Die weiße Möwe

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Er musste unwillkürlich lächeln. »Nun sag schon. An wen hast du gedacht?« Er zweifelte nicht daran, dass Rahmon und die Fürsten schon Pläne geschmiedet hatten für den Fall, dass er zustimmte.



»Die Prinzessin von Helt«, sagte Rahmon. »Sie heißt Kirja. Sie ist ... Ich bin sicher, sie wird Euch gefallen.«



Gegen seinen Willen wurde er neugierig auf dieses Mädchen, das seine Frau werden sollte. Wie bei seiner ersten Eheschließung fühlte er sich hilflos, verlegen und peinlich berührt, nicht mehr wie der große Riesenkönig von Aifa, der Kaiser von ganz Deret-Aif, sondern wie ein junger Mann, der nicht weiß, was das Leben ihm bringen wird.



In gewisser Hinsicht war alles anders als beim ersten Mal. Er war über sechzig Jahre alt und begegnete dem König von Helt als selbstbewusster Souverän. Er kannte ihn gut, wenn er auch noch nie seine Töchter gesehen hatte, und ohne Eile sprachen sie miteinander über die Belange des Kaiserreichs, bis der König schließlich lächelte und sagte: »Kirja wartet sehr darauf, Euch zu sehen, Kaiser Kanuna. Vielleicht ...?«



»Ja«, sagte er, aber in sein Gesicht kam kein Lächeln, alle seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Er war so aufgeregt, dass er seiner Stimme kaum traute. »Ja, natürlich.«



Der König öffnete eine Tür und dort sah er sie. Kirja, Prinzessin von Helt. Er wusste, dass sie zwanzig Jahre alt war, aber nie war ihm das so jung vorgekommen. Sie war klein und sehr schlank; ihr herzförmiges Gesicht wurde von dunkelbraunem Haar umrahmt. Sie trug sogar ein grünes Kleid. Sie haben sie ausgesucht, um mir eine Freude zu machen, dachte er, denn sie ähnelt tatsächlich Vinja. Ich wette, Rahmon hat sich jede Prinzessin von ganz Deret-Aif angesehen und diejenige gewählt, die ihr am meisten gleicht.



Er fragte: »Nun, was haltet Ihr davon, dass Ihr mich heiraten sollt?«



»Ich tue alles, was Eure Majestät befiehlt«, sagte das dunkelhaarige Kind. Sie war gut erzogen. In ihren Augen war nichts, kein Entsetzen darüber, dass sie mit einem Mann verheiratet werden sollte, der ihr uralt vorkommen musste, nur ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Sie würde gehorchen, wie sie es gesagt hatte. Er zweifelte nicht daran, dass sie alles tun würde, was er sagte. Man hatte sie auf eine Verbindung ohne Liebe und Zuneigung vorbereitet, und falls sie innerlich weinte, zeigte sie es nicht.



»Und was willst du, Kirja?«, fragte er. »Was erwartest du vom Leben?«



Er war Kaiser, er konnte alles fragen, was er wollte. Aber sie hatte nicht gelernt, auf so eine Frage zu antworten. Er spürte ihren Blick auf sich, auf seinem Gesicht mit den groben Zügen eines Riesen, auf seinem blonden Bart und seinem Haar, hell wie reifer Weizen, ohne eine einzige graue Strähne.



»Gefalle ich Euch nicht, Majestät?«



»Du bist jung und schön, wem würdest du nicht gefallen«, sagte Kanuna zu dem makellosen Gesicht, und er dachte an Vinja, an ihr dunkles Haar, das sich beständig verirrte und sich an ihren Schläfen ringelte, an die kleine Narbe unter ihrem grünen Auge und an ihr herausforderndes Lachen, ihre Schroffheit, ihre Aufrichtigkeit, ihren abenteuerlustigen Mut ... Dieses Mädchen war zu jung, um überhaupt ein Gesicht zu haben.



