen ein Urteil zu bilden.1 Für den Rezep­tionsakt sind dabei natürlich die Formen der Aisthesis und Katharsis relevant.

 

Es erweist sich, dass ein Gegenstand, der per definitionem nicht schön, wahr oder gut ist, durchaus ästhetischen Genuss vorbringen kann. Das nur scheinbare Paradox des Gefallens an per se missfälligen Sujets wird schon in Aristoteles’ Poetik thematisiert und beson­ders seit dem 18. Jahrhundert im kunsttheoretisch-philosophischen Diskurs vielfältig dis­ku­­tiert und reflektiert.2 In der Poetik heißt es: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklich­keit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstel­lungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«3 Und gelöst wird dieses Paradox dadurch, dass dem Menschen das Nachahmen und der Wunsch zu lernen angeboren ist, sodass die Nachahmung auch eines widrigen Gegenstandes in der Kunst Interesse und Neugier erweckt und ein jeder Mensch Freude daran hat zu lernen, welcher Qualität das vorgestellte Sujet ist.4 Es ist das Erfreuen an der gelungenen Nachahmung und die Wissenslust, die auch das Hässliche in der Kunst zu einem genieß­baren Sujet macht. Wie Jauß in Anlehnung an Augustins Confessiones bemerkt, sind Lust (voluptas) und Fürwitz (curiositas) die Triebfedern der Augenlust (concupiscentia oculo­rum), wobei curiositas auf das Widrige ausgerichtet ist.5

Andererseits ist es die schöne »Form« des vorgestellten Gegenstands bzw. die »Mittel­bar­keit« des Mediums Kunst selbst, die zu gefallen vermag (und damit gemäß Aristo­teles den Gefallen an der gelungenen Nachahmung bezeichnet). Im ›Zerrspiegel‹ der Kunst verliert das missfällige Sujet seine repulsive Wirkung, wird gleichsam ästhetisiert und durch künstlerische Formgebung neutralisiert. So hebt auch Boileau im Art poétique (1674) hervor:

Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux,

Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux.

D’un pinceau delicat l’artifice agreable

Du plus affreux objet fait un objet aimable. (Chant III, V. 1–4)6

So wird auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) eben dies als besondere Leistung der Kunst hervorheben: »Die schöne Kunst zeigt eben darin ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar als Gemälde vorgestellt werden«.7 Die Kunstdifferenz erlaubt dem­nach eine »unschädliche« Darstellung und Betrachtung des widrigen Gegenstands; im Kunstwerk findet sich das Hässliche durch die »dialektische Prozessualität der metaphy­sischen Idee des Schönen« aufgehoben.8 Aisthetisch besteht der Reiz des Hässlichen und Bösen also im kontemplativen Genießen der gelungenen künstlerischen Form und der Befrie­digung der curiositas, der Neugier und der Faszination am Missfälligen. Und wenn aisthetischer Genuss »Renovation der inneren und äußeren Wirklichkeit« durch »erneu­ertes Sehen« bedeutet, ist Bohrers Konzept des Bösen als »Sinnentzug im Entsetzen« und Grenzerfahrung gleichfalls dieser Kategorie des ästhetischen Erlebens zuzuordnen.

