Die weiße Möwe

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»Dann werde ich dich von nun an Keta nennen«, entschied Möwe.

»Nein«, wehrte er ab. »Ich heiße Remanaine. Das ist der Name, den ich mir selbst gegeben habe.«

»Es reicht, dass ich einen Namen trage, der mir nicht gehört«, sagte sie. »Wie kannst du auf den Namen verzichten, der dir zusteht, Keta?«

»Nenn mich nicht so.« In seinen Augen funkelte der Ärger. Grimm regte sich in ihm über ihre Frechheit, aber Möwes Lächeln glättete die Wogen wieder.

»Oh doch«, sagte sie ruhig. »Du willst das, auch wenn du es selbst noch nicht weißt.«

»Keta hasst die Menschen«, sagte er leise. »Keta hätte Fürst Alin getötet. Es ist Remanaine, der sie heilt. Es ist Remanaine, der dich mitgenommen hat.«

Möwe lächelte sanft, als wüsste sie Dinge, die er nicht wissen konnte. Botin aus Rinland, kam ihm wieder in den Sinn. Es wäre so leicht gewesen, sie mit einem einzigen Schlag zu Boden zu schmettern und ihr dabei das Genick zu brechen. Aber nicht einmal Prinz Keta, der wilde, ungehorsame Riesenjunge, hätte das getan, dieses weiße Mädchen zerbrechen.

»Es ist normal, dass in einem Menschen viele verschiedene Dinge sind«, sagte sie weise.

»Ich bin kein Mensch!«, begehrte er auf. Du Naseweis, dachte er empört. Und dann, in dem Versuch, anders zurückzuschlagen als mit seinen Fäusten, fragte er: »Und was ist so in dir, Möwe? Oder hast du das etwa auch vergessen?«

»Es ist alles da«, sagte Möwe, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Etwas ist in mir, das ruft und ruft und verfolgt mich bis in meine Träume ... Und doch bin ich glücklich, Keta, hier im Wald, und es ist mir egal, ob wir verfolgt werden oder was uns sonst noch alles erwartet ... Es ist beides da, das Unglück und das Glück.«

»So wie Hass und Heilen? Das ist nicht dasselbe.«

»Doch«, behauptete sie stur. »Das ist genau dasselbe.«

5. Das Ziehende Volk

S I EL I E F E NA MWasser entlang. Der Sand war weiß und fein und es war eine Wohltat, ihn zu berühren. Sie lachten und ließen sich hineinfallen, drehten sich auf den Rücken und starrten in den unendlich blauen Himmel.

Mir ist heiß!, rief Blitz. Ich gehe ins Wasser.

Sie sah ihm nach, wie er hineinwatete. Das Wasser glitzerte in der Sonne und blendete so, dass es fast unmöglich war, hinzusehen. Ihre Augen tränten.

Komm!, rief Blitz ungeduldig. Komm her, Mino!

Ich komme!, schrie sie zurück. Blitz, ich komme!

Aber sie blieb im Sand stehen und sah dem Freund in den Wellen zu, ohne sich zu rühren.

Mino! Mino!

Sie wollte laufen und stand doch wie gelähmt. Schrecken überfiel sie. Sie wollte zu Blitz hin und konnte sich doch nicht bewegen.

Mino! Mino!

Möwe wollte schreien, aber sie konnte nicht. Wenigstens diesen Namen musste sie bewahren, aber er verblasste ebenso wie das Bild vor ihr. Allein lag sie im Dunkeln und konnte sich nur verschwommen an den Traum erinnern. Sie versuchte, das Bild zurückzurufen, aber es gelang ihr nicht. Schluchzen würgte sie.

»Keta?«, flüsterte sie flehend in die Nacht.

»Ich bin da«, kam es beruhigend zurück. »Hast du wieder von Blitz geträumt?«

»Ich weiß nicht.« Sie konnte sich an nichts erinnern, nur das Gefühl des Verlustes lag dumpf in ihrer Brust. Sie hätte weinen können, ohne zu wissen, warum.

Remanaine hatte sich mit Möwes Albträumen abgefunden, die so oft zu ihr kamen. Er streichelte sie sanft an der Schulter oder über den Rücken, aber es half nichts; weder konnten seine Hände das Mädchen heilen, noch nahm sie aus diesen Träumen irgendetwas Brauchbares mit, was geholfen hätte, ihren wahren Namen und ihre Herkunft herauszufinden. Das einzige Wort, das sie immer wieder rief, war »Blitz«. Was nützte das? Viele Leute nannten ihre Pferde so, voller Hoffnung auf unglaubliche Schnelligkeit, die sich in den meisten Fällen nicht erfüllte.

