Die weiße Möwe

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»Du kannst jetzt aufhören«, sagte eins der Mädchen zu ihr. »Wir haben genug Geld. Jetzt wird eingekauft!«

Benommen hielt Möwe die Früchte in ihrer Hand und konnte sich nicht vorstellen, sie je wieder wegzulegen. Sie stellte sich vor, wie sie vor dem Baum stand und pflückte. Sie drehte sie ganz sacht und sie fielen in ihre Hand, reif und rot.

Sie spürte kaum, wie die anderen ihr auf die Schultern klopften. »Für den Anfang gar nicht schlecht. Nächstes Mal kannst du schon auf den Händen laufen, wetten?«

Sie lachte mit. Sie ließ sich von ihnen von Stand zu Stand ziehen. Auch die Erwachsenen waren mit einem Mal da und freuten sich wie Kinder über die vielen klimpernden Münzen. Sie verteilten sich in dem Gedränge und auf einmal war sie allein. Sie blickte sich um, aber Toris war verschwunden. Die anderen Jungen und Mädchen schienen sich in der Menge aufgelöst zu haben. Unzählige Menschen gingen an ihr vorüber – Bauersfrauen mit ihren geblümten Schürzen, blonde und braunhaarige Mädchen in langen Kleidern, junge Burschen, die ihr merkwürdige Blicke zuwarfen und tuschelten ... Schon fast in Panik schob sie sich durch die Menge, bis sie endlich ein paar schwarzhaarige Köpfe in der bunten Tracht der Zintas erblickte. Erleichtert drängte sie sich zu ihnen durch und stellte sich hinter Toris.

Die jungen Leute sahen – wie viele andere mit ihnen – einer weißgesichtigen Gestalt zu. Als Möwe das weiße Gesicht sah, erschrak sie zuerst und ihr Herz machte einen Sprung. Einer wie sie ... Doch dann sah sie, dass dies nur ein Mann war, der weiße Farbe aufgetragen hatte und weiße Handschuhe trug. Mit breitem Grinsen erzählte er eine kleine Geschichte, während seine Hände einen Faden nach dem anderen aus einem winzigen Beutel zogen. Die Zuschauer klatschten und warfen ihre Münzen, die er mit waghalsigen Sprüngen fing und verschwinden ließ. Auf einmal verstummte er; nur sein Gesicht erzählte die Geschichte weiter. Er ließ es traurig wirken und krümmte seinen Körper, fröhlich tanzte er zu einer unhörbaren Musik, er schritt über unsichtbare Hindernisse hinweg und ertrank in einem Bach, aus dem er sich anschließend an den Haaren selbst herauszog. Seine Gefühle wechselten von einem Extrem ins andere und seine Zuschauer litten mit ihm, lachten und trauerten. Möwe wusste nicht, wie ihr geschah. Sie starrte auf die weiße Gestalt. Er war ein Vogel, der flog, der weit hinten das Meer sah ... Nein, er war kein Vogel, sondern ein Mensch, der ein Vogel sein wollte. Er wollte fliegen und stürzte, tief und schmerzhaft ... Warum musste sie darüber lachen? Sie wollte weinen, aber er zwang sie, darüber zu lachen. Wie einer fliegen wollte und war zu dumm, um einzusehen, dass es nicht ging. So dumm war er, dieser Possenreißer ...

Sie fasste in ihre Tasche und warf ihm das ganze Geld hin, das Toris ihr gegeben hatte. »Tut mir leid, Toris«, sagte sie leise, »aber er verdient es.«

Der Junge neben ihr drehte sich um. Es war gar nicht Toris. Es war ein Ziehender, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Er warf einen raschen Blick auf ihr Gesicht und stutzte, als er ihre Kleidung bemerkte. Sie war angezogen wie alle Ziehenden, sie trug denselben weiten Kragen, der als Umhang diente, dieselben weiten Ärmel und die Glöckchen am Gürtel.