Er konnte es nicht mehr ertragen. Wie hatten sie nur glauben können, er würde sich mit diesem armseligen Ersatz für Vinja zufrieden geben? Mit einer Puppe statt einer lebendigen Frau? Es war zwecklos. Wut über seinen peinlichen Besuch stieg in ihm auf, über sich selbst, über Rahmon, der ihn dazu überredet hatte. Sie wird Euch gefallen! Von wegen!



Das arme Mädchen stand ein wenig verwundert da und wartete.



»Du hast nichts falsch gemacht«, brachte er noch heraus, »es war mein Fehler, herzukommen.«



Er drehte sich abrupt um und verließ das Zimmer. Seine eigene Unhöflichkeit ärgerte ihn, diese Situation, aus der er möglichst elegant wieder herauskommen musste, ohne den König tödlich zu beleidigen. Dass er das Bild zerstörte, das alle sich von ihm machten, dieses Bild des stets weisen, gerechten und majestätischen Mannes, ärgerte ihn umso mehr. Er wollte nur fort. Auch ein Kaiser konnte nicht immer stark sein.



Der König von Helt kam ihm in der großen Halle erwartungsvoll entgegen, doch Kanunas Blick wurde abgelenkt. Eine Frau schritt gerade die Treppe hinunter, die in den festlichen Saal führte; er drehte sich zu ihr um und sah sie lächeln.



Der Kaiser vergaß den König von Helt, der bereits die Hand ausstreckte, um ihn als zukünftigen Schwiegersohn zu begrüßen. Die Frau auf der letzten Treppenstufe lächelte, ein ruhiges, sanftes Lächeln, das nichts mit ihm zu tun hatte. Sie lächelte ihn nicht an. Es kam aus ihrem Inneren, aus ihrer Mitte, ein Lächeln aus Frieden, nicht aus Freude. Sie war fast so groß wie er, ein Abbild der alten Riesen. Alles an ihr kam ihm warm vor. Der Goldton ihres Haares, der matte Schimmer ihrer hellen Haut, ihre grauen Augen. Wie er musste sie im zweiten Lebensdrittel der Riesen stehen, in dem Alter zwischen vierzig und achtzig Jahren, in dem die Schönheit reift und die Weiblichkeit sich vertieft, in dem ein neues und schlimmeres Kämpfen beginnt als das Ringen der Jugend, und er sehnte sich nach ihrem Verstehen. Sie stieg die letzte Stufe hinunter und knickste, wie es sich gehörte, aber weniger tief als üblich, und er dachte: der Widerspruchsgeist der Laringer.



»Wie heißt Ihr?«, fragte er.



Hinter ihm ließ der König von Helt resigniert seine Hand wieder sinken und verzog kopfschüttelnd den Mund. »Das ist Gräfin Fanes von Sirna, meine Cousine«, sagte er säuerlich, denn er ahnte schon, was nun kommen würde. Durch die offene Tür hatte er bereits gesehen, wie seine Tochter weinend davongerannt war.



»Ich bin Kanuna El Schattik«, stellte er sich vor.



Diesmal galt ihr Lächeln wirklich ihm. »Ich weiß.« Ihre Stimme war tief und warm. Auch Vinja hatte eine tiefe Stimme gehabt, überraschend tief. Zu Fanes passte sie.



»Seid Ihr verheiratet?«, fragte er. »Verlobt? Oder sonstwie gebunden?«



»Nein, Majestät.« Kein Zittern war in ihrer Stimme. Sie schien seine Frage weder ungehörig noch anmaßend zu finden. »Frauen mit Riesenblut in den Adern finden nicht so schnell einen Mann.« Fest und sicher stand sie vor ihm und ließ seine Augen von ihrer warmen Schönheit trinken.



»Dann solltet Ihr einen Riesen heiraten.«



Sie lachte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber es gibt nicht mehr viele von uns.«



»Ich bin noch frei.«



»Habt Ihr Euch nicht soeben mit Prinzessin Kirja verlobt?«



Es gelang ihm eben doch, immer wieder die richtige Entscheidung zu treffen. Er hätte nichts Besseres tun können, als herzukommen und sich nicht mit Kirja zu verloben. Weise, gerecht und majestätisch.