Kathartisch ist dann jene Lust, die das Subjekt anlässlich seiner eigenen Erregbarkeit empfindet. Es ist die Lust, bewegt zu werden. Katharsis ist – wie oben bereits erwähnt – das Wirkziel der Tragödie: Durch die Erregung der Affekte phobos und eleos ist das Tragische überhaupt erst möglich; ihr Gelingen hängt eben genau von ihrer (emotionalen) Wirkung ab. In seinem Essay XXII Of Tragedy (Essays: Moral, Political, and Literary, 1742–54) greift David Hume die Argumentation des bereits zitierten Abbé Du Bos auf, »that nothing is in general so disagreeable to the mind as the languid, listless state of indolence, into which it dalls upon removal of all passion and occupation«.9 Es sei dem Menschen ein Grund­bedürfnis, zu spüren; nichts ist dem Menschen größere Qual als innere Leere und es ist der horror vacui, die Angst vor dieser Leere, die ihn emotionale Agitation und große Passionen suchen lässt.10 Je mehr »sorrow, terror, anxiety, and other passions« der Zuschau­er von einer Tragödie empfange, desto mehr Vergnügen bereite sie ihm.11 Dies lässt sich mit Descartes auf die Formel bringen: »on prend naturellement plaisir à se sentir émouvoir à toutes sortes des Passions«.12 Diese Form des ästhetischen Genusses bezeichnet Hans Blumenberg als Modus der »inneren Distanz«, bei dem das Subjekt auf »die pure Funktion seiner Vermögen« und »nicht auf die Gegenstände und deren Spezifizität« bezogen bleibt.13

Innerhalb der Diskussion über Grenzphänomene des Ästhetischen in der fortgeschrittenen Neuzeit schlägt dieser insgesamt drei Modelle des ästhetischen Genusses vor, der dem Rezeptionsakt des »gegenständlich Häßlichen, Schaurigen, Abscheulichen und Defor­mierten« innewohnen kann.14 Neben dem bereits erwähnten Modell der inneren Distanz und dem des Martyriums15 verweist er auf den Modus der »äußere[n] Distanz des Zu­schauers, der sich in seiner eigenen Unbetroffenheit erfährt und so seine Situation genießt«.16 Das Wissen des Zuschauers oder Lesers um die eigene Unversehrtheit bzw. das Bewusstsein für die Fiktivität des vorgestellten Gegenstands begründet die Möglichkeit, auch ein missfälliges Sujet – eben weil es dem Subjekt nicht realiter begegnet – als »schön« bzw. als (ästhetisch) »lustvoll« zu empfinden. Auf diese Überlegung psycho­logisch-ästhetischer Natur verweisen auch schon Fontenelle, Hume (wenn auch nur, um diesen kritisch zu erweitern), Hobbes, Shaftesbury, Diderot und Schiller, vornehmlich in seinen Schriften Über die tragische Kunst und Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Tatsächlich geht dies zurück auf die berühmte Metapher des Schiffbruchs17 mit Zuschauer in De rerum natura, II, 1–4 des römischen Philosophen Lukrez. Gegenstand ist die Vorstellung eines im rauen Meer untergehenden Schiffes – ein Spektakel, das vom Dichter-Ich in sicherer Ferne vom Ufer aus lustvoll betrachtet wird:

Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde

Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen;

nicht, als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen,

sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.18

Der Zu­schauer ergötzt sich am Schrecklichen, weil es ihm – da er sich in sicherer Entfer­nung weiß – seine eigene Unversehrtheit bewusst macht. Und dieses Bewusstsein wieder­um ermöglicht den objektivierenden Blick auf die eigenen Affektionen: Das Subjekt wird sich in seinen Empfindungen selbst zum Gegenstand der genießenden Betrachtung.19

Freilich stieß der Topos des Schiffbruchs mit Zuschauer besonders auch bei Philo­sophen der Aufklärung auf Ablehnung (so bei Voltaire und Marmontel), nicht zuletzt aufgrund des misanthropischen Tenors der Bildlichkeit, die dem Menschen eine scheinbar schadenfreu­dige Schaulust zuschreibt.20 So konzediert auch Schiller: »Ein Meersturm, der eine ganze Flotte versenkt, vom Ufer aus gesehen, würde unsere Phantasie ebenso stark ergötzen, als er unser fühlendes Herz empört«.21 Er räumt jedoch ein: »es dürfte schwer sein, mit dem Lucrez zu glauben, daß diese natürliche Lust auf einer Vergleichung unsrer eigenen Sicher­heit mit der wahrgenommenen Gefahr entspringe.«22 Nichtsdesto­trotz wurde die Schiff­bruchs­­metapher des Lukrez zum paradigmatischen Ausdruck einer ästhetischen Grund­haltung, die die Basis einer genussvollen Rezeption des Schrecklichen, Entsetzlichen und Hässlichen im Kunstwerk bildet. Das Modell der inneren und äußeren Distanz liefert damit einen Ansatz, die Paradoxie der Schreckenslust aufzulösen und findet ihr Echo in der Theorie des Erhabenen, in der sich erstmals ein ästhetisches Interesse auch an originär missfälligen Gegenständen in der Kunst artikulieren sollte.