Der schwarzhaarige Junge zog die Brauen hoch. »Eine Schwester, die ich noch nicht kenne?«, fragte er. »Du musst Möwe sein.«

Sie war überrascht, dass er ihren Namen kannte. »Woher weißt du das?«

»Es gibt nur ein weißes Mädchen, das zu unserem Volk gehört. Ich habe schon ein paar von deiner Sippe getroffen.« Er entblößte seine Zähne zu einem Lächeln. »Ich bin Jamai, Schwester.« Seine Augen bedachten sie mit einem ganz und gar nicht brüderlichen Blick. Möwe war es nicht gewöhnt, so angeschaut zu werden.

»Ähm ...« Sie war so verlegen, dass sie mit den Füßen scharrte. »Ich suche meine Leute ...«

»Komm«, sagte er, »ich hab vorhin welche gesehen, bei unserem Feuerschlucker.«

»Wir haben keinen Feuerschlucker«, sagte sie, während sie durch die Menge gingen, um überhaupt etwas zu sagen.

»Dafür sind eure Tänzerinnen sagenhaft.« Er grinste wieder. »Von euren Jongleuren ganz zu schweigen.«

»Du hast mich gesehen?« Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Klar. Und es sah aus, als wärst du schon seit Jahren dabei.«

Sie brachte es nicht einmal fertig, sich für das Lob zu bedanken. Jamai legte seine Hände auf ihre Schultern und lotste sie durch eine enge Gasse, in der ihnen einige Händler mit Handkarren entgegenkamen. Sie begann zu schwitzen, aber als er sie losließ, war sie fast enttäuscht.

»So«, sagte er. »Siehst du, da sind sie.«

Und auf einmal war Toris da und sagte: »Wo warst du denn, Möwe?«

Die beiden Jungen maßen sich mit Blicken. »Komm«, sagte Toris und zog sie zu ihrer eigenen Sippe.

Jamai nickte ihr zu und ging.

Möwe hielt nach Remanaine Ausschau, aber obwohl die ganze Sippe sich hier aufzuhalten schien, war von ihm nichts zu sehen.

Wirklich in die Sippe aufgenommen wurde Remanaine erst nach seinem ersten Kampf. Die Ziehenden waren nach Rilien gekommen, in einen lichten Wald in diesem schönen Land, durch das unzählige Bäche flossen. Sie hatten sich kaum niedergelassen, als fünf bewaffnete Soldaten ins Lager gesprengt kamen. Mitten zwischen den Wagen machten sie Halt und warteten, bis das Volk sich um sie versammelt hatte.

»Der Herr Landart von Ojawe in Rilien hat die Verfügung getroffen, dass keine Zintas durch sein Land ziehen oder hier lagern dürfen«, rief einer der Reiter mit lauter Stimme. »Es sei denn, sie bezahlen den Wegpreis.«

Nicht in allen Herrschaftsgebieten mussten sie Zoll zahlen, aber es kam vor.

»Nenne den Preis«, ließ sich Torane vernehmen.

Der Krieger verzog höhnisch das Gesicht. »Der Herr von Ojawe benötigt Arbeiter für sein Land. Er verlangt einen kräftigen Mann. Oder, wenn ihr niemanden entbehren mögt, die Arbeit aller Männer der Sippe, drei Monate lang.«

»Was soll das heißen?«, fuhr ein Bruder auf. »Wenn einer allein geht, dann für immer?«

»Genau das soll es heißen«, bestätigte der Bote. »Ihr müsst euch entscheiden.«

»Beides ist unmöglich! Wenn wir drei Monate arbeiten, was wird dann aus unseren Familien? Oder wie könnten wir einen aus der Sippe opfern?«

Früher hatte es häufiger solche Vorkommnisse gegeben. Immer wieder hatten die Ziehenden starke Männer oder junge Frauen weggeben müssen, umringt von Soldaten. Nicht wenige Sippen waren aufgerieben worden in jenen bitteren Tagen. Aber Kaiser Kanuna hatte diesem unbarmherzigen Brauch ein Ende gemacht. Dem Gesetz nach waren »übertriebene Forderungen« verboten – doch nicht jeder Landesherr verstand darunter dasselbe wie der Kaiser.