Kanuna grinste und selbst auf seinem Riesengesicht wirkte dieses Grinsen sehr jungenhaft. »Habe ich nicht.«



Der König von Helt seufzte laut und vernehmlich, aber die beiden beachteten ihn gar nicht.



»Dann seid Ihr wohl tatsächlich frei«, gab Gräfin Fanes zu.



»Das heißt, es stünde nichts dagegen, wenn ich die Absicht hätte, mich mit Euch zu verloben.«



»Und«, fragte sie, »habt Ihr die Absicht, Majestät?«



»Ich brauche nur Euer Ja.«



»Wenn Ihr eine Frage stellen würdet, könnte ich darauf antworten.«



Sie war das genaue Gegenteil von Vinja und doch war die Ähnlichkeit verblüffend. Hier war das, was er gesucht hatte: eine Frau, die keine Angst vor ihm hatte.



»Wollt Ihr mich heiraten?«, fragte er. »Wollt Ihr mit mir nach Kirifas kommen und meine Kaiserin werden?«



Er hatte die Hand ausgestreckt, ohne es zu merken. Erst als sie ihre hineinlegte, wurde er sich dessen gewahr.



»Ja«, antwortete sie. »Nichts lieber als das, Majestät.«



Kanuna drehte sich zum König um, der mit den Augen rollte und hastig die Lider niederschlug. »Ich habe meine Braut gewählt.«



Der König nickte. »Das habe ich gerade gesehen. Nun denn. Ich hätte Euch gerne meine Tochter mitgegeben, aber wenn Ihr Euch mit meiner Cousine zu vermählen wünscht – bitte sehr. Ihr seid der Kaiser. Wann soll ich Eure Braut nach Kirifas bringen?«



»Ich nehme sie sofort mit«, sagte Kanuna. Er hatte nicht die Absicht, sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Die Vorbereitungen für die Hochzeit werden bereits getroffen. Wer an den Feierlichkeiten teilnehmen möchte, muss uns jetzt begleiten.«



Der König rang die Hände. »Das ist – knapp.«



»Ich habe keine Zeit zu verlieren«, verkündete Kanuna.



Er ließ Fanes’ Hand nicht los, ihre warme, trockene Hand.



»Wo warst du?«, fragte er leise. »Warum habe ich nicht gewusst, dass es dich gibt?«



Rahmon tobte. Er legte die Stirn in Falten, in seiner Stimme zitterte der Zorn. Er sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war, aber Kanuna kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dies der Ausdruck seiner äußersten Wut war.



»Was um alles in der Welt hat Euch geritten, eine so alte Frau mitzubringen?«



»Fanes ist nicht alt.«



»Nein? Wie alt ist sie denn? Vierzig? Fünfzig? Ich gebe ja zu, bei Euch Riesen lässt sich das Alter schwer schätzen. Ihr braucht einen Erben! Wie konntet Ihr das vergessen, Majestät? Einen Erben!«



»Sie kann mir noch einen Erben schenken«, sagte er. Eine Stunde vor seiner Hochzeit wollte er sich nicht mit seinem besten Freund streiten. Wenn Rahmon nur sein Ratgeber gewesen wäre, hätte er für diese frechen Worte längst seine Faust zu spüren bekommen.



»Dann müsst Ihr Euch aber wirklich beeilen damit. Was meint Ihr, warum ich Euch ein so junges Mädchen wie Kirja ausgesucht habe? Mit ihr hättet Ihr noch viele Kinder haben können und wenn vielleicht wieder ein paar darunter sind, die ...«



»Die danebengeraten, wolltest du das sagen?«

 



»Nicht mit diesen Worten, nein.«



»Riesen neigen dazu, danebenzugeraten. Das weiß ich genauso gut wie du. Aber ich werde diese Frau heiraten. Gleich jetzt.« Er beugte sich vor, so dass er auf derselben Augenhöhe mit Rahmon war, wie man sich zu einem Kind herabbeugt, dem man seine Aufmerksamkeit schenkt. »Was ist los, Rahmon? Hast du wieder etwas gehört – von meinen Söhnen?«