»Morgen sind wir bei der Sippe«, sagte er. »Ich glaube, das wird dir guttun.«

Möwe wartete darauf, dass der Schlaf zurückkehrte, aber sie war jetzt hellwach. »Werde ich mich nie erinnern können?«, fragte sie.

»Es wird alles gut«, versprach der Heiler, erschrocken über die Untröstlichkeit in Möwes Stimme.

Sie fragte ihn nicht, woher diese Überzeugung kam, dieser Glaube, dass alles gut endete. Sie wäre schon froh gewesen, wenn sie etwas über ihren Anfang gewusst hätte. Obwohl sie ahnte, dass sie nicht würde schlafen können, schloss sie die Augen wieder und horchte auf die nächtlichen Geräusche. Irgendwo klagte eine Eule. Es war ihr, als klagte sie um das weiße Mädchen und den vergessenen Traum, und ihr Schmerz war so groß, dass sie glaubte, sterben zu müssen.

Mino!, schrie der Junge. Mino! Aber sie konnte die Worte nicht festhalten.

Über die ganze Lichtung verstreut standen die bunten Wagen. Dazwischen rannten laut schreiend schwarzhaarige Kinder umher, verfolgt von kläffenden, sich halb überschlagenden Hunden. Über den Lagerfeuern hingen riesige schwarze Töpfe, deren dampfender Inhalt eifrig gerührt wurde. Es duftete nach Kohl und Zwiebeln, nach Fleisch und Pilzen. Etwas näher zum Waldrand hin grasten Pferde, von halbwüchsigen Burschen bewacht, die sich im Jonglieren übten.

Remanaine blieb einen Augenblick stehen und gab Möwe damit Zeit, sich auf die bevorstehenden Begegnungen vorzubereiten. Sie war aufgeregt, aber nicht ängstlich. Sie nickte dem Heiler zu und sie verließen den Schutz der Bäume.

Es waren die Kinder, die sie zuerst sahen.

»Manaine!«, schrie eins und zeigte mit dem Finger in ihre Richtung. Sie stürmten auf die beiden Ankömmlinge zu. Ein großer, brauner Hund sprang an Möwe hoch und warf sie durch die Wucht des Aufpralls um. Das Mädchen fand sich auf dem Rücken liegend wieder und versuchte vergeblich den Hund abzuwehren, der begeistert ihr Gesicht abschleckte.

»Zurück, Loti!«, befahl Remanaine lachend. »Lass sie am Leben.«

Er half Möwe auf die Füße und rückte ihre Kleidung zurecht. Viele neugierige Gesichter umringten sie; offenbar war die ganze Sippe zusammengekommen, um zu sehen, was los war. Eine Frau drängte sich durch die Umstehenden und fiel Remanaine mit dem Ruf »Manaine!« um den Hals.

»Sieh, wen ich mitgebracht habe«, sagte er und zog Möwe näher heran.

Die Frau musterte das Mädchen verwirrt und lächelte dann. Sie blickte Remanaine an und er las die unausgesprochene Frage in ihrem Gesicht.

»Später«, sagte er leise.

Möwes Hand lag auf dem Kopf des Hundes. Sie kraulte ihn an den Ohren und spürte die Wärme des Tierleibes an ihrem Bein. Sie war es gewöhnt, Blicke auszuhalten, und die Ziehenden waren nicht die Schlimmsten. Aber sie waren alle dunkel und zwischen ihnen fiel ihre Blässe noch mehr auf als sonst überall auf ihrer langen Reise. Wenn sie nur auch solche glänzenden schwarzen Haare gehabt hätte, dunkelbraune Augen und eine gebräunte Haut – es wäre wie ein Schutzwall gewesen, eine Schicht aus Farbe, die sie vor Neugier und Unverständnis schützte. Selten war sie sich so nackt vorgekommen.

Möwe blickte zu den Pferden hinüber. Remanaine war der Überzeugung, dass sie sich an den Namen eines geliebten Tieres erinnerte, wenn sie von Blitz träumte, aber sie selbst glaubte das nicht. Die Pferde ließen sie kalt. Sie hatte nicht das Bedürfnis, zu ihnen hinüberzugehen und sie anzufassen; sie konnte reiten, das hatte sie bewiesen, aber es bedeutete nichts. Blitz war ein Mensch, das wusste sie tief in ihrem Inneren, ein Mensch, der zu ihr gehörte.