1.2.3 Das Erhabene

Zu den mitunter einschlägigsten Traktaten bezüglich des Erhabenen zählt wohl Edmund Burkes A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757). So observiert er:

Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.1

Das Sublime bzw. Erhabene wird hervorgebracht durch Gegenstände jeglicher Art, die die Idee des Schmerzes oder der Gefahr transportieren und damit im Subjekt die stärkste Em­pfindung hervorbringen, derer es fähig ist.2 Dass dieser Schmerz bzw. »ter­ror« gleich­zeitig Lust erzeugt, vermag unter bestimmten Bedingungen – nämlich der (ästhetischen) Distanz (d.h. Unbe­troffenheit im wahren Leben) – der Fall sein.3 Verwunderung (»asto­nishment«) stellt sich als höchste Empfindung ein, die durch das Erhabene hervorgebracht wird: Das menschliche Gemüt ist in einem solchem Moment derartig von dem Objekt seiner Betrachtung erfüllt, dass es zur Wahrnehmung eines anderen nicht mehr in der Lage ist und es auch an der vernunftmäßigen Reflexion des betrachteten Objekts scheitert.4 Burke entwickelt quasi einen Katalog an Qualitäten des Erhabenen und Ideen bzw. Empfindungen, die damit verbunden sind. So ist Unklarheit (»obscurity«) – und damit einhergehend auch Vagheit – entscheidendes Merkmal des das Gefühl des Erha­benen generierenden Objekts. Eine jede Vorstellung von Gefahr gewinnt durch den Schleier der Unbestimmtheit ein Moment des Entsetzens. In den Künsten ist Burke zufolge daher auch die Literatur in höchstem Maße geeignet, das Gefühl des Erhabenen durch Abstraktion und Auslassung einzugeben, da sie in der mimetischen Reprä­sentation einer Vorstellung oder eines Gegenstands stets hinter dem Gemälde zurückbleibt.5 Mit dem Begriff der Unklar­heit verknüpft sich dann auch konkreter die Idee der Dunkelheit (»darkness«) bzw. allge­meiner der Beraubung (»privation«). Darunter subsumieren sich ferner die Termini der Leere (»vacuity«), der Einsamkeit (»solitude«) und Stille (»silence«), welche in analoger Weise den Zustand einer Privation (sei es von Licht oder Substanz) bezeichnen.6

In gleichem Maß sind Weite (»vastness«) und die Vorstellung von Unendlichkeit (»infinity«) Quellen der erhabenen Angstlust, übersteigen sie doch die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung:

Infinity has a tendency to fill the mind with that sort of delightful horror, which is the most genuine effect, and truest test of the sublime. There are scarce any things which can become the objects of our senses that are really, and in their own nature infinite. But the eye not being able to perceive the bounds of many things, they seem to be infinite, and they produce the same effects as if they were really so.7

Naturerscheinungen wie Ozeane, Berge oder Sternenhimmel, Sonnenaufgänge etc. wurden in diesem Zusammenhang zu klassischen Topoi des Erhabenen, da sie dem mensch­­lichen Subjekt übermächtig und gigantisch erscheinen.8 Und es sind gerade die Vorstel­lungen von Unendlichkeit, die den Menschen an die Grenzen des für ihn sinnlich Erfassbaren führen, und damit zu den bewegendsten erhabenen Ideen überhaupt zählen.9 Darüber hinaus kann der Eindruck von Unendlichkeit durch Gleichförmigkeit (»unifor­mity«) und Sukzession (»succession«) erweckt werden, d.h. durch Aneinander­reihung des Immer­gleichen wird die Vorstellung einer künstlichen Unbegrenztheit (»artificial infinite«) er­zeugt.1011