»Einer von ihnen wurde definitiv wieder gesehen. Er hat einen Trupp Soldaten des Königs von Laring aufgemischt.«



»Sind sie tot?«



»Ich glaube nicht.«



Kanuna schüttelte den Kopf. »Dann solltest du mich am Tag meiner Hochzeit nicht damit behelligen. War es Zukata?«



»Ich weiß es nicht. Er wurde auch gesehen, als er in einem Hafen in Tors ein Schiff gekapert hat.« Rahmon beeilte sich hinzuzufügen: »Herr, niemand kann uns mit Sicherheit berichten, welcher Eurer Söhne für diese Dinge verantwortlich ist. Vielleicht war es auch Keta. Vielleicht waren sie es beide. Ihr braucht einen Erben.«



»Ich weiß«, sagte Kanuna leise. »Glaub mir, ich weiß.«



Aber als er Fanes gegenübertrat, dieser großen, hellen Frau mit dem Lächeln, dachte er nicht mehr an das Kind, das er unbedingt haben musste. Weich und warm legte sich die neue Liebe über die Schluchten, die Vinjas Tod in ihn getrieben hatte.





4. Möwe



D E RW A N D E R E RH I E L Tauf ein kleines Fischerdorf zu. Er war müde und hungrig und hoffte auf einen Krug kühles Bier, auf gebratenen Fisch und frisches Brot. Danach wäre ein Platz im Schatten schön gewesen, wo er sitzen und auf das Meer hinaussehen konnte. Immer wieder trieb es ihn an die Küste, auch wenn alle seine Verpflichtungen ihn ins Landesinnere riefen. Aber das Meer hatte eine eigene Stimme, und wenn er ihr lauschte, hörte er den Ruf. Immer wieder kam er hierher, in eins der unzähligen Dörfer. Er hätte selbst nicht sagen können, ob er sich damit quälte oder belohnte.



Ein Dorfbewohner, ein junger Fischer in abgerissener Kleidung, gebräunt von der Sonne, staunte über die außergewöhnliche Körpergröße und die starkgebaute Gestalt des Besuchers.



»Kommst du in friedlicher Absicht?«, fragte er vorsichtig, denn obwohl der Fremde lächelte, war die Schärfe seiner blauen Augen und die kühne Entschlossenheit seiner Züge nicht zu übersehen. Selbst hier hatte man von den Räuberbanden gehört, die ganze Landstriche unsicher machten.



»Ich schlage keine Wunden, sondern heile sie«, antwortete der Wanderer.



»Dann bist du ein Heilkundiger?«, rief der Fischer erfreut. »Dich hat uns Rin gesandt. Komm schnell mit!«



Er führte den Heiler in eine der Hütten, wo mehrere Menschen versammelt waren. »Ich habe hier einen Arzt!«



»Sei willkommen«, sagte eine der Frauen, ohne aufzublicken. Sie beugte sich über jemanden, der auf einem schmalen Bett lag. »Aber ich fürchte, du kommst umsonst.«



Der Fremde trat näher und erblickte auf dem Bett die Gestalt eines halbwüchsigen Mädchens, Kopf und Hände verbunden. Das Gesicht war bleich und schien mehr einer Toten als einer Lebenden zu gehören. Das Mädchen atmete noch, schwach und fast unmerklich.



»Was ist ihr zugestoßen?«, fragte der Heiler.



»Wir wissen es nicht. Wir haben sie am Strand gefunden, sie gehört nicht zu uns.«



»Ihr habt sie einfach am Strand gefunden?«



»Nach dem Orkan, der hier vor drei Wochen getobt hat. So lange ist sie schon bei uns. Sie stirbt nicht, aber sie wacht auch nicht auf.«



»Wer hat die Verbände angelegt?«



»Ich«, sagte die Frau, die ihn begrüßt hatte.