»Wenn ihr euch weigert, dann nehmen wir, was unserem Herrn zusteht!« Der Soldat ließ sein Pferd ohne Vorwarnung zwischen die Menschen springen. Seine vier Begleiter taten es ihm nach. Kreischend rannte das Ziehende Volk auseinander, versuchte sich vor den Hufen in Sicherheit zu bringen, vor den Lanzenenden, mit denen die Krieger sie niederstießen. Die Brüder versuchten, sich zusammenzufinden und Widerstand zu leisten, aber sie wurden von den Angreifern immer wieder auseinandergetrieben. Der Anführer zeigte auf einen jungen Mann, worauf seine Gefolgsleute den Ausgewählten von den anderen trennten und einkreisten. Sie schlugen auf ihn ein, bis er stürzte, und zwei der Riliener stiegen von ihren Pferden, um ihn aufzuheben und mitzunehmen.

So wäre es auch gekommen, wenn nicht mitten in dem Chaos ein Mann erschienen wäre, groß und stark, ein Abbild der Riesen, mit ihrem Blut in den Adern und der gleichen Kraft und Wut.

Mit wenigen Schritten war er bei den Kriegern und riss dem nächsten, der ihn mit der Lanze abwehren wollte, die Waffe aus der Hand.

»Kommt!«, rief er den Brüdern zu. »Alle zu mir!« Mit neuer Hoffnung bedrängten die Zintas die Angreifer, und diesmal gelang es ihnen, sie zu entwaffnen und von den Pferden zu zerren.

»Das wird ihnen eine Lehre sein«, meinte Torane. Alle fünf Soldaten waren verwundet. »Lasst sie los und ihrem Herrn Landart sagen, dass man so mit dem Volk nicht umspringen kann.«

»Nein«, widersprach Remanaine, »wir können noch nicht aufbrechen. Sie haben viele von uns verletzt. Bis wir die Pferde vor die Wagen gespannt und jeden Verletzten wenigstens notdürftig versorgt haben, müssen wir diese Männer hierbehalten. Wir werden sie gefesselt hierlassen, damit wir Ojawe hinter uns haben, ehe sie ihren Herrn benachrichtigen können.«

Er dachte: Hört das denn nie auf? Mein Vater sollte etwas tun gegen die Willkür seiner Fürsten.

Torane nickte. »Das wird das Beste sein.«

»Ich werde mit den Frauen die Wunden versorgen.« Remanaine lächelte dem Mann zu, der so schnell seine Autorität akzeptiert hatte. Er wandte sich noch einmal den Gefangenen zu und die Freundlichkeit wich aus seinem Gesicht. Ernst und voller Bitterkeit schaute er die Soldaten an und sie starrten furchtsam zurück. Aber er seufzte nur und ging an die Arbeit.

Es gab viel zu tun. Fast jeder hatte sich bei der wilden Flucht mindestens einige Schürfwunden zugezogen, es galt Arme und Beine zu schienen, Kopfwunden zu verbinden, und der junge Mann, den die Soldaten niedergeschlagen hatten, war immer noch bewusstlos.

Die Stimmung war gedrückt, als sie aufbrachen. Schweigend trieben sie die Pferde zur Eile an; die Verwundeten in den Wagen stöhnten auf, wenn die Räder über Steine und Wurzeln holperten. Doch ohne Rücksicht hasteten sie weiter, bis sie Ojawe hinter sich gelassen hatten. Ohne die Erlaubnis des Landesherrn, in dessen Gebiet sie sich jetzt befanden, durfte ihnen kein Bewaffneter folgen.

Die Sippe blieb lange an dieser neuen Stelle. Die kundigen Frauen unterstützten Remanaine bei seinen Bemühungen um die Kranken, aber es war klar erkennbar, dass er die Leitung übernommen hatte. Er war jetzt der Heiler und sie seine Gehilfinnen, nicht mehr seine Lehrerinnen. Noch etwas anderes hatte sich geändert, wenn auch keiner darüber sprach: Er war kein Fremder mehr, er gehörte zu ihnen. Remanaine war ein Bruder der Sippe.