Den Wirkungsspielraum bzw. die Wirkungsweisen des Erhabenen, die Burke in seiner Philosophical Enquiry absteckt, wurden dann auch für den deutschen Idealismus fruchtbar gemacht und von Kant und Schiller wiederaufgegriffen. Ähnlich wie Burke definiert Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) das Erhabene als »das, mit welchem in Verglei­chung alles andere klein ist«.12 Er stellt damit also auch eine Beziehung zum Unbe­grenzten, zum Enormen, Unendlichen her und definiert dabei zunächst das »mathema­tisch« Erhabene, welches eine räumliche Ausdehnung bzw. eine quantitative Unbegrenztheit bezeichnet (z.B. eben Ozeane, das Weltall, Berge etc.).13 Davon grenzt Kant das »dynamisch« Erhabene der Natur als Macht ab, der der Mensch zunächst unterlegen ist, doch in sicherer Distanz durchaus als ästhetisch reizvoll zu empfinden vermag:

 

Kühne überhängende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörerischen Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung […] u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden […].14

Auf den schrecklichen Moment, in dem sich der Mensch als »Naturwesen«15 als physisch unterlegen erkennen muss, folgt der Augenblick der »negativen Lust«,16 die in dem Ver­mögen besteht, sich als »Vernunftwesen« über jene Überwältigung erhaben zu fühlen. Denn das menschliche Gemüt zeigt sich vermittels der Vernunft dem sinnlichen Vermögen der Einbildungskraft überlegen, was sich darin manifestiert, dass der Mensch die Idee der Unendlichkeit, die als solche nicht darstellbar ist, überhaupt denken kann (§ 26). Damit zeichnet sich auch eine deutliche Akzentverlagerung bezüglich der Begrifflichkeit des Erhabenen ab, die sich bereits bei Burke ablesen lässt, welcher weniger von einem erhabenen Gegenstand (als Seinsmerkmal eines Objekts) als vielmehr von einem Gefühl des Erhabenen spricht. Was vormals der Dingwelt zugeschrieben wurde, wird bei Kant allein dem Subjekt attribuiert: »das eigentlich Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein, sondern trifft nur Ideen der Vernunft: welche, obgleich keine ihnen angemessene Darstellung möglich ist, eben durch diese Unangemessenheit, welche sich sinnlich darstellen läßt, rege gemacht und ins Gemüt gerufen werden«.17 Das Erhabene wird somit zur Chiffre der Selbstaffirmation und des Triumphes der Vernunft über die Kreatürlichkeit des Natur­men­schen.