»Du kannst hierbleiben«, sagte er, »aber die anderen muss ich bitten, uns allein zu lassen.«



Sobald die Anwesenden die Hütte verlassen hatten, machte er sich daran, die Binden vorsichtig zu entfernen. Der magere Körper des Mädchens war mit Schnittwunden und Prellungen übersät, und er konnte sich vorstellen, wie sie vor drei Wochen ausgesehen hatte. Dabei heilten alle diese kleinen Wunden gut; selbst ihre Kopfverletzung, sorgfältig genäht, sah fast verheilt aus. Versteckt unter dem weißblonden Haar, würde bald nichts mehr davon zu sehen sein.



»Du hast gute Arbeit geleistet«, sagte er anerkennend.



Die Frau quittierte das Lob mit einem Lächeln. »Aber sie wacht nicht auf. Sie wird irgendwo schwer aufgeschlagen sein, aber sie hätte längst wieder erwachen müssen. Manchmal denke ich, sie müsste nur eine vertraute Stimme hören und sie würde die Augen aufschlagen und reden. Solche Fälle hat es schon gegeben. Aber wir wissen ja nicht einmal ihren Namen. Wir vermuten, dass sie auf einem Schiff war, das im Sturm untergegangen ist. Woher sie kommen mag? Wir wissen es nicht.«



Der Mann nahm die Hand des Mädchens in die seine, streichelte die langen, schlanken Finger. Es war eine schöne, wohlgeformte Hand, aber sehr blass.



»Ein Albino«, sagte er leise. »Ein ungewöhnlicher Schiffspassagier. Fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Wer wohl nach ihr sucht?«



»Vielleicht niemand«, meinte die Frau. »In dieser Nacht sind viele Schiffe untergegangen. Wir haben auch viele Wrackteile gefunden.« Sie sah den Fremden an. »Das Einzige, was sie außer ihrer Kleidung bei sich hatte, ist diese Holzmöwe hier.« Sie zeigte ihm eine kleine hölzerne Figur, einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. »Können wir nichts für sie tun? Alles, was ich vermag, habe ich getan. Aber du siehst aus, als kämest du von weither. Gibt es nicht irgendwo ein Mittel, um jemanden aus einer solchen Bewusstlosigkeit zu wecken?«



Der Fremde sah auf seine eigenen Hände, in denen die Hand des Mädchens winzig wirkte: große, starke Hände, mit denen er Lanzen und Schwerter geschwungen und zerbrochen hatte, Pferde gebändigt und Menschen niedergerungen, Menschen und Krankheiten. Er wusste, was das bedeutete, und er konnte heute noch das Glück in sich finden, das er empfunden hatte, als die alte Frau gesagt hatte: Nehmt ihn auf, Schwestern und Brüder, nehmt ihn auf und lehrt ihn alle unsere Geheimnisse – er hat heilende Hände. Sie hatte sich vor ihm verbeugt, während ihre Sippe verwirrt danebenstand. Und er hatte gewusst, dass sie seine Herkunft ohne sein Zutun herausgefunden hatte, dass sie in ihm den Erben erkannte, und hatte gestaunt. Heilende Hände. Er hatte gewusst, dass die Gabe des Heilens mit dem Segen verbunden war, aber er hatte nicht wirklich daran geglaubt. Gelernt hatte er schnell, das Wissen des Ziehenden Volkes und das Wissen der Wanderärzte und der Dorfärzte, und er hatte es mit dem verbunden, was er vom Leibarzt seines Vaters in Erinnerung hatte. Wenn man ihn nach seinem Namen fragte, sagte er: Nennt mich »Kan-solin-remanaine«, was bedeutete: der Mann, der seinen eigenen Weg geht.