Sie brauchte kein Pferd. Der Hund, der ihre Nähe suchte, reichte ihr vollauf. Sie werden sich an mein Gesicht gewöhnen, dachte sie, und dann genügt mir auch das hier: die bunten Wagen, die Menschen, die heiße Suppe über dem Feuer.

Variti und Remanaine beobachteten das Mädchen. Sie saßen auf den Stufen des grünen Wagens und unterhielten sich leise. Remanaine sprach nicht viel. Morgen war noch Zeit, von der Wanderung zu erzählen und nach den Ereignissen bei den Ziehenden zu fragen, dieser Abend jedoch gehörte ihnen allein, ihnen und dem Mond, der hinter dem Wald aufging.

»Möwe mag es nicht, wenn man sie anstarrt«, sagte er. »Ich kann geradezu fühlen, wie sie sich einkapselt. Ich dachte, sie kommt gut damit zurecht, weil sie es gewöhnt ist, aber so viele Leute auf einmal ...«

»Ich habe nie jemanden wie sie gesehen. Menschen sind nun einmal so, Manaine. Wir müssen genau hinsehen, wenn wir etwas Unbekanntes vor uns haben. Es ist nicht böse gemeint, das weißt du doch. Die Sippe würde jeden willkommen heißen, den du mitbringst, und wenn es ein dreiköpfiger Affe wäre.«

»Ich frage mich, ob ich nicht zu viel erwartet habe«, sagte er. »Ich hatte gehofft, Möwe könnte hier heimisch werden. Aber wir waren wochenlang zu zweit unterwegs. Den ganzen Winter über. Ich schätze, es wird länger dauern, als ich dachte.«

»Sie ist kein Kind mehr«, sagte Variti.

»Aber ...«

»Du hast sie doch nicht für mich mitgebracht?« In den zwölf Jahren ihrer Ehe war ihre Kinderlosigkeit ihr größter Kummer gewesen. Remanaine hatte sich eher damit abfinden können als Variti, die aus einer kinderreichen Familie stammte. Obwohl sie ihre Sippe um sich hatte und auch dann nicht einsam war, wenn er wieder auf Wanderschaft ging, sehnte sie sich nach einer ganzen Schar eigener Kinder. Er wusste das. Ihr Herz war von Liebe erfüllt, als sie nach seiner Hand griff. »Remanaine, dafür liebe ich dich ... Aber dieses Mädchen ist kein Kind. Siehst du nicht, dass sie eine junge Frau ist? Sie muss ihren eigenen Weg finden, so wie du. Ich glaube nicht, dass sie hierbleiben wird. Sie wird auf die Suche gehen, nach ihrer Herkunft, nach ihrem Namen. Und sie hat das Recht dazu, nicht? Wir können sie nicht in unsere Gemeinschaft einbinden. Sie gehört nicht hierher und sie weiß es.«

 

Remanaine schwieg eine Weile. »Natürlich wollte ich weiterforschen, woher Möwe kommt. Ich weiß, dass wir sie nicht einfach hierbehalten können. Ich dachte nur, eine kleine Weile ... Ich trage jetzt schon die Verantwortung für sie. Den ganzen Weg über habe ich mich gefühlt wie ein Vater oder wie ein Lehrer. Sie lernt so schnell, es ist unglaublich ...«

»Ganz der stolze Vater«, murmelte Variti und lachte. »Ach, Manaine, warum glaubst du, du müsstest mir dieses Kind zum Geschenk machen? Sie ist es schon – für dich. Wenn du wieder auf Wanderschaft gehst, wird sie nicht bei mir bleiben, sondern weiterhin deine Schülerin sein.«

»Ich habe nicht vor, so schnell wieder loszuziehen«, sagte er.

Dazu sagte sie nichts, aber sie wusste es besser.

Variti hatte schon geahnt, was auf sie zukommen würde, als der große blonde Mann das erste Mal zum Ziehenden Volk gestoßen war. Der Lärm im Lager verstummte und alle starrten den Fremden an, der ungebeten zu ihnen kam. Niemand tat das je, es sei denn, es war ein Abgesandter des Landesherrn, der Steuern verlangte, weil sie durch sein Gebiet zogen.

Dieser Fremde sah nicht nach einem Boten aus. Feindseligkeit schlug ihm von allen Seiten entgegen, Misstrauen, aber auch Verwunderung. Sie konnten sich nicht vorstellen, was er von ihnen wollte.

Einer der Männer trat ihm in den Weg. »Was suchst du hier?«, fragte er herausfordernd; er wollte beweisen, dass sie sich von seiner gewaltigen Größe und offensichtlichen Körperkraft nicht einschüchtern ließen.