 

Am zweiten Tag nach ihrer Ankunft kam ein Gesandter des Herrn Sindrit von None in Rilien. Remanaine und Torane begrüßten ihn. Der Mann war überrascht, jemanden wie ihn unter den Ziehenden zu sehen, die auch das Dunkle Volk genannt werden, und richtete das Wort an ihn.

»Ist das die Sippe, die aus Ojawe gekommen ist?«

»So ist es. Was hast du uns zu sagen?«

»Der Herr von None erhebt keine Gebühr vom Ziehenden Volk. Allerdings hat ihn Herr Landart um Auslieferung gebeten. Ihr sollt euch geweigert haben, ihn zu bezahlen, und seine Boten wurden gedemütigt.«

»Das mag ihnen tatsächlich demütigend vorgekommen sein«, meinte Remanaine. »Von Leuten wie uns Widerstand zu erfahren.«

Der Bote lächelte vorsichtig.

»Herr Sindrit ist für seine Gerechtigkeit bekannt. Er hat mich gesandt, um von euch den genauen Hergang zu erfahren.«

»Steig von deinem Pferd und komm mit«, forderte Remanaine ihn auf. »Ich zeige dir die Opfer.«

Er führte den Mann umher, und Torane erzählte, wie sich alles abgespielt hatte.

»Berichte deinem Herrn, was du erfahren hast«, sagte der Heiler zum Schluss. »Und sag ihm, dass wir nicht so rachsüchtig gehandelt haben, wie man uns nachsagt. Landarts fünf Soldaten wurden nicht bestraft, wir haben uns nur gegen sie gewehrt. Und sag Sindrit auch, dass wir auf seine Gerechtigkeit vertrauen und auf seinen Gehorsam gegen die Gesetze des Kaisers.«

»Was meinst du, wie es ausgehen wird?«, fragte Torane, als der Mann fortgeritten war.

»Man wird uns in Frieden lassen. Die Herren Riliens sind sich nicht grün. Ich glaube kaum, dass sie einander gerne einen Gefallen tun.«

Eine Frau kam aufgeregt zu ihnen gerannt und packte Remanaine am Arm. »Komm schnell! Tahino stirbt!«

Tahino war der junge Mann, den die Soldaten niedergeschlagen hatten. Er war immer noch nicht aufgewacht.

Todgeweiht. Was habe ich mehr als Mitleid?, dachte Remanaine. Was können heilende Hände ausrichten bei einem, der kaum noch atmet?

Das Geschenk Rins an die Könige Aifas.

Er legte seine Rechte auf Tahinos Stirn. »Gnade«, flüsterte er. Er konnte nicht fühlen, dass etwas geschah. Und doch starb der Bruder nicht an diesem Tag. Sein Zustand verschlechterte sich nicht. Es dauerte lange, bis er wieder hergestellt war, aber danach war er wieder ganz der Alte.

»Gut«, sagte Alte Mutter zu ihm, »sehr gut.« Vor allem freute es ihn, dass niemandem außer ihr bewusst war, was seine Hände bewirkt hatten. Es hätte ihn den Brüdern entfremdet, so aber kam er ihnen immer näher. Er leistete seinen Beitrag zur Gemeinschaft, wie jeder von ihnen.

»Ich will nicht, dass du das tust.«

Möwe blickte ihm trotzig ins Gesicht. »Ich habe meine Sache richtig gut gemacht«, sagte sie. »Natürlich bin ich lange nicht so weit wie die anderen. Aber ich lerne rasch.«

»Ich weiß, wie schnell du lernen kannst«, sagte Remanaine. »Das ist es ja gerade. Du kannst mit deinen Händen Verbände anlegen wie keine Zweite. Du bist vorsichtig und geschickt, du könntest so viel erreichen. Und stattdessen stellst du dich auf den Marktplatz und jonglierst?«

»Ich habe früher getanzt«, sagte Variti und trat neben ihn.