Wenige waren unter seinen Händen gestorben, und um diese hatte er meistens nicht gekämpft, da er fühlte, dass er sie auf ihrem Weg nach Rinland nicht zurückhalten durfte. Sein Ruf war ihm bald vorausgeeilt, und selbst Könige hatten sich darum bemüht, ihn an ihren Hof zu holen. Der große Wanderarzt Remanaine! Und er hatte darüber gelächelt und war weitergezogen. Wenn es ihn nach Gold und Edelsteinen, nach edlen Pferden, erlesenen Genüssen und dem angenehmen Leben in einem Palast verlangt hätte, hätte er zu Hause bleiben können.



Seine Hände. Es lag nicht in ihrer Macht, Leben zu geben, aber sie hatten vielen, die schon vom Tode gezeichnet waren, Heilung geschenkt. Und dieses Mädchen, dem Tode verfallen, das seine eigene Tochter hätte sein können – ihr konnte er nicht helfen, obwohl er andere gesehen hatte, die schlimmer verwundet gewesen waren und doch dem Leben gehörten? Warum war er so machtlos?



Das Mädchen stand am Ufer und blickte hinaus aufs Meer. Sie konnte die Brücke sehen, die auf dem Sand ruhte und sich sanft geschwungen über das Wasser erhob. Sie reichte bis zum Horizont, eine schmale Brücke, nur ein Steg. Sie war nicht golden. Das Mädchen starrte sie an und fragte sich, warum sie damit gerechnet hatte, dass die Brücke aus Gold sein würde. Sie war aus Holz, aus rauen Bohlen, und besaß kein Geländer

.



Das Meer war glatt und blau und spülte bis an ihre Füße. Der warme Sand, weich unter ihren Fußsohlen, war fein und sauber. Keine einzige Muschelschale, keine einzige tote Qualle war zu sehen, keine Krabbenbeine. Als ihr das auffiel, wurde ihr auch zum ersten Mal bewusst, wie still es hier war. Sie konnte die Möwen nicht hören. Nur das Wasser, das sacht gegen ihre Zehen schwappte, murmelte leise, dieses altvertraute Lied. Das Meer rief

.



Vorsichtig näherte sie sich der Brücke. Sie streckte die Hand aus und berührte das Holz. Es war warm von der Sonne, und hier, wo die Wellen dagegenschlugen, leicht aufgequollen

.





Sie konnte jetzt hinübergehen. Ihr Fuß hob sich bereits, aber dann zögerte sie doch. Hatte da jemand gerufen?







Blitz?, fragte sie vorsichtig. Bist du das, Blitz?





Das Mädchen drehte sich um. Hinter ihr lagen die Dünen, bewachsen von Strandhafer und Gras. Niemand war hier, nur sie und die Brücke

.



Blitz?, fragte sie noch einmal

.



Remanaine vergaß die Frau, Zeit und Ort, Müdigkeit und Hunger. Er sah das weiße Gesicht des Kindes, das schon eine seltsame, schimmernde Durchsichtigkeit besaß.



»Bleib«, flüsterte er und hielt mit seiner Linken die bleiche Hand fest, während er seine Rechte auf die Stirn des Mädchens legte.



»Da hilft nur noch beten«, sagte die Frau.



»Du hast recht«, rief er, und er begann zu beten, wie er noch nie gebetet hatte. »Rin! Bei Rinland und den Tränen, schenk mir heilende Hände! Bei der Liebe und Rinland jenseits des Meeres, vertreib die düsteren Schatten des Todes und lass dieses Kind leben!«



Er ergriff beide Hände der Schlafenden. »Wie nennt ihr sie?«



»Möwe«, antwortete die Frau. »Wegen ihrer Holzmöwe.«



Er sah das weiße Mädchen an und nickte. »Möwe. Hörst du mich, Möwe?«



»Bring mir Wasser«, sagte er dann zu der Frau. »Meerwasser. Ich will sie segnen.«



»Das darfst du nicht«, wandte sie ein. »Du bist kein Priester.«



»Doch, das bin ich«, widersprach er, und es stimmte: Obwohl er nie in Salien gewesen war und nie in einem Kloster gedient hatte, gab ihm der Segen seines Vaters das Recht, all das zu tun, was nur ein Priester tun durfte. Der Herr des Landes war immer zugleich auch ein Priester.