»Ich bin ein Heiler«, antwortete der Fremde ungerührt, »ich will von euch lernen.«

»Die Zintas lassen niemanden an ihren Geheimnissen teilhaben.« Daran gab es nichts zu rütteln. Dass überhaupt jemand auf die Idee kam, sie nach ihrem Wissen zu fragen, war ungeheuerlich. »Am besten, du gehst jetzt gleich. Oder«, fügte er hinzu, »oder du musst es mit uns allen aufnehmen.«

Der Fremde reagierte nicht auf die Drohung. »Geheimnisse dieser Art dürft ihr nicht für euch behalten. Sie gehören euch nicht.«

Die anwesenden Männer traten einige Schritte vor, der eine oder andere ballte bereits die Fäuste. In diesem Augenblick lief ein kleines Mädchen hinzu und rief: »Alte Mutter will den Fremden sehen!«

Die Zintas sahen sich überrascht an, aber dann nickte der erste Sprecher und brachte zwischen zusammengebissenen Zähnen ein »Komm mit« heraus. Man führte ihn zwischen roten, blauen und grünen Wagen hindurch zu dem gelben, in dem die älteste Frau der Sippe wohnte. Die anderen Männer blieben draußen, nur einer begleitete den Besucher hinein.

Alte Mutter saß in einem Sessel, eine Wolldecke über den Knien. Ihr Gesicht war von vielen unvergessenen Jahren gefurcht, was sie alt erscheinen ließ, aber nicht älter, als sie war. Niemand wusste, wann sie geboren war. In der Erinnerung eines jeden in der Sippe war sie schon immer da gewesen und schon immer alt. Man vertraute auf ihre Erfahrung und Weisheit und selten wurde eine schwerwiegende Entscheidung getroffen, ohne sie zu befragen, denn sie sah vieles, was kein anderer bemerkte. Es war, als hätte das lange Leben sie weitsichtig gemacht, so dass sie Dinge, die noch entfernt waren, eindringlich betrachten konnte.

Der Fremde schaute die anderen Frauen im Wagen nicht an – Variti war eine von ihnen –, sondern neigte den Kopf vor Alter Mutter, vor ihrem Alter und ihrer Weisheit. Ihre durchdringenden Augen waren auf ihn gerichtet, prüfend und abschätzend.

»Gib mir deine Hand«, befahl sie.

Er zögerte. »Ich will nicht, dass jemand mir etwas über meine Zukunft sagt.«

»Das werde ich nicht«, versprach Alte Mutter und ergriff seine große und starke Hand. »Ich sehe viel, weil ich Rinland schon so nahe bin.«

Die Schwestern im Wagen wechselten verwirrte Blicke, denn es war nicht die Art der alten Frau, Dinge genau zu erklären.

»Du hast heilende Hände«, flüsterte sie, nur für ihn vernehmbar, dann neigte sie den Kopf vor ihm. Und er wurde sich zum ersten Mal wirklich bewusst, was es bedeutete, der Erbe zu sein. Als er den Segen gestohlen hatte, war es ihm nur darum gegangen, seinen Bruder zu übertrumpfen. Er hatte nie vorgehabt, Kaiser zu werden, und er hatte sich nicht einmal träumen lassen, dass dieser Segen sein Leben ändern würde. Aber es war, als ob seine Hände ihn zu den Menschen trieben, die er verachtete, und obwohl er immer noch auf der Flucht war vor der Pflicht, die in Kirifas auf ihn wartete, konnte er dem Segen nicht entkommen. Er trug ihn mit sich. Wo er auch war – er war der Erbe, er besaß die heilenden Hände, wie sein Vater, und wer nur ein bisschen mehr wahrnahm als andere, konnte ihn erkennen. Das war neu für ihn und machte ihn unwillkürlich froh, obwohl er erwartet hatte, dass es ihn unglücklich machen würde, mit solch starken, unzerreißbaren Banden an seine Verantwortung gebunden zu sein. Das Erbe war ein unfassbares Geschenk und er wunderte sich darüber.