»Jetzt tanzt du nicht mehr vor Leuten.«

»Nein, das tun die jüngeren Mädchen. Und Möwe ist jung. Warum soll sie nicht auftreten? Wer sagt, dass sie zur Heilerin geboren ist?«

In Remanaine brodelte die Wut. »Du kannst Menschen helfen«, sagte er zu dem Mädchen. Ihre schlanken weißen Hände hielten immer noch einen Apfel, rot und duftend. Ihre Finger krümmten sich um die glatte Schale. Möwe hielt die Frucht wie etwas Kostbares, Zerbrechliches. Der Riese wartete darauf, dass sie mit ihm sprach, sich überzeugen ließ, dass sie einsah, was sie gewinnen konnte, wenn sie dort weitermachte, wo sie auf ihrer langen Reise gewesen waren. Aber Möwe schien alles um sich herum vergessen zu haben. Eben noch hatte sie laut ihre Meinung vertreten und schon war sie weit weg, versunken in den Anblick der runden Frucht. Sie ließ den Apfel nur eine Handbreit hoch nach oben hüpfen, sicher in ihren langen, geschickten Fingern.

»Hast du eigentlich noch diese Träume?«, fragte er leise. »Du weißt schon, von Blitz.«

Möwe hob den Blick. Aber sie antwortete nicht. Sie warf den Apfel hoch und fing ihn auf, einmal, zweimal. Dann drehte sie sich um und ging.

Variti fasste ihn am Arm. Siehst du, wollte sie sagen. Dies ist nicht deine Tochter. Dies sind nicht deine Träume für sie. Und doch hast du sie zu unserem Volk gebracht und sie ist angekommen, hier bei uns.

Variti sagte nur: »Du musst sie ihren Weg gehen lassen.« Und auf einmal lachte sie und sagte: »Tut sie denn nicht genau das, was du wolltest?«

Variti hatte den Riesen die ganze Zeit über beobachtet, aber sie wagte nicht, sich ihm irgendwie zu nähern. Andere Frauen und Mädchen scherzten unbefangen mit ihm, aber gerade weil sie mehr fühlte, vermochte sie es nicht. Sie war auch nie besonders begabt gewesen im Umgang mit Kräutern, so dass sie nicht einmal über die Heilkunst mit ihm reden konnte. Es gab überhaupt nichts, was sie ihm hätte sagen können.

Ihrem Vetter Torane fiel ihre Niedergeschlagenheit auf. Er kannte Variti als einen fröhlichen Menschen. Ihre große Liebe galt der Musik und sie war die beste Tänzerin der Sippe, aber jetzt schienen ihre Füße so schwer zu sein, dass sie sie kaum vom Boden lösen konnte.

»Was ist mit dir, kleine Schwester?«, fragte er sie, aber natürlich sagte sie ihm nicht, was in ihr vorging.

Torane ging zu Alte Mutter. »Ich mache mir Sorgen um Variti«, sagte er zu ihr. »Ich fürchte, sie ist krank, aber sie spricht nicht darüber.«

»Seit wann ist sie denn krank?«, fragte die alte Frau.

Er dachte darüber nach. »Seit Remanaine bei uns ist.« Während er es aussprach, ging ihm endlich ein Licht auf. Doch er nahm sich vor, sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Beim nächsten Festabend zog er sie zum Tanz in die Mitte, und nachdem er mit ihr getanzt hatte, führte er sie zu Remanaine. »Bruder«, sagte er, »es wird Zeit, dass du tanzen lernst. Variti ist unsere beste Tänzerin. Sie wird es dir beibringen.«

Sie wollte widersprechen, aber da stand der Riese schon vor ihr und meinte: »Ja, zeig es mir, Schwester.«

Varitis Befangenheit war so groß, dass sie zunächst kaum in der Lage war, selbst zu tanzen, geschweige denn, diesem Mann mit den großen Füßen etwas beizubringen. Aber Remanaine war geduldig und ging nicht sofort wieder weg, und irgendwann konnte sie wieder reden und war wieder in der Lage, sich zu bewegen. Sie fand ihr Lachen wieder und in ihren Augen strahlte die Lebendigkeit, die ihr zu eigen war.