»Wer dich auch dem Tod bestimmt hat, er soll schweigen für immer! Komm zurück, Mädchen, komm zurück! Es ist noch zu früh für dich! Möwe!«



Die Frau reichte ihm eine Schale, die sie in die Wellen am Strand getaucht hatte.



Remanaine besprengte das Gesicht des jungen Mädchens mit dem salzigen Wasser.



»Tränen«, sagte er leise. »Rins Tränen. Geh noch nicht nach Rinland, meine Tochter, noch nicht.«



Er fühlte die Vollmacht in seinen Händen, unbegrenzte Macht, zu rufen und fortzusenden, zu heilen und Frieden zu geben. Kraft strömte von ihnen aus, und er verspürte die Gegenwart Rins, spürte ihn bei sich und in sich und im ganzen Zimmer, Wärme und Heilung und die Verheißung eines Glücks, das den Verstand und alle Vorstellungskraft übersteigt – die Erfüllung der Sehnsucht.



Sie hatte sich in den Sand gesetzt und streckte die Beine aus, so dass ihre Füße in die Wellen tauchten. Mit einer trägen, verträumten Bewegung ließ sie den weißen Sand durch ihre Finger rieseln. Die Brücke neben ihr begann zu verblassen

.



Zuerst dachte sie an eine Sinnestäuschung, aber es half nicht, zu blinzeln und sich die Augen zu reiben. Das Mädchen sprang auf und eilte zu der ersten Stufe, von der aus sich die Brücke höher wölbte. Sie legte die Hand auf das unterste Brett. Es war fest und wirklich, und doch, wenn sie aufsah, schien die Brücke sich am Horizont aufzulösen. Sie musste sich beeilen. Es gab nichts, was so sicher war wie das. Das Mädchen hob seinen Fuß und setzte ihn auf die erste der zahllosen Bohlen. Sie fühlte sich fest und sicher an. Obwohl die Brücke kaum breiter war als ihre Schultern und so unendlich weit hinausragte, schwankte und schaukelte sie nicht. Aber immer noch zögerte das Mädchen, einen Fuß auf der Brücke, den anderen noch im Sand

.





Wer hat da gerufen?, fragte sie und drehte sich wieder um. Blitz? Warst du das? Wo bist du?





Da war es wieder, von irgendwoher, eine Stimme. Das Mädchen konnte nicht verstehen, was sie sagte

.



Das Mädchen bewegte sich nicht und lauschte. Die Brücke unter ihrer Fußsohle fühlte sich gut an, gut und richtig. Und doch war da dieser andere Ruf

.



Sie schüttelte den Kopf und seufzte. Sie würde keine Ruhe haben, bevor sie nicht nachgesehen hatte, ob es wirklich Blitz war, der sie gerufen hatte. Das Mädchen wandte sich zu den Dünen um und ging durch den Sand darauf zu

.

 



Remanaine beugte sich über Möwe. »Sie ist wach«, sagte er leise zu der Frau. Sein Herz machte einen Sprung. »Kannst du mich hören? Du bist hier. Du bist in Sicherheit und am Leben.«



Die Verletzte hatte die Augen aufgeschlagen. Mit ihren ungewöhnlich blassen Albino-Augen sah sie sich verwirrt um.



»Ist Blitz da?«



»Der Sturm ist vorüber«, sagte die Frau freundlich und unterdrückte den Jubel in ihrer Stimme. »Du bist in Sicherheit.«



»Kannst du uns sagen, wie du heißt?«, fragte der Mann.



Sie versuchte, sich zu erinnern, aber das einzige Bild, das sie vor sich sah, war die Brücke. Das Mädchen saß am Strand und sah die Brücke, und während sie schaute, verblasste sie schon und mit ihr alles andere. Die Wellen und die Stille und der weiße Sand sanken zurück, und das Mädchen fand sich auf einem fremden Bett in einer fremden Hütte wieder. Der Mann, der sich zu ihr beugte, war sehr groß und blond. Das Mädchen schwieg, verwirrt.