»Wir werden diesen Mann aufnehmen«, sagte Alte Mutter, »solange es ihm beliebt, und sollte es für immer sein. Lehrt ihn unsere Geheimnisse, wie er es verlangt hat. Haltet nichts vor ihm verborgen.«

Der Zinta konnte nicht an sich halten, so groß seine Achtung vor der Alten auch war. »Aber das wird unser Untergang sein! Niemals kann ein Fremder zur Sippe gehören! Er kann nicht unser Bruder sein, Alte Mutter, er kann nicht.«

»Er wird es«, bestimmte die Alte und ihre Stimme klang plötzlich scharf. »Wagt es nicht, ihm irgendetwas anzutun, wenn ihr kein Unheil auf uns alle herabziehen wollt! Glaubst du, wir geben ihm zu viel? Es ist eine Ehre für unsere Sippe, dass er von allen Familien aus dem Ziehenden Volk ausgerechnet zu uns gekommen ist. Wag es nicht, mir noch einmal zu widersprechen, Urenkelsohn.«

Sie wandte sich an den Heiler. »Wie nennst du dich?«

»Remanaine.«

Remanaine. Variti wusste: Dieser Name ist mein Schicksal. Gespannt hatte sie die Begegnung beobachtet und ihre Augen wurden groß, als ihr bewusst wurde, dass der Riese bleiben würde. Aber sie war nicht schön, deshalb machte sie sich auf langes Leid gefasst. Es gab keine Hoffnung, dass dieser Mann, den Alte Mutter so ehrerbietig behandelte, jemals mehr als ihr Bruder sein könnte. Jedes andere Mädchen in der Sippe hatte ein hübscheres Gesicht als sie und sie hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass die jungen Männer, die ihr gefielen, mit einer Regelmäßigkeit, die etwas Unausweichliches an sich hatte, eine andere erwählten. Sie war nicht mehr die Jüngste – mit sechsundzwanzig war sie über das Alter hinaus, in dem die Mädchen meistens heirateten – und ihre Hoffnung auf Glück war gestorben. Und trotzdem würden diese Gefühle nicht abzutöten sein, nicht einmal zu bekämpfen. Sie war verloren, und sie wusste es.

Remanaine.

Zwei dunkelhaarige Mädchen bauten sich vor ihr auf und starrten sie an.

»Ganz schön weiß«, sagte die eine.

»Huch, schau dir ihre Augen an«, meinte die Zweite. »Gruselig, nicht?«

»Und sie heißt Möwe«, sagte ein drittes, etwas größeres Mädchen, das sich dazugesellte. »Das passt. Weiß, mit gruseligen Augen. Genau wie eine Möwe.«

Möwe blieb sitzen, den Hund im Arm, und starrte zurück. Ihr Herz begann heftig zu schlagen. Wo war Remanaine? Er konnte doch nicht zulassen, dass seine Sippe sie hier mit Spott überhäufte! Aber Remanaine war nicht zu sehen. Die drei Mädchen lästerten munter weiter.

»Wenn ich so aussehen würde, würde ich mir einen Schal um das Gesicht wickeln.«

»Ich würde mich gleich ganz einwickeln.«

»Ich würde als Possenreißer auftreten«, sagte die Dritte, offenbar bemüht, noch eins draufzusetzen. »Dann braucht sie sich das Gesicht nicht weiß anzumalen.«

»Ja, genau!« Die ersten beiden waren entzückt über diese Idee. »Als Possenreißer! Sie würde ein paar Witze erzählen – hahaha, hihihi! –, und ein paar Kunststücke aufführen ...«

»Und Jonglieren müsste sie können!«

»Und ein paar Saltos wären nicht schlecht.«

Während die Kinder sprachen, begannen sie die Possenreißervorstellung zu spielen und Möwe nachzuahmen, so wie sie sich vorstellten, dass Möwe ihren Auftritt hinlegen würde – sie landeten mit dem Gesicht auf dem Boden und erhoben sich unter Gelächter, sie verrenkten sich, warfen ein paar Bälle in die Luft und ließen sie sich auf den Kopf fallen, und schließlich lehnten sie sich unter lautem Gelächter aneinander und rangen nach Luft.

Möwe fühlte tief in sich ein Brennen, ein grimmiges, wildes Brennen, halb Schluchzen und halb Schreien. Sie stand auf und machte einen Schritt auf die Mädchen zu, die noch lauter lachten, als sie den wütenden Ausdruck im Gesicht der Fremden bemerkten.

»Hast du das gesehen? Jetzt ist sie aber böse!«

»Oh, wie ich mich fürchte!«

»Und ich erst! Ein wütender Possenreißer, haha!«

Ohne nachzudenken, stürzte Möwe sich auf die Mädchen und schlug die Nächstbeste mit der Faust, so dass sie rückwärts taumelte und zu Boden ging. Ihre drei Peinigerinnen waren so überrascht, dass ihr Lachen sofort verstummte. Dann wurde ihnen bewusst, dass sie immer noch zwei gegen eine waren, und prügelten auf Möwe ein.