Ähnlich konzipiert auch Schiller in Anlehnung an Kant das Erhabene als sekundäre Lust, die in der Überlegenheit des Vernunftmenschen gegenüber seiner Machtlosigkeit als physisches Naturwesen besteht: »Erhaben nennen wir ein Objekt, bei dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Überlegenheit, ihre Freiheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den kürzeren ziehen, über welches wir uns aber moralisch, d. i. durch Ideen erheben.«18 Schillers Ausführungen zum Erhabenen basieren auf der Grundannahme, dass der Mensch als Sinnenwesen von zwei maßgeblichen Trieben geleitet wird – und zwar einerseits dem »Vorstellungstrieb« bzw. »Erkenntnis­trieb« und dem »Selbsterhaltungstrieb« andererseits. Diese setzen ihn in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur, welches für den Menschen spürbar wird, »wenn es die Natur an den Bedingungen fehlen läßt, unter welchen wir zu Erkenntnissen gelangen« bzw. »wenn sie den Bedingungen widerspricht, unter welchen es uns möglich ist, unsre Existenz fortzusetzen«.19 Moralisch unabhängig kann sich der Mensch dann fühlen, wenn er sich einerseits mehr denken kann als unter den naturgegebenen Bedingungen erkenntlich ist; andererseits kann er sich kraft des Willens über die naturgebundenen Begierden hinweg­setzen. Solche Objekte, die sich dem Erkenntnistrieb widersetzen, sind jene, die die Idee der Unendlichkeit implizieren; jene, die hingegen dem Selbsterhaltungstrieb trotzen, sind »furchtbare« Gegenstände, die »den Bedingungen unsers Daseins widerstreite[n]«.20 Da­mit nimmt Schiller eine Unterscheidung vor, die im Grunde jener Kants vom mathematisch und dynamisch Erhabenen entspricht, jedoch terminologisch bei ihm als »Theoretisch­erhabenes« und »Praktischerhabenes« gefasst wird. Letzteres bezeichnet er auch als Erha­benes der Macht, für das sich eine weitere Unterscheidung anbietet, die den verschiedenen Beziehungsarten Rechnung trägt, in denen sich das Subjekt zum Gegenstand des Erha­benen befinden kann: das Kontemplativ- und Pathetischerhabene. Zur ersten Kategorie zählen jene Objekte, die zwar eine Naturmacht darstellen (wie ein Meeressturm, Gewitter, ein Vulkan etc.), die jedoch erst vermittels der Einbildungskraft auf den Selbsterhal­tungstrieb bezogen werden müssen und damit erst in der Vorstellung des Subjekts furcht­bar werden.21 Das Pathetischerhabene hingegen ist das Leiden selbst – das im ersten Fall ja gleichsam hinzugedacht werden muss –, genauer: die »Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und mit dem Bewußtsein unser innern moralischen Freiheit«.22 Doch ähnlich wie Burke und auch Kant macht Schiller die Bedeutsamkeit der Distanz als Bedingung für das Gefühl des Erhabenen geltend, ohne welche ein ästhetisches Urteil unmöglich ist.

Die traditionelle ästhetische Debatte um das Erhabene, wie sie von Burke begründet und von Kant und Schiller fortgeführt wurde, wird schließlich erst im 20. Jahrhundert von Jean-François Lyotard wiederaufgegriffen. Dabei beruft er sich vornehmlich auf die Kant’sche Definition des Erhabenen, um sie in Bezug auf die bildnerische Kunst der Avantgarde einer radikalen Neuinterpretation zu unterziehen.23 Das Nicht-Darstellbare, d.h. das Versagen der Einbildungskraft als Mittler zwischen Sinnlichkeit und Ratio, abso­lute Begriffe wie Unend­lichkeit darzustellen, wird bei Lyotard zum Kernbegriff und zum »negative[n] Zeichen […] für die Unermeßlichkeit der Macht der Ideen«.24 Die Gemein­samkeit von moderner und postmoderner Kunst der Avantgarde liegt ihm zufolge daher in dem Streben, dem Unver­fügbaren »Raum« zu gewähren. Im Rückgriff auf Hei­deggers »Ereignis«-Begriff konzipiert Lyotard das Nicht-Darstellbare als ein »es geschieht«, ein gegenwärtiges Ereignis in all seiner Blöße, und das Erhabene als Schockmoment der doppelten Beraubung: einer primären Beraubung des Ereignisses selbst, die Schrecken erzeugt, und einer sekundären Beraubung der Drohung, die sich als Erleichterung entäußert. Sein Kommentar zur avantgardistischen Kunst lautet wie folgt:

Angespornt durch die Ästhetik des Erhabenen, können und müssen die Künste, welches auch immer ihre Materialien sind, auf der Suche nach intensiven Wirkungen von der Nachahmung lediglich schöner Vorbilder absehen und sich an über­raschenden, ungewöhnlichen und schockierenden Kombinationen versuchen. Und der Schock par excellence ist, daß es geschieht, daß etwas geschieht und nichts, daß die Beraubung suspendiert ist.25

Lyotard rehabilitiert damit den Begriff des Erhabenen im Kontext einer Ästhetik der Postmoderne, die sich dem Versuch verschreibt, das schiere Faktum der Existenz eines Nicht-Fassbaren aufzuzeigen.