Die Erwachsenen sahen sich an. »Wir müssen ihr Zeit lassen.« Die Frau sprach, als wäre sie nicht da, aber der Mann nickte ihr mit wachen Augen zu. »Es wird alles gut«, versprach er, und obwohl ihr dieser Mann fremd war, so wie alles hier, glaubte sie ihm jedes Wort.



»Nun will ich euch nicht länger zur Last fallen«, sagte Remanaine.



»Ein Arzt wie du ist nirgends eine Last«, erwiderten sie ihm.



»Aber jemand wie ich ist nicht leicht satt zu kriegen, und ich will euch nicht das Wenige wegnehmen, das ihr habt. Ich werde jetzt weiterziehen.«



Die Frau trat auf ihn zu. »Du bist der große Arzt Remanaine und du bist mehr als ein Arzt. Nie habe ich etwas Ähnliches gesehen ... Ich werde Möwe sagen, dass es losgeht.«



Er war überrascht. »Warum glaubst du, dass ich das Mädchen mitnehme?«



»Sie glaubt es jedenfalls. Ich dachte, du hättest es ihr versprochen.«



Remanaine zögerte. Dies war eine Wendung, mit der er nicht gerechnet hatte. Er heilte überall Menschen, wo er hinkam, aber wenn er auch nur die Hälfte davon mitgenommen hätte, würde ihm eine ganze Schar folgen. Auf so etwas legte er keinen Wert.



»Möwe hat hier niemanden.« Sie nannten das Mädchen immer noch Möwe, dieses Kind, das der Sturm ihnen gebracht hatte. Sie hatte sich an keinen anderen Namen erinnern können. Sie war wach und gewann rasch an Kraft und Gesundheit, aber bis heute hatte sie ihnen nicht sagen können, wer sie war und woher sie kam. Remanaine hatte geduldig gewartet, aber nun zog es ihn weiter.



»Ich glaube, sie betrachtet dich als denjenigen, zu dem sie gehört. Ich kann dich natürlich nicht dazu zwingen, dich auch weiterhin um sie zu kümmern.« Die Frau blickte ihn an. »Ihre Gegenwart macht einige hier nervös«, sagte sie schließlich ehrlich. »Du bist weit herumgekommen, aber die Menschen hier betrachten sowieso schon jeden Fremden mit Argwohn.« Sie brauchte es nicht zu sagen: Ihre weiße Haut war vielen unheimlich.



Er konnte Möwe nicht hierlassen. Wer einem Menschen das Leben rettet, ist dafür verantwortlich, das wusste er. In jedem der vielen Königreiche, in denen er gewesen war, galt dieses Prinzip, aber er hatte es nie auf sich als Heiler bezogen. Wie konnte er für all diese Menschen verantwortlich sein, denen er geholfen hatte? Und doch, sagte eine Stimme in ihm, bist du es, Sohn deines Vaters.



»Falls jemand sie sucht, wäre es sinnvoll, wenn sie hier bliebe.« Aber er wusste selbst, dass dieses Argument wenig galt. Bis jetzt war noch niemand gekommen und hatte nach einem Albinomädchen gefragt, und irgendwo, tief in seinem Inneren, fühlte er sich schuldig, dass es ihm nicht gelungen war, das Kind vollständig zu heilen. Rins Kraft war so stark in seinen Händen gewesen, so wunderbar und vollkommen, und er hatte in diesem Moment geglaubt, dass es möglich war, alles und jeden zu heilen: Krankheiten, gebrochene Knochen, Herzen und Seelen. Er musste sie in das salzige Wasser tauchen und sie wären geheilt ... Er verstand nicht, warum die Verletzte ohne ihr Gedächtnis ins wache Leben zurückgekehrt war.



Aber er zögerte immer noch. Die Reise zurück zu seinem Volk war sehr lang, durch mehrere Königreiche hindurch, eine beschwerliche Reise voller Gefahren. Und zurück wollte er auf jeden Fall. Es war