Es ging alles so schnell, dass sie dem Mädchen, das ihr die Arme um den Hals legen und sie in den Schwitzkasten nehmen wollte, mit einer schnellen Drehung den Boden unter den Füßen wegzog und sie zu Fall brachte, die Nächste mit einem gezielten Tritt in den Bauch außer Gefecht setzte und die Dritte, die sich aufgerappelt hatte und auf sie zuwankte, mit ein paar heftigen Ohrfeigen rechts und links auf die Wange dazu brachte, heulend davonzurennen.

»Wieso schlägst du meine Schwester?«

Hinter ihr war ein Junge aufgetaucht, der sie zornig anblaffte. Möwe schrie auf, als er sie am Handgelenk packte. Sie trat nach seinen Beinen und brachte ihn wenigstens dazu, sie loszulassen und zurückzuspringen. Seinen zweiten Angriff wehrte sie mit einer schnellen Drehung ab, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte.

»Was ist hier eigentlich los?«, rief der Junge wütend. »Warum schlägst du hier alle?«

»Ich geh sowieso wieder!«, schrie Möwe zurück. »Wenn ihr mich hier nicht wollt, dann will ich euch sowieso nicht!«

»Was soll das heißen, wir wollen dich nicht hier? Keiner hat dir was getan, und du ...«

»Wie, keiner hat mir was getan? Soll ich mich auslachen lassen? Soll ich mich beschimpfen lassen? Mir reicht es!« Sie wandte sich um, denn sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah. Und die Tränen kamen jetzt, jede Menge. Sie liefen über ihre Wangen, in Sturzbächen, und ihre Augen sahen bestimmt noch wässriger aus als sonst. Nun würden sie erst recht über sie lachen.

Sie hatte schon fast den Waldrand erreicht, als sie merkte, dass der Junge ihr nachgerannt kam. »He, warte! Möwe, so warte doch!«

Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, aber sie drehte sich nicht um. »Was willst du?«

»Bleib hier, Möwe. Ich hab mit meiner Schwester gesprochen. Nun bleib doch endlich stehen. Ich entschuldige mich!«

Möwe drehte sich zu ihm um. »Ach ja? Und deine drei Schwestern auch?«

»Zum Glück ist nur eine davon meine Schwester. Die ... nun, ich glaube, die haben für heute genug.« Er grinste auf einmal. »Nicht schlecht, Möwe, wirklich. Denen hast du’s gezeigt. Freunde?« Er streckte ihr die Hand entgegen.

Möwe versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob er es ernst meinte. Wenn sie ihm die Hand gab und er ihr den Arm umdrehte, was dann? Wenn er über sie lachte, dass sie auch nur einen Moment daran geglaubt hatte, eine wie sie könnte hier Freunde gewinnen? Aber seine dunklen Augen blickten offen und ehrlich.

»Na komm schon. Bitte. Wenn du abhaust, wird Remanaine uns hier alle windelweich prügeln.«

»Niemand wird mehr über mich lachen?«, fragte Möwe zögernd.

»Versprochen. Und sonst kriegen sie es mit mir zu tun. Ich hab auch noch ein paar Tricks auf Lager.«

Sie reichte ihm die Hand. Der Junge schüttelte sie und grinste.

»Ich bin Toris.«

»Ich bin Möwe.«

»Ich weiß.« Er nickte zufrieden. »Willkommen bei der Sippe.«

»Komm, fang!« Toris warf Möwe einen Apfel zu, kaum hatte sie ihn gefangen, schon den zweiten, und als sie glücklich die beiden Äpfel an ihre Brust gepresst hielt, flog schon der dritte auf sie zu.

Er lachte und nach einem kurzen Moment des Zögerns lachte Möwe halbherzig mit. »Was soll das eigentlich?«, fragte sie.

 

»So geht das.« Der schwarzhaarige Junge warf die Äpfel in die Luft. Seine Hände bewegten sich gleichmäßig und mühelos; kein einziger Apfel fiel zu Boden. »Und jetzt du.«

»Ich kann das nicht«, sagte Möwe.

»Heute ist Markttag«, klärte ihr neuer Freund sie auf. »Wir gehen fast alle dorthin. Wir machen eine kleine Vorführung und verdienen Geld und kaufen ein und bringen die Sachen nach Hause. Alles klar? So läuft das hier. Du kannst mitmachen oder du lässt es.«

Möwe zögerte.

»Ach, lass uns nicht lange reden«, sagte Toris. »Du lernst jetzt, wie man jongliert. Hier, fang.«

Diesmal war es nur ein Apfel. Es war nicht schwer, ihn hochzuwerfen und wieder aufzufangen. Möwe grinste. »Das ist doch leicht.«

»Nun zwei. Du wirfst sie hoch, überkreuzt dabei die Hände – so, siehst du?« Auch das ließ sich nach kurzer Zeit fehlerfrei ausführen.