Remanaine konnte gar nicht anders, als sich dieser lebendigen Frau in seinen Armen bewusst zu sein. Sie war größer als die meisten Frauen und doch musste er auf ihr Gesicht hinunterblicken. Der Eindruck, dass sie nicht schön war, war bald vergessen. Ihre Augen strahlten, groß und schwarz und ausdrucksvoll, und ihm gefiel auch das dichte, glänzende schwarze Haar. Sie war nicht hübsch nach den Maßstäben anderer Menschen, aber es war, als hätte sie einen neuen geschaffen, wo Schönheit von innen heraus kam und alles, sie selbst und die Menschen in ihrer Nähe, verwandelte. Später wusste Remanaine nicht zu sagen, ob es an diesem Abend geschehen war, dass ihn etwas völlig Neues erfasste, oder ob es ganz allmählich kam: Er hatte entdeckt, dass es außer seiner Berufung noch etwas anderes gab.

Von da an übersah er Variti nicht mehr und es geschah immer öfter, dass man die beiden zusammen antraf. Lange Zeit merkte er nicht, was sie ihm bedeutete. Er hatte nie geliebt, jedenfalls nicht so, wie Menschen lieben. Nicht einmal seinem Vater und seinem Bruder hatte er große Gefühle entgegengebracht. Nur sein eigener Weg zählte, der Freiheitsdrang, der ihn von zu Hause wegführte, und dann die Entdeckung, was es hieß, dass er gesegnet war. Seine Hände, das Heilen, das Glück, am Unbegreiflichen beteiligt zu sein – das war sein Leben. Er kannte wohl Zuneigung, aber er war niemals bereit gewesen, etwas von sich selbst zu opfern. Liebe anderer hatte ihn beschützt und seine Kraft wachsen lassen, doch er selbst kannte nur Wärme für andere, kein Glühen. Manchmal blickte er mit leiser Verachtung auf die Wirren des menschlichen Lebens, auf Liebesleid, Eifersucht und Streit, auf Ehebruch oder Treuestolz.

Er wusste nicht, was in ihm war.

Alte Mutter starb. Man hatte ihn zu ihr gerufen, aber es lag nicht in seiner Macht, sie aufzuhalten. Ohne dass sie es ihm gesagt hätte, fühlte er, dass er nicht einmal versuchen durfte, ihr Leben zu bewahren. Mit den Schwestern und Brüdern wartete er darauf, dass sie zu ihnen sprechen würde, aber sie schlief ein, ohne ihnen dieses Geschenk zu machen.

Etwas in seiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Mit dem versammelten Ziehenden Volk ließ er seinen Tränen freien Lauf, ohne sich zu schämen. Damals, als seine eigene Mutter gestorben war, hatte er nicht geweint. Es hatte sich angefühlt wie ein spitzer Pfeil in seiner Brust, aber er hatte nicht geweint; er hatte sich nur gefragt, was ihr Tod für ihn bedeutete, was sich nun ändern würde.

Doch jetzt erlaubte er sich zu weinen, und während er weinte, erkannte er, dass ihn mehr als bloß Achtung und Zuneigung mit Alter Mutter verbunden hatte. Und er verstand endlich seine Gefühle für Variti.

Sie saß schluchzend auf den Stufen des Wagens, und er legte den Arm um sie, genauso weinend, und es war unbegreiflich, wie man gleichzeitig Leid und Freude empfinden konnte. Das ist Liebe, dachte er, so um jemanden zu trauern und so mit jemandem zu trauern. Wir stützen uns gegenseitig, dachte er, und ihm war, als wären dies die letzten Worte der Mutter gewesen. Von da an konnte er die Sippe mit anderen Augen sehen und sich auch. Wenig später heirateten er und Variti, als der Verlust nicht mehr so schmerzte und ihren Jubel nicht dämpfen konnte.

Er bot Variti an, immer bei den Ziehenden zu bleiben und nicht wie die Wanderärzte allein durch das Kaiserreich zu ziehen. Es war ein Opfer, aber er war bereit dazu. Und mit Staunen sah er, dass auch sie opfern konnte, denn sie lehnte ab und ließ es nicht zu, dass er seine Berufung für sie aufgab. »Du musst tun, wozu du bestimmt bist«, sagte sie zu ihm.