»Und nun wirfst du sie nacheinander hoch – nein, nicht höher als bis zu deiner Stirn, und fängst jeden mit der jeweils anderen Hand.«

Toris war kein geduldiger Lehrer. Sobald Möwe patzte, lachte er auf. Trotzdem verjagte er die jüngeren Kinder, die sich eingefunden hatten, um die Neue zu begaffen, und kehrte sehr zufrieden mit sich selbst zurück, ohne zu merken, dass sie heimlich hinter ihm herschlichen.

»Und jetzt drei Äpfel. Drei sind nicht viel, aber fürs Erste muss es reichen.«

Die Äpfel waren klein und rund und fest. Sie lagen gut in ihrer Hand, sie schienen dort hineinzugehören. Es tat ihr jedes Mal weh, sie der Gefahr auszusetzen, auf den Boden zu fallen und anzuschlagen – wer würde sie dann noch essen? Es ging ihr gegen den Strich, auf diese Weise mit ihnen zu spielen, und doch tat sie es und es fühlte sich richtig an. Sie vertraute sie dem kurzen Flug an und fing sie wieder auf. Einer, zwei. Es mit dreien zu schaffen, schien ein Ding der Unmöglichkeit.

»Fühl es«, befahl ihr jugendlicher Lehrer. »Stell dich aufrecht hin, so, und wirf, immer dann den nächsten, wenn der andere oben ist. Du brauchst gar nicht so angestrengt hinzuschauen. Fühl es. Lass sie fliegen.«

Es war wie ein Fließen in ihren Armen und Händen. Sie warf und fing, sie warf und fing ... Es war leicht.

»Ich kann es!«, schrie Möwe und lachte, aber im selben Moment geriet der Fluss ins Stocken und alle drei Äpfel fielen auf die Erde.

Sie übten den ganzen Vormittag. Als sich der Hunger meldete, biss Toris einfach in einen der Äpfel. Möwe grinste und schnappte sich den zweiten. Sie glaubte schon, dass es nun vorbei war mit dem Jonglieren, aber da holte eines der kleineren Kinder einen ganzen Korb voller Äpfel.

»Ein Glück«, sagte sie, denn schon vermissten ihre Hände das unbeschwerte Werfen und Fangen.

Remanaine kam mit großen Schritten auf sie zu, die Stirn umwölkt.

»Was tut ihr hier?« Er sah grimmig von einem zum anderen. »Toris? Du glaubst doch wohl nicht, dass Möwe mit zum Markt kommt und irgendwelche Kunststückchen aufführt? Sie ist keine Zinta.«

Toris zwinkerte ihr zu. Auf einmal wusste Möwe genau, was sie zu tun hatte.

»Doch«, sagte sie. »Doch, ich gehe mit.«

»Wir sind erst seit ein paar Tagen hier ...«

»Keta«, sagte das Mädchen nur, »lass mich.« Sie bückte sich nach den Äpfeln und warf sie wieder hoch.

Fünf Tage lang hatte niemand mit Möwe gesprochen, außer Remanaine und Variti. Sie hatte nicht vor, diese neue Freundschaft wieder aufzugeben.

»Ich kann jonglieren«, sagte sie mit fester Stimme. »Nicht gut und auch nur mit drei Äpfeln, aber ich gehe mit.«

Sie werden dich dort anstarren ... Sie werden sich vor euch versammeln und zuschauen, aber dich werden sie anstarren ... Remanaine wusste nicht, wie er das aussprechen sollte. Er wollte das Mädchen warnen, aber er brachte es nicht über sich, auf das Offensichtliche hinzuweisen.

»Sie werden ...«, begann er hilflos, aber es war Toris, der den Satz zu Ende brachte.

»Sie werden uns so viel Geld geben wie nie!«

Als Remanaine damals zu den Ziehenden gestoßen war, hatte sich anfangs niemand die Mühe gemacht, auf ihn zuzugehen und mit ihm zu sprechen. Obwohl Alte Mutter sie dazu gezwungen hatte, ihn aufzunehmen, hieß ihn keiner willkommen. Misstrauisch und abschätzend wurde er von weitem beäugt. Nachts schlief er in keinem ihrer Wagen – Torane, Varitis Vetter, hatte ihm zwar einen Platz angeboten, mehr aus Gehorsam als aus Freundlichkeit, doch er lehnte ab. Er brauchte Raum, ein viel größeres Bett, und da er schon seit Wochen und Monaten im Freien geschlafen hatte, unter den Bäumen, behielt er diese Gewohnheit bei. Niemand versuchte, ihn zu überreden, niemand forderte ihn dazu auf, sich zu den anderen ans Feuer zu setzen.

Die Frauen nahmen ihn auf ihren Wanderungen durch den Wald mit, zeigten ihm Kräuter und Wurzeln, gaben ihm Anleitungen zur Zubereitung von Tränken und Salben, und ihre Abwehrhaltung schwand allmählich, denn er war von rascher Auffassungsgabe. Seine Fragen zeigten das Verständnis, das er für diese Dinge besaß. Es fing an, ihnen Freude zu machen, ihn zu unterrichten und sich mit ihm zu unterhalten. Von ihnen erhielt er zuerst Akzeptanz und nach und nach Freundschaft, während die Männer sich immer noch zurückhielten. Wenn am Abend Musik gemacht wurde, getanzt und erzählt, richtete kein Bruder der Sippe das Wort an ihn. Sie nahmen ihm übel, dass er in ihre Gemeinschaft eingedrungen war, und dass er, der Riese, sich mit Frauenangelegenheiten abgab, machte die Sache für sie noch schlimmer.

Die Jugendlichen drängten sich durch die Menschenmenge. Möwe war überwältigt von den vielen Menschen, die laut durcheinander redeten, schrien und lachten und dennoch kaum gegen die Marktschreier ankamen, die aus vollem Hals ihre Waren anpriesen.

Die Stände quollen über: Früchte und Gemüse, Zwiebeln und Knoblauch, Fisch von der Küste, Wild aus den Wäldern, getrocknete Pilze und eingelegte Gurken. Kleider und Tücher, Hüte und Schuhe, Decken und Felle. Waffen. Spielzeug.

»Gleich fallen dir die Augen aus dem Kopf«, grinste Toris. Er zog Möwe aus dem Gedränge an den Rand. Kurz beriet er sich mit den anderen Jungen. Die Mädchen waren in ihren schönsten Kleidern gekommen, um zu tanzen, jung, wild und schwarzhaarig. Seit drei von ihnen sich mit Möwe geprügelt hatten, hielten sie sich von ihr fern; sie hatten ihr auch nicht vorgeschlagen, mitzutanzen. Gebannt sah Möwe ihnen zu und fragte sich, ob sie nicht gerne dabeigewesen wäre, bei diesem fröhlichen, leidenschaftlichen Tanz. Als sie begannen, bildete sich rasch ein Kreis um sie herum, klatschende Hände, während sie schwitzend und lachend herumwirbelten. Ein Junge lief auf den Händen um sie herum, zwischen seinen Füßen ein Hut, in den die Leute ihre Münzen werfen sollten.

»Jetzt«, sagte Toris zu Möwe, die kaum ihren Blick von den anderen lösen konnte. Es war ein solches Durcheinander, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte sich vorgestellt, dass die Darbietungen nacheinander stattfinden würden, aber alles geschah gleichzeitig. Musik und Tanz und akrobatische Kunststücke, und schon begannen die Jongleure mit ihrer Vorführung, die Äpfel begannen zwischen ihnen hin- und herzufliegen, hoch und immer höher, immer mehr ...

Sie stand dazwischen, ratlos, und fühlte die Blicke der Menschen auf sich und den anderen. Toris nickte ihr aufmunternd zu.

Denk daran, wie es zwischen den Händen fließt.

Möwe warf den ersten Apfel und fing ihn wieder auf.

Jemand rief: »Das weiße Mädchen! Schaut, ein weißes Mädchen!«

Sie biss sich auf die Lippen. Und auf einmal hörte sie Toris dicht hinter sich sagen: »Vergiss deine Würde. Tu es einfach.«

Drei Äpfel. Sie warf sie nacheinander hoch und fing, warf und fing. Während die anderen mühelos vier, fünf in der Luft hielten, während sie von den Äpfeln zu Messern, Fackeln und rohen Eiern übergingen, warf Möwe ihre drei Äpfel, nicht höher als bis zu ihrer Stirn. Vergiss deine Würde. Hin und wieder warf sie einen Blick in die Menge und geriet sofort ins Stocken. Wenn sie ihre angeschlagenen Äpfel vom Boden aufhob und ihren Saft auf der Hand fühlte, klebrig, nahm sie das Gelächter kaum wahr. Sie lachten sie aus, aber sie blickte wieder auf die Äpfel. Vergiss deine Würde. Lass es fließen. Tu es einfach.