»Ich bin zu nichts bestimmt«, wehrte er ab. »Es ist meine eigene Entscheidung, wohin ich gehe.«

»Du musst gehen und du weißt es«, widersprach sie. »Du weißt es und ich weiß es. Dort draußen wirst du gebraucht, nicht hier bei uns. Wir wissen genug, die dort draußen brauchen einen Heiler wie dich.«

Er ahnte jetzt, wie viel Liebe vermag. Ihre Größe war wie eine Offenbarung. Wenn er früher geahnt hätte, was Liebe heißt, hätte er seinem Vater weniger Kummer gemacht. Reue überkam ihn, Schwindel und Panik. Verpflichtete die Liebe ihn dazu, zurück nach Kirifas zu gehen und von vorn anzufangen? Pflichten, die er nie gewollt hatte, demütig auf sich zu nehmen? Sollten er und Variti, Ziehende, Waldvolk, in einem Palast leben, zwischen Prunk und Intrigen, Macht und Ehrgeiz?

»Du könntest auch einfach zu deinem Vater gehen und ihm alles erklären«, schlug Variti vor. »Du könntest ihm sagen, was du getan hast.«

Er hatte zuerst Angst gehabt, ihr seine Herkunft zu offenbaren, zu sagen: »Du musst es wissen, ich bin Keta, Kanunas Sohn.«

Aber sie war weniger erstaunt gewesen, als er erwartet hatte, nicht erschrocken und auch nicht begeistert. Sie hatte gelacht und gesagt (es war noch vor ihrer Hochzeit gewesen): »Dann bin ich ja Prinzessin Variti, bald Schwiegertochter des großen Kaisers.« Sie liebte Remanaine und Keta und alles, was er war. Es machte keinen Unterschied, es war keine Versuchung. Sie wollte kein anderes Leben als das, das sie führte. Er selbst passte besser zu den Zintas, als er gedacht hatte.

Und doch hatte er immer das Gefühl, dass er es ihr schuldig war, sie wenigstens ein einziges Mal zu Kanuna zu bringen und seinem Vater zu sagen: Sieh her, das sind wir, dein Sohn und deine Tochter. Er hätte zu ihm gehen und sich mit ihm versöhnen müssen. Aber so stark er auch war, dies war das Einzige in seinem Leben, wozu ihm die Kraft fehlte.

»Dein Vater hat wieder geheiratet«, sagte Variti in diesem Frühling, in dem er zurückgekommen war.

 

»Ich weiß«, sagte er dumpf. »Ich habe es gehört, überall. Sie haben Fahnen gehisst und auf den Straßen getanzt.«

»Solltest du nicht«, begann sie, vorsichtig. »Manaine ... Du könntest sie besuchen. Du könntest ihm alles Gute wünschen und seiner Frau. Hat sie nicht das Recht, ihren Stiefsohn kennenzulernen?«

»Nein«, sagte er leise.

Sie, für die Familie alles war, konnte es niemals verstehen. Eine Familie gehörte zusammen, und selbst wenn jemand unterwegs war, gehörte er immer noch dazu und man dachte an ihn, warm, mit guten, freundlichen Gedanken. So gehörte er zu ihr, wenn er auf Wanderschaft war, so gehörte er auch zu seinem Vater, selbst wenn er hier bei ihr war. Dass es einen Streit geben könnte, den man nicht schlichten, eine Wunde, die nicht heilen konnte, akzeptierte sie nicht.

Aber hatte sie denn je verstanden, wie schlimm das war, was er getan hatte? Sie sah seine heilenden Hände und freute sich für ihn. Aber wie konnte er Kanuna je wieder vor Augen treten? Wie hätte er für den Diebstahl des Segens um Verzeihung bitten können? Er hatte sich selbst zum Erben gemacht in seinem kindischen Übermut, obwohl er den Thron nicht wollte. Doch wie konnte er jene dunkle Stunde des Betrugs bereuen, der er seine kraftvollen Hände verdankte?

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